[2/ S. 66:] Der umfangreiche Nachlaß von Erich Fried beinhaltet zahlreiche Materialien aus der Hinterlassenschaft seiner Eltern Hugo und
Nellie Fried. Bei der ersten Autopsie des Gesamtnachlasses durch Volker Kaukoreit wurden diese Krypto-Bestände bereits grob
vorgeordnet und machten letztlich zwei der rund 200 Kisten des literarischen Fried-Nachlasses aus. In einem weiteren Bearbeitungsschritt,
den die Verfasserin während eines Ausbildungspraktikums an der ÖNB voll [2/ S. 67:] zog, wurden die Bestände der Eltern Frieds feinsortiert und jeweils in eine eigene Systematik gebracht. Diese Arbeit darf
indes noch nicht als abgeschlossen gelten, da sich aller Wahrscheinlichkeit nach in anderen, nur vorsortierten Teilen des
Fried-Nachlasses noch weiteres Material befindet, das den Eltern zugeordnet und nachträglich in den jeweiligen Bestand eingegliedert
werden muß. Die Erkenntnisse aus dieser Erschließungsphase erlauben es jedoch, sich – im Vergleich zum bisherigen Wissenstand
– ein genaueres Bild von Hugo und Nellie Fried zu machen, die sich in ihrem Leben sehr unterschiedlichen Aufgaben gewidmet
haben.[1]
Der zeitweilige Spediteur Hugo Fried (geboren am 24. Mai 1890 in Wien, gestorben ebenda am 24. Mai 1938) versuchte sich immer
wieder auch als Schriftsteller, womit er jedoch nur geringen Erfolg erzielte. In seinen Papieren finden sich zahlreiche Werkmanuskripte
und -typoskripte, oftmals auch in mehrfacher Ausführung, was unter anderem daraus resultiert, daß er diese an verschiedene
Verlage geschickt und in den meisten Fällen wohl wieder zurück bekommen hat. Das dokumentierte literarische Werk beschränkt
sich nicht auf eine bestimmte Literaturgattung, sondern reicht von Prosa und Romanen über Lyrik bis hin zu Bühnenstücken und
Filmspielen. In einige Bühnenstücke oder »Mysterien« flossen religiöse Inhalte, ja sogar explizit christliche Motive ein,
z. B. in »Christus spricht zu seiner Mutter«, ein fiktives Gespräch des gekreuzigten Jesus mit Maria über sein Opfer und die
Erlösung der Welt. Dies ist umso bemerkenswerter, als die jüdische Religion Jesus nicht als den Erlöser (›Messias‹ oder ›Christus‹)
anerkennt und darum auch nicht diese Bezeichnungen verwendet. Ein Filmspiel lag dem Autor anscheinend besonders am Herzen:
»Das Lied von Wien«, eine Liebesgeschichte über einen mittellosen Dichter und ein reiches ›Mädel‹ aus gutem Haus, das dieser
schließlich durch seine Gedichte und seine Redlichkeit gegenüber ihrer Familie für sich gewinnen kann. Von diesem Werk, für
dessen Verwertung und Verbreitung (in der Typoskript-Fassung) er immerhin den Theaterverlag Max Pfeffer (Wien, Berlin) gewinnen
konnte (Abb. 1), sind das komplette Manuskript und Typoskripte sowie einige Fragmente in unterschiedlichen Fassungen vorhanden. Das Stück
hat Erich Frieds Vater auch selbst verschiedenen Filmgesellschaften angeboten, die aber kein Interesse zeigten. Von der Österreichischen
Fremdenverkehrswerbung bekam er sogar eine (vernichtende) Kritik, aufgrund der er das Stück nochmals überarbeitete.
