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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Home > Rezensionen > Probst: Rez. v. Scheibe, Kleine Schriften z. Editionswissenschaft
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Siegfried Scheibe: Kleine Schriften zur Editionswissenschaft. Berlin: Weidler 1997 (= Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 1), 320 S., ÖS 613,-

Rezension

Rudolf Probst

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2002-05-09
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[2/ S. 214:] Zur nächsten SeiteWer mit Manuskripten zu tun hat, weiß, wie kompliziert der Umgang damit ist. Wie beschreibt man sie? Wie zitiert man ein Manuskript mit handschriftlichen Korrekturen in einem wissenschaftlichen Text? Welche Handschriften sind für eine Publikation beizuziehen? Antworten, Anregungen und Diskussionsbeiträge zu grundsätzlichen und speziellen Problemen der Editionswissenschaft findet man neuerdings in Siegfried Scheibes Aufsatzsammlung »Kleine Schriften zur Editionswissenschaft«, erschienen als erster Band der neuen Reihe »Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft«. Ein Buch, das sich nicht nur für Editoren und Editorinnen eignet, sondern für alle, die mit Handschriften, Typoskripten, Originaldrucken usw. zu tun haben.

Der informative Band vereinigt Scheibes zum Teil bereits publizierte, zum Teil hier erstmals veröffentlichte Beiträge zur Textologie wie die in Editorenkreisen bekannten »Grundlagen der Goethe-Ausgabe« der Akademie der Wissenschaften zu Berlin und die »Editionsprinzipien zu Wielands Briefen«, zwei Editionen, an denen Scheibe selbst mitgewirkt hat.

Zur vorigen Seite [2/ S. 215:] Zur nächsten Seite»Textologie« ist ein Terminus, den Scheibe dem Begriff der Editionswissenschaft vorzieht, weil er weiter gefaßt ist als jener, der die Wissenschaft der Text-Publikation benennt. Scheibe bezeichnet damit die »wissenschaftliche Grundlegung der Editionswissenschaft« (S. 8), die auch »gesellschaftliche Sachverhalte und Umstände in die Untersuchung der dichterischen Werke und ihrer Fassungen, wie auch etwa die Einbeziehung der Handschriftenforschung und die druckanalytische Forschung« (ebd.) aufnimmt. Es ist Scheibe sicher zuzustimmen, wenn er den Begriff der Textologie weiter faßt als den der Editionswissenschaft: Mittlerweile hat sich die wissenschaftliche Untersuchung textgenetischer Prozesse, die unter dem Begriff der Textologie subsumiert werden kann, zu einem eigenständigen Forschungszweig entwickelt, nicht nur in Frankreich, wo die »critique génétique« schon seit längerer Zeit wegweisende Untersuchungen vorgelegt hat, sondern auch im deutschsprachigen Raum. »Textologische« Untersuchungen brauchen nicht immer nur im Hinblick auf eine historisch-kritische Edition eines Werks zu erfolgen; vielfach ergibt die detaillierte Erforschung der Werkentstehung auch neue Erkenntnisse für das Verständnis des betreffenden Werks, die textgenetische Analyse vermag sowohl Analyse wie auch Interpretation des betreffenden Werks zu beeinflußen.

