[2/ S. 183:] Frau Rosenauer, Sie sind WWW-Beauftragte des Wiener INST und haben einen Aufsatz über »Die Bibliothek als literarisches Netzwerk«
veröffentlicht (vgl. Jura Soyfer 7 (1998), H. 4, S. 12–14). Was würden Sie jemandem, der sich für österreichische Gegenwartsliteratur
interessiert, eher raten: einen Besuch im Literaturhaus / Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur in Wien
oder einen Surf im World Wide Web?
Die Art der Empfehlung wäre von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig, nicht zuletzt davon, auf welche Art sich jemand
gerne informiert. Ausschlaggebend ist schließlich auch der Ort, an dem die Literaturinteressierten wohnen, arbeiten oder forschen.
So kann der ›Surf‹ im WWW gerade für Nicht-Wiener eine wichtige Entscheidungsgrundlage dafür sein, ob sie nun das Literaturhaus
oder andere geographisch weiter entfernte Archive, Bibliotheken, Dokumentationsstellen usw. aufsuchen wollen. Ein ›virtueller‹
Besuch in einer Einrichtung bietet auch die Möglichkeit, das Sich-Informieren vor Ort – durch Katalogrecherchen, Informationen
über das Veranstaltungsprogramm und Öffnungszeiten – entsprechend vorzubereiten.
[2/ S. 184:] Allerdings ist auch die erfolgreiche Erkundung des weltumspannenden Netzwerks von der Kenntnis einiger Ausgangsadressen abhängig,
ohne die das Herumschweifen in den elektronischen Welten recht zeitaufwendig sein kann und – vor allem bei geringen Vorkenntnissen
bezüglich des Umgangs mit dem WWW – nicht zwangsläufig auf die interessantesten zum Thema verfügbaren Seiten führen muß. Die
Nutzung des World Wide Web als Informationsmedium impliziert ferner die Notwendigkeit der Beurteilung der Qualitiät einer
Quelle, die sehr unterschiedlich sein kann.
Ich würde zur Zeit unter anderem die Seite des Literaturhauses (http://www.literaturhaus.at/) und die der ÖNB (http://www.onb.
ac.at/), wo nicht nur gute Einblicke in die Sammlungen des ÖLA, sondern auch interessante Links zu anderen österreichischen
Archiven geboten werden, empfehlen.
Und nicht zu vergessen die von Ihnen zusammengestellte Seite des INST zur österreichischen Literatur im WWW (http://www.adis.at/arlt/institut/links/oelit.htm).
Nun sind z. B. die von Ihnen erwähnten Web-Pages des ÖLA eindeutig am Archiv-Bestand ausgerichtet. Was waren die Kriterien
für Ihre Link-Sammlung zur österreichischen Literatur? Bei einer Suche mit herkömmlichen Search-Engines, anderen spezifischen
Suchdiensten, wie z. B. »Phone-Soft: Österreich« (http://www.phone-soft.at/) und Link-Sammlungen zur Literatur wie etwa »Literatur
im Internet« (http://www.uni-tuebingen.de/uni/nds/l_ndl.htm) kommt man zu besonders bekannten Namen, die in Ihrer Auflistung
fehlen, z. B. Thomas Bernhard, Paul Celan, Erich Fried, Rainer Maria Rilke und Gerhard Roth. Wir fanden es bei unseren Recherchen
sehr unbefriedigend, daß zur österreichischen Literatur zwar eine Reihe von Link-Sammlungen bestehen, aber alle äußerst lückenhaft
und zum Teil qualitativ ohne jeden Anspruch sind.
Die drei zuletzt genannten, sehr unterschiedlichen Webseiten sind sehr gute Beispiele dafür, daß die Problematik der Gestaltung
und Qualitätskontrolle auf verschiedenen Ebenen abzuhandeln sind. Phone-Soft ist eine Software-Firma, die sich seit einiger
Zeit auch im Bereich E-Commerce engagiert. Die nicht uninteressanten Seiten dieser Firma stellen vor allem ein Mittel zur
Eigenwerbung und die redaktionelle ›Folie‹ für die Einbettung von Werbung dar. Die »Autoren«-Seite enthält mit Sicherheit
mehr Namen als andere Listen zur österreichischen Literatur (deren es nicht viele gibt), allerdings ist neben der ungewöhnlichen
Sortierung der Autorinnen und Autoren nach Vornamen anzumerken, daß der Inhalt der Liste im wesentlichen auf [2/ S. 185:] einer Auswertung der Seiten der Online-Ausgabe von AEIOU (http://www.aeiou.at/), der Standard-Serie »Literaturlandschaft
Österreich« (http://polyglot.lss.wisc.edu/german/austria/LitlandIndex.html) und des ÖLA basiert. Die Links sind nicht kommentiert,
weitere wesentliche Quellen zu den genannten Autorinnen und Autoren – sowie deren Publikationen– bleiben unberücksichtigt.