Abb. 1. Hugo Fried: Das Lied von Wien, maschinschriftliche Reinschrift, Ausschnitt aus dem Deckblatt mit Aufkleber des Verlags Max
Pfeffer. ÖLA [2/ S. 68] Abbildung in eigenem Fenster öffnen [93,6KB]
»Das Lied von Wien« besteht nicht nur aus filmtypischen Dialogen. Hugo Fried bedient sich auch einiger Gedichte, die in die
Handlung eingeflochten werden. Bemerkenswert ist, daß diese Gedichte eben [2/ S. 70:] falls in seiner Gedichtsammlung »Unterwegs« zu finden sind. So weit bekannt, ist dies – neben dem Gedichtzyklus »Sonette an
Wien« – die einzige Zusammenstellung von lyrischen Werken Hugo Frieds. Darüber hinaus existieren zahlreiche handschriftliche
Gedichte und Gedichtfragmente, doch ist noch vollkommen ungeklärt, ob diese Texte jemals veröffentlicht wurden, möglicherweise
sogar unter Pseudonym (s. u.).
Zu Hugo Frieds schriftstellerischer Arbeit gehören auch mehrere sachlich-dokumentarische Texte, die nachweislich in einigen
Zeitungen abgedruckt wurden, z. B. ein Artikel über das Leben der Zigeuner im »Kleinen Blatt« vom 19. Januar 1934. Diese Texte
besitzen, wie angedeutet, einen eher erzählerischen und unterhaltsamen Charakter, als daß sie wissenschaftlich dokumentieren.
Laut Erich Frieds Aussage schrieb sein Vater des öfteren für Zeitungen, weigerte sich aber, als ›Journalist‹ bezeichnet zu
werden.
In diesem Zusammenhang sind auch einige Aphorismen bzw. Aperçus Hugo Frieds über das Dritte Reich bemerkenswert. Von ihnen
fanden sich sowohl handschriftliche Fassungen als auch eine gedruckte Auswahl im Wiener »Götz von Berlichingen« (Nr. 31, 4.
8. 1933), letztere allerdings unter dem Pseudonym »Pax«. Dies untermauert immerhin die (bisher nicht bestätigte) Aussage seines
Sohnes, daß der Vater für den »Götz« geschrieben habe. Aufgrund der aktuellen Wiener Fried-Aktivitäten im November 1998 bot
sich die Möglichkeit, diesen Fund in einer Broschüre des neuen Erich Fried Realgymnasiums zu dokumentieren (vgl. Festschrift
des RG IX. Aus Anlaß der Benennung nach Erich Fried. Hg. von Volker Kaukoreit und Wilhelm Urbanek. Wien: Museumsverein Alsergrund
1998 [= Beiträge zur Geschichte und Gegenwart des Alsergrundes 134], S. 31–33; vgl. den Bericht von Volker Kaukoreit und Wilhelm Urbanek im vorliegenden Band).
Darüber hinaus versuchte sich Hugo Fried auch als Texter von Werbeslogans für verschiedene Firmen (z. B. Elida Parfümerie).
Doch auch hier hatte er wenig Glück; in der erhaltenen Korrespondenz finden sich nur Absagen.
Der Schwerpunkt von Hugo Frieds literarischer Arbeit liegt eindeutig auf der erzählenden Prosa. Zwei der umfangreicheren Prosawerke
sind als Romane einzustufen. Einer davon, »Doktor Wengers Weg«, war in einer Meldung der Wiener »Jüdischen Front« vom Februar
1935 geradezu hymnisch gelobt worden. (Abb. 2) Ob es jedoch zu einer Publikation kam, ist nicht bekannt.
Abb. 2. »Jüdische Front« (Wien), Februar 1935, Ausschnitt. ÖLA [2/ S. 69] Abbildung in eigenem Fenster öffnen [130,3KB]
Der größte Teil der Erzählungen sind Kurzgeschichten, zumeist Novellen. Einige davon hat Hugo Fried zu einer Sammlung zusammengefaßt.
Von ihr ist ein Typoskript ohne Titelblatt erhalten, doch die [2/ S. 71:] diesbezügliche Korrespondenz und der inhaltliche Konnex der Texte belegen, daß es sich um die »Ekstatischen Novellen« handelt.
Auch mit dieser Sammlung blieb Hugo Fried offenbar erfolglos. Die angeschriebenen Verlage meldeten stereotyp, daß das Werk
nicht zum Programm passe oder die Absatzmöglichkeiten zu gering seien. Das Spektrum der Themen, mit denen sich Frieds Prosatexte
(nicht nur die der »Ekstatischen Novellen«) befassen, ist breit gefächert; es reicht von Lausbubengeschichten (»Der Lausbub
Fritzl«) über Gruselgeschichten (»Nächte des Grauens«) bis hin zu fiktiven Reisebeschreibungen (»Das Tanzmädchen von Biskra«).
