[1/ S. 135:] Herr Kitzmüller, Sie haben Pier Paolo Pasolinis in friulanischer Sprache verfaßtes Theaterstück »I Turcs tal Friul« (»Die
Türken in Friaul«) ins Deutsche übertragen und von Peter Handke zum Beispiel »Noch einmal für Thukydides« ins Italienische
übersetzt (»Ancora una volta per Tucidide«). Das italienische Publikum verdankt Ihnen eine ausführliche Studie über die Kärntner
Schriftstellerin Christine Lavant (Hans Kitzmüller: Le parole, la luna. Uno Studio su Christine Lavant. Brazzano: Brai- [1/ S. 136:] tan 1996). Diese Bücher sind in Ihrem Verlag »Braitan« erschienen. Können Sie das sich darin abzeichnende Programm der kulturellen
Vermittlung, auch in bezug auf die Region, in der Sie tätig sind, skizzieren?
Die Eigenart dieses kleinen Verlags bestellt darin, daß die Publikationen für alle drei Nachbarregionen, d. h. Friaul, Kärnten
und Slowenien, von Bedeutung sind. In gewisser Hinsicht kann man sogar von einer der wenigen tatsächlich grenzüberschreitenden
verlegerischen Initiativen in Europa sprechen, denn es werden ebenfalls Titel herausgegeben, die auch für den Kärntner oder
den slowenischen Büchermarkt bestimmt sind, wie zum Beispiel eine erfolgreiche Anthologie der friulanischen Lyrik in deutscher
Übertragung, die vor knapp zehn Jahren erschienen ist [Wie eine Viole in Casarsa. Friulanische Gedichte. Brazzano: Braitan
1988; Anm. der Redaktion]. Dasselbe gilt für das oben erwähnte Jugenddrama Pasolinis »Die Türken in Friaul« (friulanisch /
deutsch) oder für mehrsprachige Editionen von Gedichten von Janko Ferk, Gustav Januš usw.
Das Gemeinsame in diesem Kulturraum besonderer Art (drei Sprachen, eine jahrhundertealte gemeinsame Vergangenheit ohne Grenzen)
soll unter dem gezielten Aspekt hervorgehoben werden, die in diesem Jahrhundert durch den Nationalismus und den Faschismus
unterbrochene Tradition des multikulturellen und des interkulturellen Kulturlebens wiederaufzunehmen und fortzusetzen.
Können Sie die spezifischen Faktoren, die die Identität Ihrer Region bestimmen, darstellen? Sind es historische, sprachliche,
politische? Wie steht es um die aktuelle Bewußtheit regionaler Identität? Und gibt es Anzeichen für ein regionales Zusammengehörigkeitsgefühl,
das über die nationalen Grenzen hinausgeht?
Ostfriaul, das alte Österreichisch-Friaul, ein Teil des ehemaligen österreichischen Küstenlandes, gehörte jener historischen
Region an, die bis 1915 keine Grenzen gekannt hatte und wo jahrhundertelang Italiener, Friulaner, Deutschösterreicher, Slowenen
und Kroaten auf demselben Boden vom Isonzoland bis Istrien zusammenlebten. Sie bildete insofern eine echte Drehscheibe Europas,
als dort das einzige Gebiet war, wo seit dem Mittelalter das Zusammenleben aller drei europäischen Volksstimme, nämlich Germanen,
Romanen und Slawen als geographische und ethnographische Tatsache zum Alltag gehörte. Heute ist diese Region durch zwei Grenzen
in drei Gebiete geteilt, die drei verschiedenen Staaten gehören: Italien, Slowenien und Kroatien. Die Grenzen schufen in den
genannten drei Staaten Minderheiten, weil sie durch seit Jahrhunderten gemischtsprachige Gegenden will- [1/ S. 137:] kürlich gezogen wurden, wobei die italienische Volksgruppe durch die jüngste Teilung von Istrien noch schwächer geworden ist.
Es ist in diesem Zusammenhang auch zu bemerken, daß nach einer eventuellen Aufnahme Sloweniens in die Europäische Union die
Außengrenze der EU durch Istrien laufen wird, was diesen geographisch und historisch so einmaligen Kulturraum nur noch mehr
benachteiligen wird.