Dessen ungeachtet bleibt für Scheibe nach wie vor die historisch-kritische Edition der Zielpunkt textologischer Forschung. Daß diese Publikationsform nicht nur aus einem schwer lesbaren Variantenverzeichnis in kompliziert aufgebauten Apparaten besteht, wie viele, auch literaturwissenschaftlich Gebildete, meinen, macht der Band deutlich: Im Aufsatz »Zu einigen Grundprinzipien einer historisch-kritischen Ausgabe« umschreibt Scheibe Aufgabe und Bestandteile einer historisch-kritischen Edition. Ihr Ziel bestehe darin, die Textgenese eines Werks vollständig zu dokumentieren. Der edierte Text gibt den Wortlaut einer bestimmten historischen Fassung wieder. Es liegt im Ermessen des Herausgebers, welche der ihm vorliegenden Fassungen abgedruckt und damit »das Werk« repräsentieren soll. Dabei stehen sich die Prinzipien »erster« und »letzter Hand« gegenüber: Soll der Text in der Form abgedruckt werden, wie er in der Zeit gewirkt hat, also in Form des Erstdrucks, oder in Form der Fassung »letzter Hand«, wenn der Autor eine solche hergestellt hat? Daß dies nicht nur bei klassischen Autoren der Fall zu sein braucht, zeigt etwa das Beispiel Dürrenmatts, der für die Gesamtwerkausgabe von 1980 im Diogenes-Verlag die Mehrzahl seiner Texte noch einmal überarbeitet und, insbesondere für seine Dramen, eine »literarisch gültige«, »die dichterische Fassung [...], eine Zusammenfassung verschiedener Versionen« herstellt. Zumal die Textausgaben der früheren Stücke nur schwer greifbar sind, ergibt sich der Umstand, daß wir Lesenden nicht eigentlich die Stücke kennen, wie sie historisch gewirkt haben, sondern in einer vom Autor bereinigten Version. Ein Vergleich nur schon der verschiedenen publizierten Fassungen bringt, besonders bei den bekanntesten Stücken »Die Physiker«, »Romulus der Große« und »Der Besuch der alten Dame«, für das Verständnis der Texte bedeutungsvolle Unterschiede zutage. Scheibe unterstreicht mit Recht, daß es sich bei dieser Frage nicht um eine Disjunktion handeln darf, vielmehr soll die Möglichkeit bestehen, in einer histo-Zur vorigen Seite [2/ S. 216:] Zur nächsten Seiterisch-kritischen Edition mehrere Fassungen desselben Werks integral als edierten Text wiederzugeben, falls sich an den verschiedenen Fassungen Veränderungen der Autorintention feststellen lassen.

Ein Prinzip der historisch-kritischen Editionen besteht nach Scheibe in der Forderung nach »Vollständigkeit in der Aufnahme und Wiedergabe der Texte« (S. 15): vollständige Sichtung aller erhaltenen Handschriften und Drucke, Auswahl der relevanten (d. h. autorisierten) Zeugen, vollständige Verzeichnung sämtlicher Varianten in einem geeigneten Variantenverzeichnis. In der Geschichte der Editionswissenschaft sind verschiedene Modelle und Methoden der Variantenverzeichnung entwickelt worden, wie sie vielfältiger nicht sein könnten. Lobenswert erscheint hier Scheibes Bestreben zur Vereinheitlichung der Apparatmodelle mit sogenannten »editorischen Grundmodellen«, die sich je nach Überlieferungslage und Schaffensweise des Autors modifizieren liessen. Scheibe nennt den Einzelstellenapparat (in lemmatisierter Form oder mit Anschlußwort), der aus der antiken und mittelalterlichen Philologie bekannt ist, den Einblendungsapparat, der variante Stellen im Lauftext in Klammern einbezieht, den Treppenapparat, geeignet für die Darstellung von Texten, die durch wiederholte Sofortkorrekturen erst eigentlich entstehen, und den synoptischen Apparat, der umfangreiche und geschichtete Änderungen wiedergeben kann. In einer historisch-kritischen Edition könnten alle diese Grundmodelle beliebig miteinander kombiniert werden, entscheidend für die Wahl des Apparatmodells seien wiederum Überlieferungslage und Arbeitsweise des zu edierenden Autors.

Neben ediertem Text und Variantenverzeichnis soll eine historisch-kritische Ausgabe auch sämtliche zu einem Werk gehörenden Texte wiedergeben, die nicht unmittelbar Textfassungen des Werks sind, wie Entwürfe, Skizzen, Schemata usw. (sogenannte Paralipomena). Zu ihren Aufgaben gehören ebenso die Beschreibung der Überlieferungslage und die Verzeichnung der einzelnen Textzeugen. Ein Kommentar erläutert zudem sämtliche Sachbezüge des edierten Werks.