Andere Texte – und zwar ein nicht unbeträchtlicher Teil – setzen sich mit Rauschgift und den Folgen der Sucht auseinander.
Geschildert wird, meist aus der Sicht eines Ich-Erzählers, wie die Menschen Drogen konsumieren, wie die Drogen auf sie wirken
und welche Konsequenzen, z. B. Entzugserscheinungen, sie haben. Dabei wird ein kritischer Blick auf die zeitgenössische Gesellschaft
geworfen, in der es als schick galt, Kokain oder Opium in aller Öffentlichkeit zu konsumieren. Da Hugo Fried den Drogenrausch
und die Nachwirkungen jedoch sehr detailliert beschreibt, liegt der Verdacht nahe, daß er selbst entsprechende Erfahrungen
gemacht hat.
Eindeutig datieren lassen sich die meisten Werke Hugo Frieds nicht. Vermutlich aber fallen die Texte über Rauschgift in die
Zeit, als er auch in anderer Hinsicht versuchte, das ›Suchtverhalten‹ seiner Mitmenschen zu bekämpfen. Denn er arbeitete nicht
nur als Schriftsteller, sondern beschäftigte sich auch mit alternativen Heilmethoden. Schon als junger Mann hatte er entdeckt,
daß er über besondere Kräfte verfügte, mit denen er Kranken helfen konnte. Ende der 20er Jahre begann Hugo Fried diese Fähigkeiten
zu nutzen und behandelte vor allem Menschen mit nervösen oder psychischen Problemen, aber auch Alkohol- und Rauschgift-Abhängige.
Mit seiner ungewöhnlichen Behandlungsmethode, die auf einer Art Hypnose oder ›Magnetismus‹ mit Handauflegen beruhte, schien
er auch Erfolg zu haben. Einige Zeitungen berichten begeistert vom »Wunderdoktor von Baden«, der die Menschen auf wunderbare
Weise von ihrem Leiden befreien konnte. In der Kurklinik Baden wurde ihm dafür sogar ein eigener Behandlungsraum eingerichtet.
Da er jedoch keine ärztliche Approbation besaß, zog er einen befreundeten Mediziner zu seinen Behandlungen hinzu. Dennoch
wurde ihm in den Jahren 1930 bis 1932 der Prozeß wegen Kurpfuscherei gemacht, den er in erster Instanz verlor. Aus diesen
Prozessen ist ein Gutachten erhalten, das bescheinigt, daß »die Art der von Fried ausgeübten Behandlungsmethode nicht ohne
ernste Bedeutung für die Gesundheit der von ihm behandelten Menschen ist«. [2/ S. 72:] Hugo Fried war sich selbst nicht sicher, was für eine Methode er da eigentlich anwandte: Laut besagtem Gerichtsgutachten
spricht er einmal von »Psychoanalyse«, dann wieder von »Magnetismus«, der nichts mit psychischer Beeinflussung zu tun habe.
Der Grund für diese Unstimmigkeiten wird wohl sein, daß er – noch dazu als medizinischer Laie – nicht in der Lage war, seine
›übersinnlichen‹ Kräfte dem Gericht in überzeugenden Argumenten darzulegen.
Im darauffolgenden Berufungsprozeß, bei dem Hugo Fried sich selbst verteidigte, konnte ihm nichts Ungesetzliches nachgewiesen
werden, zumal er für seine Behandlungen kein Honorar verlangt hatte. So wurde er aus Mangel an Beweisen freigesprochen. In
der folgenden Zeit führte er seine Behandlungen fort, allerdings in sehr eingeschränktem Maß. Daß er sich weiter mit dem Thema
auseinandergesetzt hat, zeigen einige Zeitungsartikel über Magnetismus und ähnliches, die Hugo Fried gesammelt hat und die
bis zum Jahr 1935 datiert sind.
Der im ÖLA erhaltene Bestand wurde gemäß den »Richtlinien Nachlässe und Autographen« erschlossen und systematisch geordnet
(vgl. den Auszug aus: Richtlinien Handschriftenkatalogisierung, DFG. 5. Aufl. 1992. In: Regeln zur Erschließung von Nachlässen
und Autographen. RNA. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1997 [= Schriften der Deutschen Forschungsgemeinschaft], S. 7–15).