In unserem Jahrhundert wurde das Zusammenleben verschiedener Sprachen und Kulturen auf demselben Boden nicht nur unmöglich
gemacht, sondern dessen Bestand in der Vergangenheit sogar geleugnet, verschwiegen und vergessen. Der Nationalitätenkonflikt
im 19. Jahrhundert wurde im 20. zur scharfen Nationalitätentrennung. Der Nationalismus machte aus diesem Nebeneinander im
Isonzoland ein Gegeneinander. Hinzu kam die Spaltung Europas nach 1945, deren einziger Best noch heute die Teilung von Gorizia
(Görz) und Nova Gorica ist. Die Grenze zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten verlief dann jahrzehntelang
gerade durch diese Region.
Die Folgen waren in bezug auf die Sprachenvielfalt verheerend: In Ostfriaul wurden die Deutschkenntnisse äußerst gering, das
Slowenische wurde als etwas Fremdes betrachtet - so fremd, daß auch alle Personen- und Ortsnamen slawischer oder auch deutscher
Herkunfl italianisiert werden mußten -, das Friulanische wurde als Ausdruck einer groben Bauernkultur mißachtet. Eine Lage,
die ein gutes halbes Jahrhundert andauerte. Nach einigen Fortschritten in den 70er und 80er Jahren ist aber derzeit noch immer
eine weitere Entwicklung in Richtung eines interkulturellen europäischen Denkens mit großen Schwierigkeiten verbunden. Der
Beitritt dieses gesamten Kulturraums zur EU steht allerdings bevor.
Können Sie die Rezeption der Literatur aus den beiden angrenzenden Sprachbereichen beschreiben? Was zum Beispiel wird von
Kärntner Autoren in Friaul gelesen? Wie steht es mit der Bi- oder Trilingualität der Leser? Vielleicht nennen Sie auch ein
paar friulanische Autoren.
Von einer Rezeption der österreichischen Literatur kann man im Rahmen des in den 70er Jahren in Oberitalien entstandenen großen
Interesses für mitteleuropäische Literatur reden. Bobi Bazlen und der Mailänder Verlag Adelphi sowie die Schriften von Claudio
Magris haben dabei eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Thomas Bernhard und Peter Handke sind sehr beliebte Autoren. Mehrere
Kärntner Autoren haben in Udine und in Triest (Trieste) gelesen, etwa Gustav Januš, Werner Kofler, Josef Winkler. Dies erfolgte
im Rahmen der Aktivitäten [1/ S. 138:] zu der Anfang der 90er Jahre der Universität Udine vom österreichischen Außenministerium gespendeten Österreich-Bibliothek.
Mit der Rezeption slowenischer Literatur sind wir noch ganz am Anfang. Ich kann behaupten, daß in Friaul nur Slowenen perfekt
zweisprachig sind; äußerst selten gibt es hingegen Friulaner, die Slowenisch sprechen. Ferruccio Fölkel, der Triestiner Schriftsteller,
erklärte einmal, er schäme sich, eine Sprache, die in seiner Stadt gesprochen wird, nicht zu beherrschen. Damit sagte er alles.
Die wirklich guten friulanisch schreibenden Autoren, die ich liebe, sind die Lyrikerin Novella Cantarutti und die Dichter
Amedeo Giacomini und Celso Macor. Alle drei habe ich mehrmals in Österreich präsentiert. Dabei faszinierten sie das Publikum
im Café Sperl in Wien oder in der Landhausbuchhandlung in Klagenfurt mit den Lauten und mit der Musikalität ihrer in Europa
noch so wenig bekannten ladinischen Minderheitensprache.
In der Görzer Region gab es ja jahrhundertelang eine deutschsprachige österreichische Kultur und Literatur: Gibt es in Ihrer
Nähe Archive, in denen man diesem Phänomen nachspüren kann, und wie ist der Stand der Forschung?
Vor allem würde ich den Archivio Storico Provinciale im Palais Attems in Görz nennen. Das ist eine echte Fundgrube auf diesem
Gebiet. Dieser Bereich wurde bisher von der italienischen Forschung praktisch ignoriert. Ein Beispiel: Es gibt noch keine
italienische Studie über das sogenannte »Görzerisch Statutt«, das ist das in Mittelhochdeutsch redigierte alte Stadtrecht
von Görz. Das erklärt sich auch als Folge der durch Generationen hindurch oktroyierten Verdrängung der deutschsprachigen Vergangenheit
dieses Städtchens. Es gibt in Friaul außerdem sehr wenige Leute, die in der Lage sind, alte Urkunden in Mittelhochdeutsch
oder in Kurrentschrift zu lesen. Die einzige bisher veröffentlichte Studie über die deutschsprachigen Zeitungsexperimente
in Görz im 19. Jahrhundert stammt von mir selbst. Ich hin fest überzeugt, daß ich mich dabei absolut nicht mit einem belanglosen
und unbedeutenden Aspekt der Geschichte von Görz beschäftigt habe. Ganz im Gegenteil. Im Hinblick auf unser künftig wohl ständig
wachsendes Bedürfnis nach einem neuen europäischen Bewußtsein sind diese historischen Beispiele für Interkulturalität vielleicht
das heutige Salz der Kultur.