Die zum Teil blinkenden Werbeblöcke innerhalb und unter der Liste müssen in Kauf genommen werden – wie bei anderen kommerziellen
Seiten auch.
Die genannte Seite des Deutschen Seminars der Universität Tübingen sei hier stellvertretend für viele ähnliche Seiten anderer
Germanistikinstitute an Universitäten (wie auch an der Unversität Wien) behandelt: Um den Leserinnen und Lesern erste Startpunkte
für die Erkundung des World Wide Web anzubieten, wird eine mehr oder weniger große Auswahl an Surfangeboten versammelt. Die
Zusammenstellung dieser Links erfolgt in diesen institutionalisierten Bereichen zwar üblicherweise mit höherer Sorgfalt als
in privatem oder kommerziellem Rahmen, ist aber zumeist auch durch personelle und finanzielle Ressourcen auf ein gewisses
Ausmaß beschränkt. Auch hier sind Kommentierungen eher die Ausnahme als die Regel. Dafür sind – wie in unserem Beispielfall
– so gut wie immer wesentliche Informationen zur Quellenbeurteilung auf der Seite angeführt, wie das Erstelldatum, der Name
des / der für die Webseite Verantwortlichen und ein Copyrightvermerk, der nicht nur darauf verweist, daß Texte, Datensammlung
und Design urheberrechtlich geschützt sind, sondern auch einen Rückschluß darauf zuläßt, in welchem Arbeitskontext die Seite
erstellt wurde.
Zu ›meiner‹ Seite fielen mir selbstverständlich die meisten Kritikpunkte ein, da ich sie – und somit auch ihre Schwächen –
am besten kenne. Sie ist ein Produkt meiner Recherchen zur Erforschung der österreichischen Literatur im WWW, enthält Kommentare
und soll einen Ausgangspunkt für weitere Erkundungen (unter anderem auch im Bereich Primärliteratur) bieten. Die Entstehung
der Seite wird in einer kompilatorischen Notiz am Seitenende transparent gemacht. Ein Ausbau der Linklisten, die zu Primär-
und Sekundärliteratur angeboten werden, ist geplant.
Die Lückenhaftigkeit von Verzeichnissen im WWW fällt wohl nicht zuletzt deshalb auf, weil der Work-in-Progress-Charakter von
Webseiten es möglich macht, auch Teilergebnisse zu veröffentlichen, die laufend verbessert und ergänzt werden können. Das
beschleunigt den Informationsfluß und damit die Möglichkeit der Nutzung so veröffentlichter Arbeitsergebnisse für weiterführende
Arbeiten. Das Problem ergibt [2/ S. 186:] sich aus der Vielfalt verfügbarer Informationen: Das WWW ist kein wissenschaftliches, auch kein kulturelles oder literarisches
Netzwerk, sondern ein Netzwerk dieser Bereiche, das mit allen anderen nur denkbaren Netzwerken verknüpft ist: kommerziellen,
privaten, politischen usw. Eine Qualitätsbeurteilung muß in verstärktem Maß von den Nutzerinnen und Nutzern der Informationen
vorgenommen werden – durch Kontextbeurteilung, Quellenkritik – Eigenschaften, die Paul Gilster als »Digital Literacy« bezeichnet
(Paul Gilster: Digital Literacy. New York u. a.: Wiley 1997).
Ob und wann eine standardisierte Strukturierung der Inhalte von Webseiten oder -sites erfolgen kann und wird, ist nicht absehbar.
Der Umstand, daß selbst die größten Kataloge des WWW nur ein Drittel aller dort verfügbaren Informationen indexiert haben,
läßt eher den Schluß zu, daß jegliche bibliographische Arbeit innerhalb des Netzwerks Stückwerk bleiben muß. Andererseits
läßt gerade dieser Schluß einen viel vorsichtigeren Umgang mit Worten wie »vollständig« oder »umfassend« zu, die auch beim
Bibliographieren im Bereich gedruckter Werke in den meisten Fällen nicht angebracht sind.
Das heißt aber letztendlich doch, daß für die germanistische Literaturwissenschaft periodische Bibliographien (z. B. »Eppelsheimer
/ Köttelwesch« und »Germanistik«) und Personalbibliographien unverzichtbar sind und das WWW zumindest derzeit nur zusätzliches
Hilfsmittel sein darf, was in der universitären Forschung und Lehre nicht vergessen werden sollte. Die Nutzung des WWW scheint
bei den Naturwissenschaften insgesamt viel ergiebiger zu sein, denkt man auch an die Veröffentlichung wissenschaftlicher Primärtexte.