Diese Elemente erachtet Scheibe als notwendige Bestandteile einer historisch-kritischen Edition. Je nach Forschungslage zu einem Autor muß sie noch weitere Aufgaben abdecken: Scheibe erwähnt etwa die Entstehungs- und Wirkungsgeschichte eines Werks, die Sammlung und Publikation von Zeugnissen dieser Geschichte(n), Faksimilierung, Katalogisierung der Handschriften und Drucke, eine biographische Übersicht über das Leben des Autors und anderes mehr.

Welche Texte, Fassungen oder Varianten sind nun in einer historisch-kritischen Edition zu berücksichtigen? Scheibe meint, alle autorisierten, d. h. aus der Hand des Autors stammend oder zumindest von ihm veranlaßten Handschriften, Typoskripte, Drucke. Jeder vom Autor stammende Textzeuge repräsentiert für den Autor zu einem gewissen Zeitpunkt »das Werk«, zumindest solange, bis diese Version durch eine neue abgelöst wird, wenn der Autor Änderungen an der betreffenden Version vornimmt. Die veränderte Fassung bildet zum späteren Zeitpunkt wiederum die autorisierte Version des Werks und soZur vorigen Seite [2/ S. 217:] Zur nächsten Seite weiter. Die Autorisation erlischt nach Scheibes Meinung, und dies ist wichtig für Editionen und genetische Untersuchungen, mit dem Tod des Autors. Nach dessen Ableben erlangen die früheren, durch die Ausgabe letzter Hand »ent-autorisierten« Fassungen ihre Geltung und ihre Bedeutung unter wissenschaftlichem Aspekt zurück.

Zu den Stärken von Scheibes »Kleinen Schriften« gehören sicher die griffigen Definitionsvorschläge der editorischen Grundbegriffe »Werk« und »Fassung«, die sich im Umgang mit Manuskripten und Drucken bewähren. »Der Text eines Werks im editorischen Sinn besteht aus den Texten sämtlicher Textfassungen, die im Laufe des Entstehungsprozesses eines Werks vom Autor oder in seinem Auftrag hergestellt worden sind; er spiegelt den gesamten Entstehungsprozeß des Werks wider.« (S. 66) »Textfassungen sind vollendete oder nicht vollendete Ausführungen eines Werkes, die voneinander abweichen. Sie sind durch Textidentität aufeinander beziehbar und durch Textvarianz voneinander unterschieden. Sie sind zu einem konkreten historischen Zeitpunkt entstanden und stellen jeweils innerhalb eines bestimmten Zeitraums für den Autor das Werk dar.« (ebd.) Aus diesen beiden Grunddefinitionen lassen sich die weiteren Begriffe ableiten, etwa die Autor-Autorisation als derjenige Zeitraum, in dem eine bestimmte Textfassung für den Autor das Werk repräsentiert, oder der Textzeuge als der materielle Träger einer oder mehrerer Textfassungen. Die verschiedenen Textversionen auf einem Textzeugen können ihrerseits als Textschichten (Grund- und Änderungsschicht bei einem Zeugen mit einem Änderungsdurchgang) bezeichnet werden. Im Unterschied zu Scheibe könnte man vielleicht vorschlagen, den Begriff der Korrektur, den Scheibe für alle Autoränderungen am Text verwendet, zugunsten des neutraleren der »Änderung« aufzugeben, und Korrektur nur noch im strengeren Sinn der sprachlichen Berichtigung des Textes (Korrektur von Schreib-, Tipp- oder Druckfehlern) zu verwenden. Auf diese Weise ließe sich festlegen, daß Eingriffe des Editors in den edierten Text nur Korrekturen in diesem Sinn betreffen dürften.

