[2/ S. 207:] »Dem Archiv verschrieben« ist der Titel eines - fast erwartungsgemäß - eigenwillig anregenden Buches von Jacques Derrida.
Der Untertitel ist dem Titel, genaugenommen, graphisch eingeschrieben: »Dem Archiv / Eine Freudsche Impression / verschrieben«
(Schrägstriche bezeichnen Zeilensprünge). Mehr als eine Spielerei?
»Der vom Verleger stammende Titelvorschlag [...] kam [...] in seiner Wirkung einem Schnitt durch den gordischen Knoten gleich«
(S. 8), erklären die Übersetzer vorab. Der französische Titel »Mal d’Archive« nämlich ist überaus vieldeutig. Schon der Begriff
»mal« - Mühe, Weh, Leid, das Übel, das Böse - kann nämlich einerseits im genitivus subiectivus wie auch obiectivus mit dem
des Archivs verbunden sein, also ein dem Archiv inhärentes Übel oder gar das Archiv selbst als Übel bezeichnen, andererseits
auch - wie etwa in »mal de pays« - auf eine Sehnsucht, ein Begehren hinweisen, womit sich die Verquickung mit der Psychoanalyse
schon aus dem Haupttitel ergibt. Ferner verweist das Wort »archive« - seit dem 16. Jahrhundert kennt das Französische nur
noch die Pluralform »archives« - auf Michel Foucault und seine Rehabilitierung des Singulars.
»Nichts ist weniger sicher, nichts weniger eindeutig heute als das Wort Archiv« (S. 159) und nichts »trüber und verwirrender
heute als der in diesem Wort Archiv archivierte Begriff« (S. 160), wie Derrida noch gegen Ende des Bandes gesteht. Den Anfang
bildet eine Genealogie der historischen, genauer: der griechischen Sinnzuschreibungen. In der Polis wurden die offiziellen
Dokumente im »Archaion« aufbewahrt, dem Wohnsitz der Archonten, höherer Beamte also, denen man zugleich »das Recht und die
Kompetenz der Auslegung« zuerkannte, »die Macht, die Archive zu interpretieren«. (S. 11) Diese »Überkreuzung des Topologischen
und Nomologischen« (S. 12) ist nach Derrida charakteristisch für die archontische Aufgabe. Zudem vereint die archontische
Macht »auch die Funktionen der Vereinheitlichung, der Identifikation und der Einordnung« (S. 12f.), übt »im Versammeln der
Zeichen« »Konsignationsmacht« aus - mit einer schwerwiegenden Folge: »Die Konsignation strebt an, ein einziges Korpus zu einem
System oder zu einer Synthese zusammenzufügen, in dem alle Elemente die Einheit einer idealen Konfiguration bilden«. (S. 13)
In den folgenden, systematisch orientierten »Exerga« finden sich erste definitorische Festlegungen: »Kein Archiv ohne einen
Ort der Konsignation, ohne eine Technik der Wiederholung und ohne eine gewisse Äußerlichkeit. Kein Archiv ohne Draußen« (S.
25), wobei »Draußen« einen »externen Träger« (S. 19) meint. Genau hier kommt nach Derrida die Psychoanalyse ins Spiel: »Wenn
es kein Archiv gibt ohne Konsignation an irgendeinem äußeren Ort, der die Möglichkeit der Memorisierung, der Wiederholung,
der Reproduktion oder der Re-impression sicherstellt, so sollten wir uns zudem in Erinnerung rufen, daß die Wiederholung selbst,
die Logik der Wiederholung, ja der Wiederholungszwang nach Freud untrennbar bleibt vom Todestrieb. Also von Destruktion«.
(S. 25f.) [2/ S. 208:] Und damit ist das »mal d’archive« festgestellt: »Der Todestrieb [...] bedroht [...] jede Prinzipalität, jedes archontische
Primat, jedes Begehren nach einem Archiv. Wir werden dem später den zusätzlichen Namen le mal d’archive, ›das Archivübel‹,
geben«. (S. 26) Man erinnert sich sofort an die Erkenntnis, die Robert Musil - im 100. (!) Kapitel seines Romans »Der Mann
ohne Eigenschaften« - den vom Besuch der Hofbibliothek zurückkehrenden General Stumm machen läßt: »Irgendwie geht Ordnung
in das Bedürfnis nach Totschlag über«.
Ausführlich legt Derrida in einem weiteren Schritt dar, daß Freud mit dem »technische[n] Modell des Geräts, das [...] dafür
bestimmt war, das Gedächtnis als interne Archivierung draußen vorzustellen« (S. 28f.), also mit dem Wunderblock, der bei genauem
Hinsehen eben doch Spuren des Aufgezeichneten auch noch nach dem Löschen verwahrt, nicht nur ein »archivarische[s] Modell
des psychischen Apparats« (S. 38) geliefert hat, sondern eine »Theorie des Archivs« (S. 39), eines Archivs »innerhalb der
psyché« allerdings, eines »psychischen, vom spontanen Gedächtnis unterschiedenen Archivs«. (ebd.)