Die erste Gruppe ›Werke‹ ist die umfangreichste und enthält neben den zahlreichen Werkmanuskripten und -typoskripten auch
sämtliche Notizen und Entwürfe dazu in Unterabteilungen wie Prosa, Lyrik, Film- und Bühnenstücke sowie dokumentarische Texte.
Die zweite Gruppe ›Korrespondenzen‹ umfaßt einige private Briefe an Hugo Fried, vor allem jedoch die bereits angesprochenen
Absagen von Firmen und Filmgesellschaften. Nur wenige Schreiben sind vom ihm selbst verfaßt, so unter anderem zwei Briefe
an die Finanzbehörden, als die Familie kurz vor einem Offenbarungseid stand. In der dritten Gruppe ›Lebensdokumente‹ finden
sich etwa die Geburts- und Heiratsurkunde sowie Bescheinigungen über den abgeleisteten Militärdienst. Die meisten dieser Urkunden
sind allerdings im nachhinein ausgestellt worden, sozusagen beglaubigte Ersatzdokumente. In der vierten Gruppe ›Sammlungen‹
wurden schließlich solche Stücke zusammengefaßt, die keiner der anderen Gruppen zugeordnet werden konnten. Hier finden sich
z.B. Zeitungsausschnitte über Hugo Frieds Hypnosebehandlung und anderes, von ihm gesammeltes Material, das sich mit dieser
Heilmethode befaßt, aber auch die oben angesprochene Rezension zu »Doktor Wengers Weg« (zu Details vgl. die nachgestellte
Ordnungssystematik).
[2/ S. 73:] Die Auseinandersetzung mit diesen Beständen ermöglicht es – zusammenfassend gesagt –, Erich Frieds Vater einerseits als einen
›verträumten‹ und sich unverstanden fühlenden Dichter kennenzulernen, der seinen Wunsch nach einer heilen Welt wie auch seinen
Hang zum Übersinnlichen mit allerlei klischeehaften, manchmal kitschigen oder unheimlichen Gestalten in seinen Gedichten und
Erzählungen zum Ausdruck bringt. Auch seine alternative Heilbehandlung steht damit in Zusammenhang. Andererseits zeigt Hugo
Fried, daß er durchaus die sozialen und politischen Zustände um sich herum erkennt: das Drogen-Problem, die Lebensbedingungen
der aus der Gesellschaft Verstoßenen (wie Geisteskranken oder Prostituierten) und die immer stärker werdende Bedrohung durch
die Nationalsozialisten, gegen die er sich in seinen Aphorismen im »Götz« oder der Erzählung »Der Meisterlügner« wehrt. Nach
seiner Verhaftung am 24. April 1938 und einem brutalen Gestapo-Verhör starb Hugo Fried am 24. Mai 1938.
In Gegensatz zu ihrem Mann Hugo steht Nellie Fried (geboren am 14. September 1896 in Wien, gestorben 1982 in London, wohin
sie 1939 geflüchtet war). Denn während sich Hugo, der erfolglose Spediteur, eher einer ›brotlosen Kunst‹ widmete, war sie
es, die als Künstlerin, Modedesignerin und Erfinderin die Familie ernährte. Nellie Frieds Teilnachlaß ist daher auch kein
literarischer, sondern enthält, neben den üblichen Lebensdokumenten und Korrespondenzen, ganz unterschiedliche Materialien.
Ab den 20er Jahren begann sie, zuerst Stoffmuster, später ganze Wäschestücke und Modebekleidung zu entwerfen. Besonders zu
nennen ist dabei ein Stoff, der so bedruckt wird, daß er ein Spitzenmuster nur ›vortäuscht‹. Dieses und andere Verfahren ließ
sich Nellie Fried in verschiedenen Ländern patentieren, neben Deutschland unter anderem auch in Frankreich und Großbritannien.
