[3/ S. 117:] Die altehrwürdige historisch-kritische Ausgabe (HKA) hat einen neuen, modernisierten Namen erhalten, sie heißt jetzt textgenetische
Edition. Unter diesem Titel jedenfalls wird die HKA im vorliegenden Band der Beihefte zu editio abgehandelt. Die Publikation
versammelt [3/ S. 118:] die Beiträge des Kolloquiums im Deutschen Literaturarchiv in Marbach vom 28. Februar bis 3. März 1995. Es sind vornehmlich
Herausgeber von prestigeträchtigen germanistischen Großunternehmungen, die sich in diesem Band zu Wort melden - und, in der
Tat, mit Ausnahme von Almuth Grésillon, die neben Louis Hay und Jean-Louis Lebrave die französische Critique génétique vertritt,
alles Männer, zum Teil mit mehreren Beiträgen.
In einer ausgewogenen Struktur beleuchtet der Band verschiedene Aspekte des Themas. Eröffnet wird er durch grundsätzliche
Überlegungen zum Verhältnis von textgenetischer Literaturwissenschaft und textgenetischer Edition von Klaus Hurlebusch, der
hier eine erweiterte und überarbeitete Version seines früheren, grundlegenden Aufsatzes »Deutungen literarischer Arbeitsweisen«
vorlegt. Almuth Grésillon gibt einen Überblick über die Bestrebungen der französischen Critique génétique, die sie von der
deutschsprachigen Philologietradition abgrenzt. Louis Hay skizziert eine ideale genetische Edition aus der Rezeptionsperspektive
und Hans Zeller fordert eine Faksimile-Ausgabe als Grundlagenedition für Philologie und Textgenetik, einerseits für die Philologen
zur Dokumentation des editorischen Befunds, andererseits für die Genetiker »zum Studium der Handschrift, des Originals« (S.
90). Zeller sieht in der Faksimile-Ausgabe eine moderne Editionsform in Hinblick auf historisch-kritische Ausgaben, die dann
»von der Verpflichtung zur Darstellung des Befunds ganz oder weitgehend« (S. 89) entbunden werden könnten.
Der zweite Teil des Bandes ist der Konzeption und Einrichtung textgenetischer Ausgaben gewidmet: Gunter Martens benennt Möglichkeiten
und Grenzen der genetischen Darstellung in einem Überblick über be- oder entstehende historisch-kritische Ausgaben, Ulrich
Bubrowski schildert die Schwierigkeiten, die ›editorischen Schach- und Winkelzüge‹ beim Versuch, komplexe Textentstehungsprozesse
wie im Fall von Ernst Barlach editorisch adäquat wiederzugeben. Hans Zeller vergleicht die Georg Heym-Ausgabe mit seiner Conrad
Ferdinand Meyer-Edition in Hinblick auf die jeweilige Dosierung von editorischem Befund und dessen Deutung und konstatiert,
daß die Heym-Editoren den Befund interpretativ wesentlich zurückhaltender deuten als dies in der Meyer-Ausgabe der Fall ist.
Obwohl Zeller selbst den Unterschied aus der Differenz der Arbeitsweisen und Textauffassungen der beiden Autoren herzuleiten
sucht, ließe sich hier seine Frage, ob größere editorische Zurückhaltung nicht einen »Generationen- oder Paradigmenwechsel«
in der editorischen Praxis markiert, wohl auch positiv beantworten. Im nächsten Beitrag zeigt Hermann Zwerschina überzeugend
die Grenzen der synoptischen Darstellung bei [3/ S. 119:] großer Textvarianz auf: Er ist der Meinung, die synoptische Darstellungsweise zwinge den Benützer historisch-kritischer Editionen,
»Textzustände zusammen zu lesen, die zu verschiedenen Zeitpunkten konzipiert wurden« (S. 181), und sie führe zu einer »Vermischung
verschiedener Textzustände« (ebd.). Aus diesem Grund votiert Zwerschina dafür, die Textstufe, das heißt die konkrete Textgestalt
zu einem bestimmten Zeitpunkt, zur editorischen Einheit zu machen. Ein handschriftlich geändertes Typoskript besteht demnach
aus mindestens zwei Textstufen: der maschinschriftlichen Grundschicht und der Kombination von Grundschicht mit den ausgeführten
handschriftlichen Änderungen, wenn diese in ›einer‹ Arbeitsphase vorgenommen worden sind, ansonsten bildet jede neue Arbeitsphase
eine je eigene Textstufe. In Zwerschinas Trakl-Edition wird bei großer Textvarianz jede Textstufe integral ediert. Mit seinen
Vorbehalten gegenüber überstrapazierten synoptischen Darstellungen nimmt Zwerschina zu Recht einen Einwand von Grésillon im
selben Band auf, die betont, daß synoptische Darstellungsmodelle versuchen, »eine dritte Dimension, nämlich die Zeit, die
der sukzessiven Schichten des Schreibprozesses, in den zweidimensionalen Raum von Buchseiten zu zwängen« (S. 54). Komplexere
Textentstehungsprozesse, insbesondere etwa solche von Prosatexten, lassen sich nur schwer mit einer synoptischen Darstellungsweise
edieren, setzt diese doch immer einen relativ konstanten Referenztext in bezug auf Umfang und Struktur voraus.
