Der Morzger Wald bei Salzburg

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In der Lehre der Sainte-Victoire (1980), dem ersten in Salzburg entstandenen Buch, kommt der Erzähler auf Umwegen über Cézannes Berg Sainte-Victoire in der Provence zurück nach Österreich. Der große Wald, so lautet der Titel des letzten Kapitels, ist ein erzähltes Bild – eine Hommage an den Morzger Wald am Stadtrand von Salzburg. Die darin bis in Details präzise beschriebenen Beobachtungen ermöglichen, dass man auch noch zwanzig Jahre später mit dem Buch in der Hand dem Weg des Erzählers problemlos folgen kann.

Angeregt zu dem literarischen Bild wurde der Erzähler durch »ein Gemälde von Jakob van Ruisdael mit dem Titel Der große Wald«, das im Kunsthistorischen Museum Wien hängt und einen »weiträumigen Laubwald mit starken Eichenstämmen« (DLS 93; Abb. 1) zeigt. Bei einer Wien-Reise 1979 besuchte Handke das Kunsthistorische Museum und dürfte dort auf das Bild von Ruisdael aufmerksam geworden sein. Den Wald des niederländischen Malers fand er in einem Wald an der Stadtgrenze von Salzburg, seinem Wohnort ab Sommer 1979, wieder. Er sei »kein Stadtwald von heute, kein Wald der Wälder; doch wunderbar wirklich. Er heißt nach dem Dorf Morzg, das an seinem Ostrand liegt.« (DLS 93-95) Wanderungen zum Morzger Wald sind in seinen Notizbüchern seit seinem Umzug nach Salzburg dokumentiert. Auch von seiner Wohnung am Mönchsberg konnte er den Wald »schon in einer leichten Fernbläue« (DLS 95) sehen.

Vom Mönchsberg bis zur Tauxgasse

Der Weg zum Wald verläuft (wenn man kleine Variationsmöglichkeiten außer Acht lässt) in der von ihm beschriebenen Strecke. Er »beginnt in der paßähnlichen Mulde zwischen dem Mönchsberg und dem Festungsberg, genannt Schartentor, das eine Art Wegscheide bildet zwischen der inneren Stadt und der südlichen Flachebene, mit ihren bis an den Fuß des Untersbergmassivs sich erstreckenden Siedlungsausläufern.« (Abb. 2) Stadtauswärts mündet der Schartentor-Weg zuerst in eine »von betonierten Pfaden gekreuzten und von Schritten hallenden Stadtwiese – in der Mitte einzeln das ehemalige "Flurwächterhaus"« (DLS 95; Abb. 3) – und eine daran grenzende »Umfahrungsstraße« mit mehreren Ampeln. Nach deren Überquerung »folgt schon ein stiller Bereich (der Thumeggerbezirk), an dem nichts Städtisches mehr ist und bis zum Ziel keine Schaufenster mehr ablenken. Neben dem Weg fließt in die Gegenrichtung ein kleiner Bach, der eigentlich der Seitenarm eines Kanals ist und dessen Glanz sich manchmal ausdehnt und an etwas Unbestimmtes erinnert. Die Bäume sind hier vor allem Birken, wie naturwüchsig und weithin das Bild bestimmend, als stünden sie fern in Osteuropa.« (DLS 96; Abb. 4)

Am Ende der Siedlung steigt der Weg in einer Kurve leicht an, »gerade so viel, daß die Radfahrer sich für einen Augenblick aus dem Sattel heben müssen«. (Abb. 5) Nach der Kurve befindet man sich auf einer »neuen Ebene«, einem »Plateau« – einer Wiese als »freies Feld mit einem vereinzelt stehenden Bauernhaus«. (Abb. 6) »Ein kleiner Kanal unterquert in einem Betonrohr den Weg, auf dem ein Kalkblock liegt, der wie über eine Brücke in die folgende Siedlung führt.« (DLS 96-97; Abb. 7) Der geschotterte Weg geht nach dem Bauernhaus erneut über in eine asphaltierte Siedlungstraße, die »Tauxgasse«, an deren »Eingang nicht am Rand, sondern als Inselbäume mitten im Asphalt« zwei Kiefern stehen sollen – heute zumindest ist dort nur noch eine Kiefer zu sehen. (Abb. 8)

Vom Maxglaner Friedhof bis zum Morzger Wald

Am Ende der Tauxgasse angekommen, blickt man direkt auf die Friedhofsmauer und eine Reihe von Kiefern. (DLS 98; Abb. 9) Der Seiteneingang des großen Maxglaner Friedhofs, den Handkes Erzähler nun für seinen weiteren Weg wählt, befindet sich neben einem Gasthaus (namens Hölle); er führt direkt zu der »Statue eines Gekreuzigten, der – wie noch auf keinem Gemälde – zuerst von der Seite erscheint«. (DLS 98, Abb. 10-11) Geht man durch den Friedhof immer weiter stadtauswärts, eröffnet sich nach dem Ausgang »die dritte Wiese auf dem Weg: keine Stadtwiese mehr, auch keine bäuerliche Nutzfläche, sondern ein weiter, fast baumloser Plan, der an einen erst kürzlich verlandeten See denken läßt; windig und nach der milden Friedhofsluft oft noch winterlich kalt. Ein Teil davon dient als Sportplatz, und ein zufällig Vorbeigehender kann hier zu Schiedsrichterentscheidungen aufgerufen werden. […] Erst hier wird der Wald wieder sichtbar: nahbraun (tintig in der Dämmerung) und fast die ganze Horizontebene einnehmend; und zugleich schmal: zumindest scheint an einer Stelle schon die andere Seite durch. Zur Rechten, himmelhoch über ihm, der kalkige Pyramidenstumpf der Untersbergspitze«. (DLS 98-99, Abb. 12-13)

Den am Rand von Sträuchern gesäumten Wald betritt der Erzähler nun »auf dem breiten, geraden Weg wie durch einen richtigen Haupteingang. Das Schwellengefühl ist eine Ruhe, die absichtslos weiterführt. Im Inneren zeigt sich, daß der von außen wie in einer Ebene verlaufende Wald einen kleinen, ostwärtsstreichenden Hügelrücken verbirgt«. (Abb. 14) Die meisten Einwohner kennen nur den kleinen Hellbrunnerberg, »kaum einem ist bekannt, daß der Wald zum Teil auf einem Felskamm steht«. (DLS 100; Abb. 15) Auf den Hügel führt ein schmaler »Kammweg« (DLS 105, Abb. 21, Abb. 16) auf die Kuppe, auf der zwar keine Aussichtsbänke, aber Baumwurzeln als Ruheplätze dienen. »Die Stadt im Norden ("gegen Mitternacht") unsichtbar; gegen "Mittag" scheint von unten nur eine weite unbebaute Grasfläche durch.« (DLS 104, Abb. 17) Von der Kuppe führt ein steiler Weg Richtung Morzg. »Am Ostfuß des Hügels jetzt auch die längst erwartete Felshöhle, verschlossen mit einer Eisentür« (DLS 106, Abb. 18) – einer Champignonzucht. (kp)

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