Davon haben sich zahlreiche Patenturkunden und Lizenzverträge erhalten. Interessante Fälle sind die Firmen Goeritz AG in Chemnitz
und Heller & Askonas bzw. Etam in Ungarn, mit denen Nellie Fried lange Zeit sehr erfolgreich zusammenarbeitete. Mit diesen
Unternehmen entwickelte sich Jahre später ein Rechtsstreit, da diese während des Krieges die Lizenzgebühren nicht bezahlt
hatten und später nicht bereit waren, das Geld nachträglich zu überweisen. Diese Streitigkeiten, die Nellie Fried über ihren
damaligen Anwalt Dr. Berthold Buchholz abwickelte, sind in einem teilweise recht scharf formulierten Briefwechsel dokumentiert.
Zeugnis über einen weiteren Rechtsstreit gibt eine Erklärung von Nellie Fried aus dem Jahr 1955 vor dem High Court of Justice
in London: Aus Furcht vor einer Machtergreifung der Nationalsozialisten hatte sie bereits 1937 bei der Züricher Kantonalbank
ein Konto eröffnet, auf das [2/ S. 74:] sie ihre Lizenzgebühren und andere Einkünfte überweisen ließ. Für den Fall einer Flucht ins Ausland übertrug sie ihrem Anwalt
Buchholz die Vollmacht über ihr Konto. Als sich dieser jedoch 1938 nach Israel absetzte, ohne die inhaftierte Nellie Fried
zu informieren, war sie in Wien vor ihrer Flucht nach England vollkommen mittellos. Versuche in den folgenden Jahren, mit
ihm Kontakt aufzunehmen, scheiterten. Als sie sich schließlich an die Züricher Bank wandte, erfuhr sie, daß Buchholz das Geld
damals mit nach Israel genommen hätte und dort 1950 verstorben wäre. Folglich bemühte sich Nellie Fried, ihr Vermögen bei
den Hinterbliebenen des Anwalts einzuklagen.
Wie aus der Korrespondenz hervorgeht, führte Nellie Fried ihre Erfindungen und deren Vermarktung von London aus weiter. Dabei
ging es nicht nur um die Aufrechterhaltung der Lizenzen für bereits bestehende Patente. Die Mutter Erich Frieds legte weitere
Erfindungen vor, so z. B. eine Verschlußvorrichtung, die sich für Gürtelschnallen und Halsketten, aber auch für Behälter und
Flaschen eignete. Von diesem Patent sowie von einigen anderen Erfindungen finden sich ausführliche Beschreibungen und Zeichnungen,
die den jeweiligen Patentämtern vorgelegt wurden. Die Ausarbeitung der Patentschriften und die Anmeldung der Patente lief
dabei über Patentbüros in den verschiedenen europäischen Ländern, unter anderem in Großbritannien, Polen, Schweden und der
Schweiz. In der Anfangszeit erledigte Nellie die Korrespondenz noch selbst bzw. ihr Sohn Erich, später übernahm dies ihr Freund
und späterer Lebensgefährte Rudolf Hellendall.
Zudem war Nellie Fried auch als Modedesignerin erfolgreich. Sie entwarf selbständig oder im Auftrag für Firmen, unter anderem
auch für die bereits angesprochene Goeritz AG Chemnitz, einzelne Wäschestücke oder sogar ganze Modellkollektionen. Da sie
mit den Firmen meist direkt vor Ort arbeitete, war sie, schon in den 20er Jahren, oft auf Geschäftsreisen in ganz Europa unterwegs.
Dabei beschränkte sie sich nicht auf eine bestimmte Modebranche. Ihre Entwürfe reichen von Unterwäsche und Nachthemden über
Mäntel und Kostüme bis hin zu Kleidern und Abendmoden. Von diesen Kollektionen sind in großer Anzahl Entwurfszeichnungen erhalten,
dazu einige Modekataloge, in denen Entwürfe von Nellie Fried abgedruckt sind. Außerdem finden sich etliche weitere Zeitungsausschnitte
und dergleichen mit Abbildungen und Schnittmustern; diese können jedoch nur schwer zugeordnet werden, da unsicher ist, ob
es sich ausschließlich um Arbeiten von Nellie Fried handelt oder ob sie diese Materialien nur interessehalber aufgehoben hat.