Der dritte Teil beleuchtet spezielle Aspekte textgenetischer Darstellungen wie das Problem der Verszählung und der versübergreifenden
Korrekturzusammenhänge bei Georg Heym (Gunter Martens), das der Zeilenzählung in der Bonner Celan-Ausgabe (Rolf Bücher). Bei
beiden Autoren geht es letztlich um die Schwierigkeit, wie in synoptischen Darstellungen Gedichtfassungen mit unterschiedlicher
Anzahl von Versen aufeinander bezogen werden können, was traditionell durch den Verszähler geleistet wurde, wenn man an der
grundsätzlich richtigen Einsicht festhalten will, daß »jede Fassung einen eigenen syntagmatischen Zusammenhang bildet« (Martens,
S. 200), der auch durch einen eigenen Verszähler ausgewiesen werden soll, was bereits Zeller in seiner Meyer-Ausgabe vorgemacht
hat.
Des weiteren finden sich Berichte über die genetische Variantendarstellung in der historisch-kritischen Droste-Ausgabe (Bodo
Plachta), sowie eine abschließende Darstellung von Textunsicherheiten und nicht eindeutigen Befunden in antiken, mittelalterlichen
und neuzeitlichen Handschriften und Drucken (Winfried Woesler).
Nur zwei Beiträge enthält der vierte Teil zu genetischen Darstellungen von Prosatexten, die sich noch immer als Crux historisch-kriti- [3/ S. 120:] scher Editionen zu erweisen scheinen: Siegfried Scheibes Vorschlag einer Variantendarstellung von Prosawerken bei komplizierten
Arbeitsweisen und Überlieferungslagen und Harry Fröhlichs Darstellung von Problemen und Lösungsversuchen der Eichendorff-Edition.
Im letzten Teil schließlich weist Hans Walter Gabler auf Vorteile der computergestützten Edition mit dem Tübinger System TUSTEP
hin, und Jean-Louis Lebrave zeigt überzeugende Möglichkeiten einer Hypertext-Edition von genetischem Material am Beispiel
von Gustave Flauberts »Hérodias« auf, die mit dem Mac-Programm Hypercard realisiert worden ist. In editorischen (und literaturwissenschaftlichen)
Kreisen sind mittlerweile die Vorteile einer computerbasierten Edition, sei es als reine CD-ROM-Ausgabe oder als Hybrid-Edition
wie im Fall von Walter Morgenthalers historisch-kritischer Gottfried Keller-Edition in Kombination mit der Hardware ›Buch‹,
erkannt und akzeptiert. Daß die Zukunft von historisch-kritischen und genetischen Editionen in der Hypertext-Aufbereitung
des Materials liegt, ist wohl unbestritten.
Der gesamte Band macht deutlich, daß es in der Editionspraxis zwei grundsätzlich verschiedene Standpunkte gibt, wie die Herausgeber
in ihrem Vorwort betonen: Auf der einen Seite die Editoren, die »in der Tradition der klassisch-romantischen Ästhetik mit
dem Hauptbegriff des Kunstwerks als eines Organismus« (S. 1) stehen und die Genese eines Kunstwerks teleologisch als Wachstum
auffassen. Nicht zu Unrecht zählen die Herausgeber jene Editoren zu diesem Lager, »für die die editorische Aufbereitung der
Überlieferung in der Konstituierung eines Haupttextes gipfelt, der als Bezugstext für die Variantendarstellung dient« (ebd.).
Auf der anderen Seite stehen jene, die versuchen, jede Phase innerhalb eines Textentstehungsprozesses »in ihrem Eigenwert«
(ebd.) zu erfassen, mithin die einzelnen Textdokumente nicht als provisorische Zwischenstufe in einer linearen, zielgerichteten
Entfaltung begreifen, sondern die je eigene Textstufe als zeitweilige Verwirklichung des ›Werks‹ verstehen. Zu dieser Richtung
gehören die Vertreterinnen und die Vertreter der Critique génétique.