Sind für Sie bereits Tendenzen beschreibbar, wie sich die Publikationspraxis literaturwissenschaftlicher Texte im Internet
entwickeln wird?
Selbstverständlich kann das World Wide Web die beiden genannten Arbeitshilfsmittel nicht ersetzen. Bei derartigen Fragestellungen
ist eine befriedigende Antwort ohnehin nur möglich, wenn der Diskussion eine sorgfältige Klärung der Verwendung des Begriffs
»Medium« vorangeht – was in massenmedialen, öffentlichen und gremialen Auseinandersetzugen leider zumeist nicht der Fall ist.
Das World Wide Web ist ein vor allem hypertextbasiertes Netzwerk aus Netzwerken und kann als Trägermedium betrachtet werden,
in dem weitere Medien wie Zeitschriften, Bücher, Datenbanken usw. zur Verfügung gestellt werden oder gestellt werden können.
Dieses Modell wird vielleicht besser illustriert durch die Vorstellung, daß ja sämtliche germanistische Nachschlagewerke auch
im WWW publiziert werden könn- [2/ S. 187:] ten – erst dann stellt sich ernsthaft die Frage, ob eine der Publikationsformen überflüssig ist. Ein weiteres Problemfeld
eröffnet das Bibliographieren in bezug auf Inhalte und Aktualität der genannten Hilfsmittel. Je nach Forschungsinteresse müssen
auch für rein germanistische Arbeiten in verstärktem Maß zusätzliche Bibliographien herangezogen werden, die »Eppelsheimer
/ Köttelwesch« und »Germanistik« an Umfang und Aktualität übertreffen. Besonders wichtig erscheint mir in literaturwissenschaftlichem
Zusammenhang hier die MLA-Bibliographie, die übrigens sowohl in gedruckter Form als auch auf CD-ROM und via Internet erhältlich
ist (http://www.mla.org/main_bib. htm#electronic). Mit weiteren Datenbanken für die Germanistik und Überlegungen zum Bibliographieren
habe ich mich unter anderem in meiner Diplomarbeit beschäftigt, ein wahrhaft weites Feld (Andrea Rosenauer: EDV-gestützte
Literaturrecherche für GermanistInnen. Wien: phil. Dipl. [masch.] 1997).
Als Trägermedium für wissenschaftliche Publikationen erfreut sich das WWW seit etwa 1995 stärker steigender Beliebtheit. Zwar
wurden die Vorteile elektronischer Publikationen zuerst in den Naturwissenschaften entdeckt, bald jedoch begann man sich auch
in den Kultur-, Sozial- und Geisteswissenschaften, über die Vorteile des elektronischen Publizierens Gedanken zu machen, worüber
z. B. Norbert Gabriel berichtet (Norbert Gabriel: Kulturwissenschaften und neue Medien. Wissensvermittlung im digitalen Zeitalter.
Darmstadt: Primus 1997). Heute sind bereits eine ganze Reihe kulturwissenschaftlicher Zeitschriften im Volltext gratis via
WWW zu benutzen. Eine mit Sicherheit nicht vollständige Auswahl mit Verweis auf weitere Verzeichnislisten ist TRANS, der Internet-Zeitschrift
für Kulturwissenschaften des INST, zu entnehmen (http://www.adis.at/arlt/institut/trans/). Die genannte Zeitschrift enthält
neben diesem Wegweiser vor allem kulturwissenschaftliche Artikel mit transdisziplinärer Orientierung. Weitere Empfehlungen
für Philologinnen und Philologen mit dem Forschungsgebiet deutschsprachige Literatur sind unter anderem in den »Internet Resources
for Germanists« (http://polyglot.lss.wisc.edu/german/ linkrest.htm) oder den »Internet-Informationen für Literaturwissenschaftler«
des Forums »Computerphilologie« (http://computerphilologie.uni-muenchen.de/infos/frames.html) zu finden. Daß verschiedene
im WWW publizierte Zeitschriften auch Eingang in fachspezifische Bibliographien fanden, zeigt die Akzeptanz dieser Publikationsform.
Auch einige Konferenzberichte sind bereits im Volltext den elektronischen Netzwerken anvertraut worden. Die Vorteile für Publizierende
wie Benutzerinnen und Benutzer sind zahlreich, so daß mit einer weiteren Ausweitung von Angebot und Nachfrage zu rechnen ist.