Zumindest ein Konvolut mit Zeitungsausschnitten, das sie selbst zusammengeheftet hat, scheint Zeichnungen [2/ S. 75:] von ihr zu vereinen, da sich darin ein Druck befindet, von dem der Teilnachlaß einen Originalentwurf bereithält. (Abb. 3 und 4)
Abb. 3. Nellie Fried: [Springende Böcke], Zeichnungsentwurf. ÖLA [2/ S. 76] Abbildung in eigenem Fenster öffnen [37,8KB]
Neben den erwähnten Briefwechseln mit Patentanwälten und Firmen gibt es zwei weitere große Bereiche in der Korrespondenz.
Nach ihrer Flucht nach England versuchte sie von dort aus, ihr Recht auf Wiedergutmachung und Opferentschädigung zu erkämpfen.
Dokumentiert ist das sich über mehr als zehn Jahre erstreckende Hin und Her mit verschiedenen Ämtern und Hilfsfonds. Damit
Nellie Fried überhaupt eine Entschädigung und eine Witwenrente zugesprochen bekam, waren unzählige Erklärungen, Kopien von
Dokumenten (Geburts- und Heiratsurkunden usw.) und Formulare nötig. Dies erwies sich natürlich nicht nur durch den englischen
Wohnsitz als schwierig, sondern auch durch die Tatsache, daß sie beweisen mußte, daß ihr Mann von der Gestapo ermordet worden
war und sie selbst vor den Nazis fliehen mußte. Unterstützt wurde sie bei ihren Bemühungen auch durch ihren Sohn Erich, der
sich mit zwei ›amtlichen‹ Briefen, die als Durchschläge erhalten sind, für seine Eltern einsetzte. Der Großteil der Korrespondenz
wurde aber auch in diesem Fall von Rudolf Hellendall erledigt, mit dem Nellie zu dieser Zeit bereits zusammenwohnte.
Abb. 4. Nellie Fried: [Bockbier-Reklame mit den springenden Böcken], Ausschnitt aus einer nicht identifizierten Zeichnung. ÖLA [2/ S. 76] Abbildung in eigenem Fenster öffnen [61,2KB]
Der andere Bereich sind die Streitigkeiten um die Erbschaft von Nellie Frieds Mutter Malvine Stein, die 1942 ins KZ Theresienstadt,
später nach Auschwitz deportiert und dort ermordet worden war. Um überhaupt als rechtmäßige Erbin anerkannt zu werden, mußte
Nellie Fried ihre Mutter zuerst einmal für tot erklären lassen. Diese Angelegenheit zog sich über mehrere Jahre hin; die letztendlich
ausgestellte Todesurkunde ist auf den 1. März 1957 datiert, also fast 15 Jahre nach Malvine Steins Tod. Darauf folgten noch
weitere Briefwechsel mit verschiedenen Ämtern und Institutionen, bei denen Nellie Fried nun um die eigentliche Erbschaft,
insbesondere um den von den Nazis beschlagnahmten Familienbesitz der Mutter kämpfte. Auch dies dauerte längere Zeit, teils
wegen der von den Behörden geforderten Unterlagen, die nur schwierig zu beschaffen waren, teils durch das Unvermögen des einbezogenen
Notars.
Wie bereits mehrfach angedeutet, war Rudolf Hellendall in Nellies Londoner Zeit ein wichtiger Helfer gerade in behördlichen
Angelegenheiten, obwohl er selbst gar kein ausgebildeter Jurist war (wie er in einem Brief an eine Anwaltskanzlei eigens betont).
In Mönchengladbach geboren und selbst jüdischer Abstammung, war Hellendall noch vor der Machtergreifung der Nazis nach England
ausgewandert. Nellie Fried lebte mit ihm bis zu seinem Tod am 31. Januar 1962 zusammen. So ist es nicht verwunderlich, daß
sie einige Dinge von ihm aufbewahrt hat, so daß man von einem eigenen Krypto-Splitternachlaß [2/ S. 77:] Hellendall sprechen kann. Dieser Bestand umfaßt vorwiegend private Unterlagen und Dokumente, vor allem die üblichen Lebensdokumente
wie Geburtsurkunde und Testament, aber auch eine große Anzahl von privaten Fotografien. Darüber hinaus finden sich persönliche
Korrespondenzen von Hellendall (Feldpost an seine Eltern) und an ihn, aber auch amtliche Briefe und Briefwechsel mit der Anwaltskanzlei
Ellscheid / Nussbaum aus den 40er und 50er Jahren. Zwar geht es in diesem Briefwechsel häufig um den Musterschutz von Nellie
Frieds Patenten, er befaßt sich aber auch mit anderen, oft auch privaten Inhalten.