Entscheidend ist die Interdependenz zwischen (innerpsychischem wie auch jeglichem anderen) Archiv und seinem Inhalt: »Die
technische Struktur des archivierenden Archivs bestimmt auch die Struktur des archivierbaren Inhalts schon in seiner Entstehung
[...]. Die Archivierung bringt das Ereignis in gleichem Maße hervor, wie sie es aufzeichnet. Das ist auch unsere politische
Erfahrung mit den sogenannten Informationsmedien«. (S. 35) Und ausdrücklich mit Blick auf die »in Gang befindliche grenzenlose
Umwälzung der Archivtechnik« warnt Derrida: »Man erlebt nicht mehr in derselben Weise, was sich nicht mehr auf dieselbe Weise
archivieren läßt. Der archvierbare Sinn läßt sich ebenfalls und vorab von der archivierenden Struktur mitbestimmen«. (S. 38)
Was in dem zentralen Kapitel »Vorrede« folgt, ist eine ausführliche, ja ausufernde Auseinandersetzung mit der Freud-Interpretation
von Yosef Hayim Yerushalmi (Freud’s Moses. Judaism terminable and interminable. New Haven, London: Yale University Press 1991),
ein faszinierender Umweg, der sich über weite Strecken allerdings sehr vom ursprünglichen Thema zu entfernen scheint. Wichtig
dabei sind Überlegungen zum »transgenerationalen Archiv (die Erinnerung einer auf die Vorfahren zurückgehenden Erfahrung oder
die sogenannte biologisch erworbene Eigenschaft)« (S. 64) und zur spezifisch psychoanalytischen Frage nach den Archiven der
Verdrängung. Gegen Yerushalmis Annahme eines »Widerspruch[s] zwischen dem Gedächtnis- oder Archivierungsakt auf der einen
und der Verdrängung auf der anderen Seite« statuiert Derrida rhetorisch: »Als ob man nicht eben genau das, was man verdrängt,
erinnern und archivieren könne, es archivieren könne, indem man es verdrängt (denn Verdrängung ist eine Archivierung), das
heißt anders archivieren, das Archiv verdrängen, indem man die Verdrängung archiviert; anders, gewiß, und darin liegt das
ganze Problem, als nach den Weisen der geläufigen, bewußten, anerkannten Archivierung«. (S. 116)
Eine Theorie einer »anderen« Archivierung hat Derrida nicht entwickelt. Seine schillernden Ausführungen reflektieren vielmehr
eine geistige Befindlichkeit. »Dem Archiv verschrieben« ist ein durch und durch die Geschichtsvergessen- [2/ S. 209:] heit der Moderne vergessen machendes, ein postmodernes, poststrukturalistisches, neohistoristisches Buch. War schon Foucault
nicht mehr »so sehr an den formalen Möglichkeiten eines Systems wie der Sprache interessiert«, sondern an der »Existenz der
Diskurse« und daran, »daß sie Spuren hinterlassen haben, daß sie fortbestehen und mit ihrem Fortbestand innerhalb der Geschichte
eine Reihe von manifesten oder verborgenen Wirkungen ausüben« (Raymond Bellour / Michel Foucault: Über verschiedene Arten
Geschichte zu schreiben. In: Antworten der Strukturalisten. Hg. von Adelbert Reif. Hamburg: Hoffmann und Campe 1973, S. 169),
so geht der von Berkeley sich ausbreitende New Historicism mit der viel zitierten »Formel« von Louis Montrose noch einen Schritt
weiter: »Die poststrukturalistische Ausrichtung auf Geschichte [...] kann mit einem Chiasmus bezeichnet werden als ein reziprokes
Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von Geschichte« (Louis Montrose: Die Renaissance behaupten.
Poetik und Politik der Kultur. In: New Historicism - Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Hg. von Moritz Bassler. Frankfurt
/ Main: Fischer-Taschenbuch-Verlag 1995 [= Fischer-Taschenbücher 11589: Fischer Wissenschaft], S. 67). Mit dem Vertextungsproblem
von Geschichte aber kommt das Archiv ins Spiel als Ort des »texte général«, des textuellen Universums, jenseits dessen nach
poststrukturalistischer Auffassung nichts zu suchen ist, hinter dem es nichts gibt. Die Frage nach Nutzen und Nachteil der
Historie fürs Leben wird neu zu stellen sein.
Wilhelm Hemecker
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