In Scheibes »Kleinen Schriften« finden sich nicht nur theoretische Überlegungen zur Editionswissenschaft, er versucht vielmehr auch an einem konkreten Beispiel, Formen des synoptischen Apparats für komplizierte Überlieferungslagen von Prosatexten weiterzuentwickeln. Anders als bei Gedichten, die durch Vers- und Strophenform häufig bereits von Beginn der Textentstehung an eine konkrete Gestalt besitzen, oder bei Dramen, können die Schwierigkeiten der genetischen Wiedergabe bei Prosatexten zunehmen, da es bei ihnen häufig zu großen Änderungen, Umstellungen, Ergänzungen oder Streichungen, kommen kann, die nur schwierig wiederzugeben sind. Scheibe führt dazu die Darstellungsweisen der »Spaltung« ein, d. i. die Anordnung der einander ablösenden Textvarianten nebeneinander, und der »Gabelung«, d. i. die Trennung der Sy-Zur vorigen Seite [2/ S. 218:] nopsis in einzelne aufeinander beziehbare Textteile, die ihrerseits wieder synoptisch verzeichnet werden. Eine Gabelung kann weitere Untergabelungen enthalten. Am Beispiel einer Erzählung aus Franz Fühmanns »Das Judenauto« wird diese Apparatvariante überzeugend veranschaulicht.

Es ist allerdings an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß die Überlieferungslage zu diesem Text Fühmanns keinen speziellen Schwierigkeitsgrad aufweist: In der kurzen Skizze zur Überlieferung zählt Scheibe zwei Handschriften (einen schematischen Entwurf und eine erste Niederschrift), zwei Typoskripte und zwei Durchschläge, einen Vorabdruck in einer Zeitschrift und die Buchpublikation im Erzählband »Das Judenauto« sowie eine Lizenzausgabe des Werks auf, insgesamt knapp hundert Manu- und Typoskriptseiten. Bei zahlreichen modernen Schriftstellern und Schriftstellerinnen präsentiert sich aber die Überlieferungslage weit komplexer. Zum einen haben sich schriftstellerische Arbeitstechniken und -instrumente am Ende des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt, zum anderen hat sich der Umgang der Schriftsteller und Schriftstellerinnen mit ihren Manuskripten nicht zuletzt durch das Wissen um die Existenz von Literaturarchiven im Vergleich zu früheren Generationen grundlegend verändert. Hugo Loetscher etwa stellt sich in einem Beitrag für die Zeitschrift »Quarto« des Schweizerischen Literaturarchivs die Frage: »Was hinterlasse ich?« und stellt anläßlich einer Ausstellung des Schweizerischen Literaturarchivs fest: »Die Hermann-Burger-Ausstellung in der Landesbibliothek hat mein Verhältnis zum Papierkorb verändert. Da habe ich in Vitrinen Notizhefte gesehen, und ich habe wehmütig an das gedacht, was ich während Jahrzehnten weggeworfen habe - ich kam mir literarisch durch Eigenverschulden amputiert vor.« (Quarto 8/1997, S. 7) In Friedrich Dürrenmatts Nachlaß im Schweizerischen Literaturarchiv finden sich zu seiner Autobiographie »Stoffe«, einem zweibändigen Werk von knapp 800 Druckseiten, mehr als 22.000 Manu- und Typoskriptseiten sowie Computerausdrucke in über 400 Textzeugen, diverse Vorabdrucke in Zeitschriften, Publikationen des ersten Bandes in verschiedenen Ausgaben und Auflagen usw. Einer solchen Überlieferungslage ist mit einer herkömmlichen, apparatbasierten historisch-kritischen Edition nicht mehr beizukommen, wenn man am Prinzip der vollständigen Verzeichnung der Textentwicklung festhalten will. Die Beschreibung, Verzeichnung und Wiedergabe umfangreicherer Textgenesen ist wohl entweder nur in einer Auswahl oder mit einer computergestützten Textedition zu bewältigen.

Dennoch sollten die grundsätzlichen editionstheoretischen Überlegungen, die Siegfried Scheibe in seinen »Kleinen Schriften« anstellt, auch weiterhin für moderne Publikationsformen ihre Gültigkeit behalten. Bei einem Fall wie Dürrenmatts »Stoffen« wird man aber nicht darum herum kommen, den Anspruch auf Vollständigkeit bei der Wiedergabe der Textgenese zugunsten einer exemplarischen Auswahl aufzugeben, die allerdings auf der Kenntnis der gesamten Entwicklung basieren muß.

Rudolf Probst

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Rudolf Probst
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