Obwohl in einzelnen Beiträgen am Rand thematisiert, läßt der Band eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit der nur scheinbar
trivialen Frage vermissen, die Roland Reuß jüngst aufgeworfen hat: »Warum und zu welchem Ende interessiert sich die Literatur-
und speziell die Editionswissenschaft für ›Textgenese‹?« (Text. Kritische Beiträge H. 5, 1999, S. 1) - eine Frage, die wohl
von Fall zu Fall neu - und wohl auch immer wieder anders zu beantworten wäre. Dazu - als Exkurs - noch folgende Überlegung,
die skizzieren soll, daß es kein ultimatives editorisches Modell geben kann: Ein Überblick über die Editionsge- [3/ S. 121:] schichte weist ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis von drei Faktoren nach, die für eine wissenschaftliche Edition
von Bedeutung sind: (1) Textauffassung und Textproduktion der Schreibenden, (2) Überlieferungslage von Textzeugen und (3)
die diesen beiden Faktoren adäquaten editorischen Grundsätze. Die Textauffassung eines Autors bedingt seine Textproduktion;
diese bestimmt die Überlieferungslage, die ihrerseits die ihr angemessenen editorischen Prinzipien erfordert. Das Verhältnis
dieser drei Faktoren zueinander hat sich im Lauf der Zeit grundsätzlich verlagert, was ein grob schematisierter Überblick
vielleicht deutlich machen kann: Aus der Antike und dem Mittelalter sind, im deutschen Sprachraum zumindest, zwar Handschriften
(Abschriften), aber keine eigentlichen Autographen überliefert, ein Umstand, der die Konjektural-Editorik des 19. Jahrhunderts
eines Karl Lachmann hervorgebracht hat. Dieser Editionsmethode geht es darum, auf der Basis einer eingehenden Überlieferungskritik
einen möglichst authentischen Text überhaupt erst herzustellen. Die Grundsätze dieser Editionsmethode sind, wie zu Recht eingewendet
wurde, nur sehr bedingt auf die Gegebenheiten späterer Zeiten übertragbar.
Aus der frühen Neuzeit bis zum 18. Jahrhundert sind autorisierte Textzeugen in Form von Erstdrucken, zum Teil auch in Form
von Autorhandschriften überliefert. Vielfach haben die Autoren und Verlage aber nach der Publikation die handschriftlichen
Druckvorlagen vernichtet, was mit dem korrespondiert, was ›organisch-teleologische‹ Textauffassung genannt werden könnte.
Auch diese Textauffassung, in der das Endprodukt im Hegelschen dreifachen Sinn des Aufhebens seine Vorstufen in sich aufgenommen
und diese als überwundene überflüssig gemacht hat, findet die ihr angemessene Editionsmethode in der Editorik des frühen 20.
Jahrhunderts, der es darum geht, einen verläßlichen, sicheren, ja, den ›authentischen‹ Text herzustellen.
Die Problematik von Fassungen erster und letzter Hand, insbesondere der Klassiker des 18. und 19. Jahrhunderts, sensibilisiert
die Editoren im deutschsprachigen Raum im 20. Jahrhundert für textgenetische Prozesse. Die Frage, ob Goethes Ausgabe letzter
Hand oder die Erstdrucke seiner Werke, ob Kellers erste Fassung des »Grünen Heinrich« oder die zweite nun die ›authentische‹
sei, ist nicht zu beantworten, da sowohl die erste publizierte Version als historisch wirksame Geltung beanspruchen darf,
wie auch die Ausgabe letzter Hand als die letzte vom Autor gewollte Version.
Diese Beobachtungen betreffen vorwiegend die rezeptionsästhetische Seite literarischer Schaffensprozesse. Im 20. Jahrhundert
kommt zusätzlich eine Veränderung auf produktionsästhetischer Seite hinzu: [3/ S. 122:] Das Verhältnis vieler Schriftstellerinnen und Schriftsteller zu ihrem ›Text‹ verändert sich. Ein Text erscheint häufig nicht
mehr als abschließbares Produkt eines Schreibprozesses: Robert Musils »Mann ohne Eigenschaften« und Ingeborg Bachmanns »Todesartenprojekt«
seien als Beispiele für (prinzipiell?) nicht-abschließbare Texte erwähnt. Die Autoren interessieren sich zunehmend für die
Art, wie ein Text entsteht und machen, wie Friedrich Dürrenmatt in seiner Autobiographie »Stoffe«, den Entstehungsprozeß mithin
auch zum Gegenstand ihrer literarischen Arbeit.
Möglicherweise erfordert dieses moderne, prozeßhafte Dichtungsverständnis auch neue Editionsmodelle, die die zweidimensionale
Darstellung eines dreidimensionalen Vorgangs in der Zeit, wie sie historisch-kritische Ausgaben mit ihren synoptischen Apparaten,
Siglen und diakritischen Zeichen umständlich zu leisten versuchen, adäquater wiedergeben können.
Rudolf Probst
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