[2/ S. 188:] Für die Publizierenden gibt es vermutlich aber auch Nachteile, darunter sogar finanzieller Natur, da man etwa bei gedruckten
Aufsätzen immer noch von Verwertungsgesellschaften, wie z. B. in Deutschland die VG Wort, profitieren kann. Doch von diesem
Aspekt einmal abgesehen: Wenn auf Texte von jedem zugegriffen werden kann, kann jeder damit auch (unbemerkt) machen, was er
will. Also: Wie sieht es eigentlich konkret mit dem von Ihnen bereits erwähnten Copyright aus?
Wiewohl gedruckte Texte ebenfalls von jedem benutzt und damit prinzipiell auch mißbraucht werden können, vergrößert
sich bei elektronischen Publikationen diese Gefahr, weil es einfacher ist, die Texte (oder Textteile) weiterzuverarbeiten.
Zum Urheberrecht ist zu bemerken, daß innerhalb des Internet jedenfalls alles gilt, was auch für geistiges Eigentum, das in
gedruckter Form veröffentlicht wurde, Gültigkeit hat. Aber auch zusätzliche Regeln sind in Betracht zu ziehen, deren ausführliche
Diskussion den Rahmen dieses Interviews sprengen würde und deren Umsetzung zum Teil auch unter Juristinnen und Juristen heftig
diskutiert wird, z. B. Speichern von Dateien, Anbringen von Links unter verschiedenen Bedingungen usw. Informationen, die
auch regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht werden, sind beispielsweise den WWW-Seiten der World Intellectual Property
Organization (WIPO: http://www.wipo.org/) oder der European Copyright User Platform (ECUP: http://www.kaapeli.fi/~eblida/ecup/ecupinfo.
html) zu entnehmen. In Österreich bietet z. B. der Verband der Informationswirtschaft (http://www.viw.at/) seinen Mitgliedern
Rechtsauskünfte an.
Nun haben wir bei unseren Recherchen auch häufiger bemerken müssen, daß WWW-Ressourcen unter den angegebenen Adressen schon
nach kurzer Zeit nicht mehr auffindbar waren. Unterstützen Sie die Meinung, daß diese ›dynamische‹ Praxis des Publizierens
Probleme für die Arbeit mit Quellen aus dem World Wide Web mit sich bringt?
Diese Probleme existieren in der Tat. Gerade für das wissenschaftliche Arbeiten, das ja Nachvollziehbarkeit gewährleisten
muß, sehe ich derzeit noch immer keine bessere Lösung, als Ausdrucke der zitierten Seiten zum Zeitpunkt des Zugriffs, der
ebenfalls im Zitat ausgewiesen sein sollte, anzufertigen. Webseiten können zu späteren Zeitpunkten ja nicht nur nicht mehr
unter der angegebenen Adresse greifbar sein, sondern sich auch ganz einfach nur verändert haben.
Sehr stark fällt mir dieses Problem nicht zuletzt bei Primärliteratur-Seiten auf. Viele Autorinnen und Autoren, die eigene
Werke auf eige- [2/ S. 189:] nen Websites publizieren, nutzen die Dynamik des Netzwerks und verändern Inhalt und Aussehen ihrer Seiten bei jedem ›Update‹.
Der Wiener Komparatist Norbert Bachleitner hat in einem Vortrag zu »Literatur im Internet« anläßlich des Campus-Eröffnungsfests
am 18. Oktober 1998 in Wien festgehalten, daß neben der Sammlung der wichtigsten Adressen (URLs) im WWW eine Archivierung
der im Prinzip ständig veränderbaren und ›flüchtigen‹ Texte (Textnetzwerke) die wichtigsten Voraussetzungen für die Erforschung
von Literatur im Internet darstellen.
Einschlägige Dokumente, die klarstellen, daß elektronische Publikationen zum Kulturerbe und damit zu den zu archivierenden
Gütern zählen, existieren bereits, unter anderem das CDNL/UNESCO-Dokument: The Legal Deposit of Electronic Publications (http://www.unesco.org/webworld/memory/legaldep.htm).
Auch die ÖNB archiviert bereits elektronische Publikationen, was selbst wiederum Gegenstand von Internet-Information ist,
eben in einem Hypertext eines Ihrer Kollegen (Alfred Schmidt: Bibliotheken und Internet – das Informationsangebot der Österreichischen
Nationalbibliothek via Internet im europäischen Kontext. In: TRANS. WWW: http://www.adis.at/arlt/institut/trans/6Nr/schmidt.htm).
Dennoch bleibt eine noch weiterreichende Speicherung, die auch Text- und Darstellungsvarianten berücksichtigt, eines der Desiderate
wissenschaftlicher Beschäftigung mit elektronischen Publikationen.
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