Inventing Peace: Lawrence Weschler (1995)

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Ein Artikel des amerikanischen Journalisten Lawrence Weschler im New Yorker vom 20. September 1995 ist für Handkes Auseinanderset­zung mit Jugoslawien bis hin zu seinen späteren Prozessberichten aus Den Haag von entscheidender Bedeutung. Den Ausgangspunkt des Artikels bildet ein Gespräch, das Weschler mit Antonio Cassese, dem da­maligen Präsidenten des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehe­malige Jugoslawien, geführt hat. Auf die Frage, wie er den ganzen Abgrund an Gewalt persönlich verkrafte, antwortete ihm dieser bei einem informellen Mittagessen, dass er in den Prozesspausen oft ins nahe gele­gene Museum Mauritshuis ginge, um dort die Bilder von Vermeer zu be­trachten. Als Cassese dies sagt, heitert sich seine Miene merklich auf. Der wohltuenden Kraft, die dem Richter aus den Gemälden entgegen­tritt, geht Weschler dann im Detail nach. Vermeer habe ja die friedlichsten Bilder gemalt, das aber zu einer Zeit, die in Europa zu den schreck­lichsten und gewaltsamsten gehörte. Eine ähnliche Transformation, so Weschler, hätten auch die Strafrichter in Den Haag zu vollziehen.

Peter Handke hat sich mit Weschlers Artikel ausführlich beschäftigt, wohl auch deshalb, weil in ihm hinsichtlich der Frage nach der Gerech­tigkeit eine Beziehung zwischen dem Politischen und dem Ästhetischen gesetzt ist. In Die Fahrt im Einbaum oder Das Stück vom Film zum Krieg (1999) kehren später ganze Passagen beinahe wörtlich aus dem Artikel wieder. Als eine Art Lobgesang auf die Legitimation des Gerichts: »Hör, wie ich das erkannte – auf dem Umweg über etwas Schönes – etwas Ästhetisches! Unweit von dem Gerichtsgebäude ist nämlich das Muse­um des Malers, der ohne Zweifel die friedlichsten Bilder der Menschheit gemalt hat. Unsere internationalen Richter und Ankläger [...] pflegen während ihrer Horrorprozesse zu den Gemälden zu pilgern, um nicht verrückt zu werden. Und auch ich nahm so in einer Prozeßpause ein Taxi und saß dann lange vor der berühmten Ansicht von Delft. Welch ein Frieden. Und dabei war doch zur Zeit des Malers ganz Europa überzo­gen mit Kriegen, eingeschlossen des Malers eigenes Land. Und dann sah ich: War nicht auf dieses Delft gerade ein Unwetter niedergegangen, dort noch die eine finsterste Wolke? Was für ein spürbarer Druck der Ge­walt da! Und dann erkannte ich: der Maler hatte, malend, mitten im Krieg den Frieden erfunden – sein Delft wandelte wie Jesus im Sturm auf dem Wasser (Matthäus 8, 23–27)! Und ich dachte: kein Wunder, dass unsere Richter und Ankläger Kraft suchen bei solchen Bildern! Auch sie erfinden, indem sie unbeirrbar anklagen und verurteilen, ohne Zweifel den Frieden.« (kk)

Werkgenese   Forschungsbeitrag