Des weiteren findet man in Nellie Frieds Sammlung Material, das den (Innen-)Architekten Fritz Landauer betrifft. Bei ihm hat
sie eine Zeitlang gewohnt und wohl auch mit ihm zusammengearbeitet. Dieser Splitternachlaß umfaßt eine Mappe mit Mustern für
Stoffe, Teppiche usw., sowie ein paar Aquarelle und einige geschäftliche Briefe. Fast alle Stücke tragen den Firmenstempel
»Architekt Fritz Landauer« und wurden deshalb einer eigenen Abteilung (Krypto-Splitternachlaß Landauer) zugeordnet.
Auch die zuletzt genannten Bestände wurden nach den Prinzipien der DFG-Richtlinien geordnet. Da es sich hier allerdings nicht
um eine vorwiegend literarische Hinterlassenschaft wie bei Hugo Fried handelt, fällt die Verteilung des Materials auf die
einzelnen Gruppen ganz anders aus. In der Gruppe ›Werke‹ finden sich bei Nellie Fried die Entwurfszeichnungen für Stoffe und
Modekollektionen sowie einige private, teilweise sogar autobiographische Schriften und Zeichnungen. Die Gruppe ›Korrespondenzen‹
ist die umfangreichste, da sie neben einigen privaten Briefen und Postkarten die bereits beschriebenen Briefwechsel mit Anwälten
und Firmen enthält. Wie schon ausgeführt, ist Nellie Fried selten die Briefschreiberin, sondern sie ließ dies von Rudolf Hellendall
oder anderen erledigen. Der dritten Gruppe ›Lebensdokumente‹ wurden sowohl die Geburtsurkunde und der Reisepaß als auch die
Patenturkunden und die sich darauf beziehenden Lizenzverträge zugeordnet. Darüber hinaus wurden in diese Gruppe auch die wenigen
Dokumente gegeben, die sich auf Malvine Stein beziehen, wie z. B. die Todesurkunde, die Nellie Fried von den Behörden erhalten
hatte. In der letzten Gruppe der ›Sammlungen‹ schließlich finden sich von Nellie Fried aufbewahrte Prospekte, Zeitungsausschnitte
und ähnliches. Außerdem sind hier die beiden Splitternachlässe von Rudolf Hellendall und Fritz Landauer eingeordnet, die nochmals
in eine eigene Systematik gebracht wurden (zu Details vgl. die nachgestellte Ordnungssystematik).
[2/ S. 78:] Wenn man sich nur intensiv mit der Geschichte der Familie Fried beschäftigt, kann man ahnen, wie stark Erich Fried von seinen
Eltern beeinflußt worden sein könnte und wie viel er von ihnen (vielleicht unbewußt) übernommen hat. Die Eigenschaft, die
Welt um sich herum kritisch zu betrachten und dies in Form von literarischen Texten auszudrücken, ist bei Vater und Sohn gleichermaßen
vorhanden. Von seiner Mutter übernahm der Sohn wohl vor allem die kämpferische Natur, aber auch den Sinn für Kunst und praktische
Kreativität. Da sie schon in seiner Jugend sein Talent für Schauspielerei und Literatur förderte, trug auch sie wesentlich
zu seiner Entwicklung zum Schriftsteller bei. Auch darf man Erich Frieds schon früh ausgeprägte Lust am Erfinden nicht vergessen
(zur Patentreife vorangetriebene Glühlampenexperimente in den Wiener Jugendjahren und zahlreiche ›Erfindungen‹ auch noch in
späterer Zeit, so z. B. zu Sicherheitsabsätze für Damenschuhe). Dieses biographische Umfeld sollte von der Forschung nicht
vernachlässigt werden, zumal es auch ein besonders düsteres, noch heute virulentes Stück Zeitgeschichte widerspiegelt.
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