Grundeintrag 1998
[2/ S. 345:] Wer immer sich mit der rätselhaften Gestalt des Dichters Heinrich von Kleist (1777-1811) und seinem Œuvre beschäftigt, stößt
unweigerlich auf den Namen Helmut Sembdner. Mit seinen akribischen Werk-Editionen und seinen biobibliographischen Forschungen
über den Dichter, der mit seinem »großen historischen Ritterschauspiel« »Das Käth- [2/ S. 346:] chen von Heilbronn« die Neckarstadt zum Schauplatz der Weltliteratur gemacht hat, wurde Sembdner (1914-1997) wegweisend für
die moderne Kleist-Philologie. Reflex seiner lebenslangen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Dichter und seiner Zeit
war eine große Arbeitsbibliothek. Um die darin enthaltenen Materialien und Dokumente unterschiedlichster Provenienz möglichst
umfassend für die Kleist-Forschung zu erhalten, erwarb die Stadt Heilbronn Ende 1990 Sembdners Sammlung mit der vertraglichen
Verpflichtung einer katalogischen Erschließung. Als Kleist-Archiv Sembdner wurde sie im August 1991 der Stadtbücherei Heilbronn
angegliedert und der Öffentlichkeit vorgestellt.
Das von Sembdner übernommene Archiv umfaßte in erster Linie verschiedene Werkausgaben, einen großen Bestand an Sekundärliteratur
von frühesten Rezeptionsnachweisen bis zur aktuellen Forschung, feuilletonistische Artikel, audiovisuelle Medien sowie zahlreiche
Theatermaterialien wie Szenenfotos, Programmhefte, Plakate usw. Dieser Grundbestand ist im Lauf der Jahre, wie vertraglich
ebenfalls vereinbart, erheblich erweitert worden. Neben Autographen, darunter einem Brief Kleists an den Buchhändler Hitzig
und drei Briefen der »goldenen Schwester« Luise von Zenge, Typoskripten, wie etwa Elisabeth Plessens »Kohlhaas«-Roman als
Dauerleihgabe, konnte das Kleist-Archiv in den vergangenen Jahren auch einige Erstausgaben der Kleistschen Werke erwerben.
Um das Kleist-Archiv als internationale Arbeits- und Begegnungsstätte etablieren zu können, wurde das Archiv-Profil kontinuierlich
in Richtung Service-Zentrum geschärft. Nicht zuletzt aus diesem Grund liegt ein Schwerpunkt der Archivarbeit im bibliographischen
Bereich. Neben dem seit 1994 vorliegenden Bestandsverzeichnis, das wie die mittlerweile stattliche Publikationsreihe von über
30 im Buchhandel erhältlichen Einzeltiteln in sechs verschiedenen Reihen digital im Internet unter www.kleist.org abrufbar
ist, dienen diesem Ziel vor allem die in der Regel monatlich im WWW vorgestellten neuesten bibliographischen Kleist-Daten.
Kumuliert erscheint die neueste Kleist-Bibliographie zweimal jährlich in den »Heilbronner Kleist-Blättern« (HKB), die aufgrund
ihrer knappen Produktionszeit ausgesprochen aktuell sind. Neben Berichten aus der großen Kleist-Welt, einem Überblick über
laufende Kleist-Veranstaltungen an deutschen Hochschulen, Abstracts geplanter Dissertationen, Kurzdarstellungen von schulischen
Projekten wird angestrebt, künftig verstärkt Literaturberichte, analog zu dem großen Forschungsbericht in HKB 6 über die »Homburg«-Literatur
des letzten Vierteljahrhunderts abzudrucken.
[2/ S. 347:] Wissenschaftliche Einzelvorträge, auf Wunsch meist in der bibliophilen Reihe der Heilbronner Kleist-Schriften (HKS) gedruckt,
Ausstellungen, wie beispielsweise über »Michael Kohlhaas« oder ein deutsches Kunstexperiment mit Künstlern der beiden Partnerstädte
Frankfurt an der Oder und Heilbronn, die Zusammenarbeit mit Theatern sowie vor allem internationale Tagungen, wie das vom
22. bis 24. April 1999 durchgeführte interdisziplinäre Kolloquium »Erotik und Sexualität im Werk Heinrich von Kleists« ergänzen
das breite Aufgabengebiet des Kleist-Archivs. Nicht zuletzt aufgrund seiner seit Juni 1996 kontinuierlich gesteigerten Präsentation
im WWW ist es gelungen, dem Kleist-Archiv einen Platz im Spektrum angesehener Literaturarchive zu verschaffen. Diesen in den
kommenden Jahren auszubauen, ist Ziel unserer »Archiv-Politik«. Die Grundlagen dafür kann ein Neubauvorhaben der Stadt Heilbronn
schaffen, in dessen Gefolge dem Kleist-Archiv eine erheblich verbesserte räumliche Infrastruktur zur Verfügung stehen soll.
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