[1/ S. 139:] Mit welchen Institutionen, die die Sie interessierende Literatur archivieren, haben Sie in Österreich, aber auch in Italien
und Slowenien Kontakt?
Für die Gegenwartsliteratur selbstverständlich das Literaturhaus bzw. die Dokumentationsstelle für neuere österreichische
Literatur in Wien und für alte Literatur die ÖNB, mit der ich sehr gute Erfahrungen habe. In Slowenien hatte ich einmal Kontakt
mit Germanisten aufgenommen, die sich mit der deutschsprachigen Kultur in Ljubljana (Laibach) und Maribor (Marburg) beschäftigt
haben.
Welche Möglichkeiten bietet Ihnen Ihre Lehrtätigkeit an der Universität Udine für die Vermittlung regionaler Literatur? Benutzen
Sie als Hochschullehrer mit Ihren Studenten Literaturarchive?
Nach der Ausstellung, die ich 1995 in der ÖNB in Wien über die deutschsprachige Presse und Literatur in Görz gestaltet habe
[vgl. Görz 1500-1915. Ein vergessenes Kapitel altösterreichischer Dichtung. Hg. von Hans Kitzmüller. Klagenfurt: Carinthia
1995; Anm. der Redaktion], haben nun junge Leute großes Interesse dafür gezeigt. Einige Studenten arbeiten derzeit in ihren
Dissertationen über einschlägige Themen. Und ein Teil ihrer Arbeit besteht tatsächlich in der Benützung von Archiven, wobei
sie auch ein bißchen lernen sollten, die alte Kurrentschrift zu entziffern, was eigentlich nicht schadet.
Auch das Kärntner Literaturarchiv in Klagenfurt soll von Studenten aus Udine benutzt werden. Dort wird u. a. der Nachlaß von
Christine Lavant aufbewahrt. Eine Dissertation über die Prosa von Christine Lavant befindet sich in Arbeit. Ich stelle mit
Genugtuung fest, daß diese leider noch wenigen Studenten viel Spaß daran haben, Archive zu besuchen und zu benutzen, und das
als wertvolle Erfahrung zu schätzen wissen, indem sie das Gefühl entwickeln, die noch vielen Lücken in der Erforschung des
österreichischen Kulturerbes in ihrem eigenen Land auszufüllen.
Planen Sie in bezug auf unser Thema der Regionalität als Verleger und Universitätslehrer mittel- und langfristige Projekte?
Ich möchte mein eingangs erwähntes Vorhaben weiterhin konsequent fortführen. Ich hin jetzt dabei, eine neue Buchreihe herauszugeben,
die sich auf den Görzer Raum konzentrieren wird, um dessen Sprachenvielfalt in der Vergangenheit zu dokumentieren, aber auch
um die besondere Qualität dieser Literatur hervorzuheben. Es erscheint jetzt eine Auswahl von Gedichten eines Görzers aus
der ersten Hälfte des [1/ S. 140:] 19. Jahrhunderts, der in deutscher Sprache Gedichte geschrieben hat: Francesco Leopoldo Savio, der zu Lebzeiten schon etwas
im Laibacher Wochenblatt veröffentlicht hatte, dessen Nachlaß aber zum Großteil bisher noch unveröffentlicht geblieben ist.
Folgen werden Übersetzungen deutscher Klassiker ins Friulanische von Franco De Gironcoli, einem Görzer Lyriker, der sehr raffinierte
Gedichte in Friulanisch schrieb - er war u. a. jahrelang auch Leiter des italienischen Kulturinstituts in Wien -, und Alojz
Gradnik, der große slowenische Lyriker, der in seinen Sonetten über Liebe und Tod schrieb, aber auch den Collio, das Görzer
Hügelland, besang.
|
|