Zweifellos ist es auch in Literaturarchiven nützlich, hin und wieder innezuhalten und zu überlegen, was man eigentlich tut.
Wer allerdings in der archiv- oder bibliothekswissenschaftlichen Fachliteratur Rat sucht, stellt bald fest, daß viele dort
gängige Begriffe auf unsere Arbeit nicht ganz zutreffen. Die Archivwissenschaft beschäftigt sich vor allem mit Verwaltungsakten,
die Bibliothekswissenschaft konzentriert sich auf gedruckte und elektronische Medien, während Literaturarchive es zumeist
mit Nachlässen und Einzelautographen zu tun haben. Obwohl persönliche Nachlässe auch in Archiven und vor allem in den Handschriftenabteilungen
der Bibliotheken aufbewahrt werden, gibt es keine ausformulierte Theorie des Nachlasses. Das liegt vermutlich am Gegenstand:
Nachlässe sind viel schwieriger auf einen Nenner zu bringen als Bücher oder Behördenarchive.
Jedes Literaturarchiv muß jedoch in der Praxis entscheiden, auf welche Weise und in welcher Form es am besten Nachlässe und
Autographen aufbewahrt und erschließt. In den knappen und noch heute als Standard geltenden, 1973 erstmals vorgelegten Ausführungen
über »Nachlässe und Autographen« der DFG-»Richtlinien Handschriftenkatalogisierung« heißt es:
Unter einem schriftlichen Nachlaß versteht man die Summe aller Unterlagen, z. B. Manuskripte und Arbeitspapiere, Korrespondenzen,
Lebensdokumente, Sachakten und Sammlungen, die sich bei einem Nachlasser zusammengefunden haben (echter Nachlaß) oder nach
seinem Tode hinzugefügt worden sind (angereicherter Nachlaß). Druckwerke sind nur in begründeten Fällen als Bestandteil eines
schriftlichen Nachlasses anzusehen (z. B. Publikationen des Nachlassers oder über ihn, Handexemplare eigener und fremder Schriften,
Widmungsexemplare).
Nachlässe sollen, soweit dies durch frühere separate Aufstellung oder Lagerung ihrer Einzelstücke nicht unmöglich gemacht
ist, nach dem Provenienzprinzip als geschlossene Bestände aufgestellt werden.[1]
Der Begriff ›Provenienzprinzip‹ wurde aus dem Archivwesen übernommen: Was aus einer Quelle kam, soll als ein in sich geschlossener
Komplex aufbewahrt werden. Das Gegenteil wäre das Prinzip der Pertinenz, des sachlich-thematischen Gesichtspunktes. Die Behördenarchive
verfahren heute – vermutlich auch aus praktischen Gründen – größtenteils nach dem Provenienzprinzip; alles andere würde aufwendiges
Umsortieren bedeuten. Sowohl der oben angesprochene ›echte Nachlaß‹ als auch der ›angereicherte Nachlaß‹ stammt aus jeweils
einer Quelle, sei dies der Autor oder sein Erbe, und entspricht daher dem Provenienzprinzip.
Der zitierte Nachlaßbegriff klammert Nichtschriftliches und Autorenbibliotheken ausdrücklich aus. Aus rein praktischen Erwägungen
werden auch im Deutschen Literaturarchiv die verschiedenen Materialformen getrennt: Bildmaterial, Drucksachen oder ganze Bibliotheken
werden, auch wenn sie aus einem Nachlaß stammen, in jeweils anderen Magazinen und Regalen aufbewahrt als die Handschriften.
Was die Autographen betrifft, so läßt sich nicht bestreiten, daß man in Marbach in einigen Punkten gegen das Provenienzprinzip
verstößt. Zwar werden die Autographen nicht – wie es etwa am Nederlands Letterkundig Museum in Den Haag praktiziert wird –
ohne Rücksicht auf Herkunftszusammenhänge in ein einziges langes Autorenalphabet eingeordnet. Aber das Deutsche Literaturarchiv
bewahrt seine Bestände (zumeist Nachlässe, aber auch Teilnachlässe, Vorlässe, Sammlungen, Verlags- und Redaktionsarchive)
nur ›im Prinzip‹ nach Provenienzen auf, denn sie werden durch Dokumente ergänzt, die zum jeweiligen Bestand zu gehören scheinen,
auch wenn sie nicht aus derselben Provenienz übernommen wurden.
