György Sebestyén
Der donauländische Kentaur

Vita

1956 kam ein Flüchtling aus Ungarn nach Österreich, der die kulturelle Landschaft mitprägen sollte: György Sebestyén. Er war einer der letzten Literaten der alten Schule: umfassend gebildet, sprachgewandt, feuilletonistisch und anekdotisch.

György Sebestyén wurde am 30. Oktober 1930 in Budapest geboren. Er stammt aus "einer Familie, die ziemlich gut versorgt war, allerdings später alles verloren hat." Sein Vater und sein Onkel führten gemeinsam in der Budapester Innenstadt einen florierenden Herrenschneidersalon. Zur Zeit von Györgys Geburt hatte sich das Geschäft auf die Ausstattung von Schauspielern spezialisiert. Der vertraute Umgang mit Kunden, insbesondere mit gefeierten Schauspielern, war zweifellos prägend für György Sebestyén. So nah im Zentrum der Geselligkeiten lernte er - gewissermaßen en passant - die Welt der Bühne kennen.

Schon als Kind lernte er neben der ungarischen die deutsche Sprache. Mit 13 Jahren übersetzte er Rilkes "Cornet", ungefähr um diese Zeit schrieb er auch sein erstes Gedicht. Mit wachen Augen erlebte er die politischen und kriegerischen Wirren der 40er Jahre und trat, in der Hoffnung, "etwas zu bewirken", mit 16 Jahren der kommunistischen Partei bei. Im selben Jahr veröffentlichte er auch sein erstes Feuilleton über Béla Bártok in einer kommunistischen Jugendzeitung. Mit 18 Jahren gab er sein erstes Buch heraus: die Anthologie "Fliege, Funke!" mit Gedichten von sieben jungen Lyrikern. Nach der Matura arbeitete Sebestyén als Dramaturg, zuerst im Madách-Theater, dann in einem Filmstudio. Diese Arbeit betrieb er aber eher nebenamtlich. Noch im selben Jahr inskribierte er an der Universität Literatur, Philosophie und Soziologie, später wechselte er zur Ethnologie über. Ende 1952 wurde Sebestyén Redakteur der Tageszeitung "Magyar Nemzet", deren Kulturressort er leitete, bis das Erscheinen der Zeitung 1956 verboten wurde.

Die Arbeit in der Zeitung machte den jungen Idealisten zwangsläufig mit der politischen Realität vertraut. Sein Unbehagen begann, als ab 1949 erste Deportationen einsetzten, zunächst noch Nacht- und Nebelaktionen, ab 1952 überrollte jedoch die stalinistische Säuberungswelle das ganze Land. 1953, in der Reformregierung Imre Nagy, wirkte Sebestyén an der Gründung des Petöfi-Kreises mit. Von diesem offenen Diskussionsforum aus nahm die ungarische Oktober-Revolution von 1956 ihren Ausgang. Nach dem Scheitern des Aufstands, an dem Sebestyén aktiv teilgenommen hatte, verließ er das Land. "Man hat uns getäuscht", schrieb sich Sebestyén später seine Empörung von der Seele, "mißbraucht, verlacht und zwischendurch immer wieder hingerichtet. Ja, hingerichtet, und wir leben dennoch: das erste Mal und auch das zweite Mal sind wir klüger als die Mörder gewesen, schlauer und also auch in gewissem Sinne stärker, aber wir tragen das Bild unserer Hinrichtung in uns als Traum, als Trauma, als Maß aller Dinge."

Das Thema seines ersten Romans, "Die Türen schließen sich", der in den ersten Monaten seiner neuen Existenz entstand, zunächst in ungarisch geschrieben und von Laos von Horváth, dem Bruder des Dramatikers Ödön von Horváth, ins Deutsche übertragen, war eine Abrechnung mit der ungarischen Revolution. Er erschien 1957 bei Desch und wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Bereits in seinem zweiten Roman wechselte der Autor zur deutschen Sprache. Sebestyén, der 1963 die Österreichische Staatsbürgerschaft erhielt, brachte insgesamt fünf Romane auf den Lesemarkt, darunter die bedeutendsten: "Thennberg" und "Die Werke der Einsamkeit". Nach seinem Tod wurde ein weiteres Romanfragment veröffentlicht: "Wirths Roman", der 1999 bei Styria erschienen ist. Zahlreiche Erzählungen, autobiographische Prosa und poetische Reiseberichte, wie etwa ein Bericht über den israelisch-arabischen Krieg von 1967: "Anatomie eines Sieges - Blitzkrieg um Israel", zeugen von seiner enormen erzählerischen Schaffenskraft.

Ende der 60er Jahre begann Sebestyén für die "Kronen-Zeitung" und die "Salzburger Nachrichten" Theaterrezensionen zu schreiben. Bald wurde er auch vom Österreichischen Rundfunk engagiert. Und so kam es, daß er bald einen Premierenbericht, leicht abgeändert, in drei verschiedenen Medien brachte, bzw. wie er es nannte, daß er "seine Träume" manchmal gleich zwei oder dreimal "verschenkte", denn natürlich sah er sich weiterhin als Schriftsteller, selbst im zunehmenden "Verschleißprozeß", als er ab Anfang der 70er Jahre auch noch Buchrezensionen für die "Presse" und die "Welt" zu schreiben begann. 1976 nahm er die Herausforderung an, mitzuwirken, die in finanzielle Schwierigkeiten geratene "Furche" am Leben zu erhalten. Bald begann er, die Kulturredaktion der "Furche" nach seinem eigenwilligen, hochgebildeten, doch subjektiven Geschmack zu formen. Obwohl er die längste Zeit nicht einmal im Impressum aufschien, war er unbestritten die graue Eminenz des katholisch-konservativen Wochenblattes. In den 70er Jahren war er an der Gründung der regionalen Kulturzeitschriften "Pannonia" und "morgen" maßgeblich beteiligt, deren Herausgeber er wurde. Hervorgetan hat er sich auch als Förderer des literarischen Nachwuchses und in seiner Funktion als P.E.N.-Präsident. In den letzten zwei Jahzehnten seines Lebens wuchs er zu einer mitteleuropäischen Integrationsfigur heran, eine Persönlichkeit, die in der offiziellen österreichischen Kulturpolitik Maßstäbe erarbeitete. Er wurde vielfach geehrt, 1980 wurde er zum Professor ernannt, 1987 erhielt er das "Goldene Ehrenzeichen für die Verdienste um die Republik Österreich". Er starb am 6. Juni 1990 in Wien.

Ingrid Schramm