Die Marbacher Reihe der Einzelautographen enthält nur Autographen, von deren Verfassern oder Adressaten sonst keine eigenen
Bestände bewahrt werden. Eine antiquarisch erworbene Gedichthandschrift von Günter Eich wird zu den übrigen Gedichten im Nachlaß
gegeben. Ein Brief von Arthur Schnitzler an Ephraim Frisch kommt in den Teilnachlaß Schnitzlers, wo sich schon Gegenbriefe
befinden. Besäße das Deutsche Literaturarchiv den Nachlaß von Ephraim Frisch, so würde der Brief dort seinen Platz finden,
weil er dort in noch besserer Gesellschaft wäre, nämlich in der Folge der Briefe an Frisch. Hier würden ihn die Benutzer am
ehesten erwarten.
Friedrich Schillers Witwe gab Besuchern in Weimar zur Erinnerung gern Manuskriptseiten mit. Sie schreckte wohl auch nicht
davor zurück, Handschriften in kleine Stücke zu zerschneiden. Auf diese Weise wurde beispielsweise das Dramenfragment »Die
Maltheser« stückchenweise verstreut. Das Deutsche Literaturarchiv erwirbt in größeren Zeitabständen aus je verschiedener Quelle
immer wieder einzelne Seiten und Schnipsel. Das Provenienzprinzip würde verlangen, jedes Papierstückchen separat nach Erwerbungsnummer
aufzubewahren. Die Marbacher dagegen versammeln alles an einer bestimmte Stelle unter der Rubrik ›Dramatisches‹ im Bestand
›Schiller‹ und nehmen springende Erwerbungsnummern in Kauf. Während sich Schillers Nachlaß in Weimar befindet, besteht die
umfangreiche ›Sammlung‹ im Deutschen Literaturarchiv zum größten Teil aus Einzelerwerbungen ganz verschiedener Provenienz.
Dieses Verfahren entspricht nicht ganz dem archivarischen Provenienzprinzip, aber es hat sich im Lauf vieler Jahre bewährt,
weil es den Bedürfnissen der Benutzer entgegenkommt. Die Kollegen in den Marbacher Magazinen müssen die gesammelten Papierstückchen
von Schillers »Malthesern«, die verschiedenen Fassungen eines Gedichtes von Eich oder die Folge einer Korrespondenz von Schnitzler
nicht jedesmal von neuem mühsam zusammensuchen.
Das Provenienzprinzip dient in Verwaltungsarchiven dem Ziel, die Dokumente ökonomisch im Hinblick auf die Benutzung zu verwahren,
ohne Informationen zu vernichten. Dieses Ziel erreicht man in Marbach besser auf dem Weg des ›erweiterten Provenienzprinzips‹.
Denn Autorennachlässe sind keine Verwaltungsregistraturen: Anders als Autoren dürfen Beamte ihre Akten nicht verschenken,
vererben oder in Unordnung bringen; sie legen sie nach einem festgelegten, womöglich mit dem späteren Archiv schon abgestimmten
System ab. Die Ordnung ergibt sich aus der Sache und ist darum auch für den Benutzer meist nachvollziehbar, selbst wenn zusätzliche
Findmittel und Register fehlen.
Das trifft auf Autorennachlässe nicht zu. Wenn aber Bestände, bevor sie benutzt werden können, zumeist neu sortiert werden
müssen (behutsam, ohne Zusammenhänge zu zerstören), und wenn dabei jeweils genau vermerkt wird, wo sich ein bestimmtes Stück
befindet und woher es stammt, dann kann die Frage des Aufbewahrungsorts pragmatisch entschieden werden. In der Marbacher Datenbank
lassen sich die Erwerbungen jederzeit nach der Reihenfolge ihres Eingangs ordnen; bei der Aufbewahrung im Magazin ist es ökonomischer,
auch die typischen Fragen der Benutzer zu berücksichtigen.
Ulrich von Bülow
ANMERKUNGEN
1]
Richtlinien Nachlässe und Autographen. In: Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen. RNA. Deutsche Forschungsgemeinschaft.
Unterausschuß für Nachlaßerschließung. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1997, S. 7–15, hier S. 8 (ergänzte Fassung 1998
vgl. http://zka.sbb.spk-berlin.de/rna/).
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