Nach wie vor gibt es sie nicht: ›die‹ österreichische Literaturgeschichte, oder, genauer: ›die‹ Geschichte der österreichischen
Literatur auf literaturwissenschaftlicher Basis. Seit den einigermaßen angestaubten, nichtsdestotrotz vom Materialreichtum
her noch immer ergiebigen vier Bänden von Nagl/Zeidler/Castle (1899–1937) geistert sie als vielbeschworenes Desiderat durch
die einschlägigen Vortrags-, Kongreß- und Publikationsprodukte, bislang (mit Ausnahme von Herbert Zemans Unternehmungen[1] mit ihren qualitativ höchst unterschiedlichen Beiträgen) ebensowenig realisiert wie ein aktuelles umfassendes bio-bibliographisches
Lexikon (bis auf die Lebend-Aufnahmen im »Katalog-Lexikon« der IG AutorInnen von 1995[2]). Erschienen sind immerhin zwei vorbereitende Bände zum Mammutprojekt einer österreichischen Literaturgeschichte: »Die einen
raus – die anderen rein« (1994)[3] und »Literaturgeschichte: Österreich« (1995)[4]. Zwei der Herausgeber, Wendelin Schmidt-Dengler und Klaus Zeyringer, haben allerdings Fast-Literaturgeschichten vorgelegt,
Vorlesungstexte bzw. synthetisierte Aufsatzsammlungen, die Materialien und Interpretationen zur österreichischen Literaturgeschichte
nach 1945 anbieten.
Die Titelspezifizierungen bei Schmidt-Dengler und Zeyringer indizieren bereits die Ausrichtung ihres Vorgehens: Waren es bei
ersterem 1995 noch »Bruchlinien«, so nobilitieren Zeyringers »Überblicke, Einschnitte, Wegmarken« die Ausschnitthaftigkeit,
Standortgebundenheit und fehlende Gewichtung zur engagierten, lebendigen Auseinandersetzung mit dem komplexen Feld – einer
bekanntermaßen unübersichtlichen, chaotischen Aggregation von literarhistorischen Daten, individueller Werkgenese und intertextuellen
Einflüssen, Einzelbiographien, Motivkomplexen und sozialhistorischer Kontextualisierung. Was sich bei den nicht primär für
den Druck konzipierten Vorlesungen Schmidt-Denglers als nachvollziehbar darstellt, ist in Zeyringers Buch, das ja im Haupttitel
eine Darstellung der gesamten österreichischen Literatur nach 1945 erwarten läßt, problematischer: Wenn sich das intendierte
›Fenster‹ auf den Objektbereich als ein möglicher, subjektiver Interpretationsversuch allzusehr der Polemik verschreibt und
persönlichen Vorlieben und Abneigungen verhaftet bleibt, verschwimmt die Grenze zwischen Literaturkritik und Literaturwissenschaft
vollends, werden die methodologischen Probleme der Literaturgeschichtsschreibung vorschnell im scheinbar praktikablen Ausweg
der Subjektpositionierung aufgelöst. Der Anspruch der Unternehmung Literaturgeschichte liegt demgegenüber in der Hoffnung
auf annähernde Vollständigkeit des Erwähnenswerten, in der Kanonbildung in bezug auf Autorenselektion und Berücksichtigungsausmaß
möglichst aufgrund explizierter Kriterien, in der zusammenhängenden Narration von kausal vernetzten Entwicklungslinien und
im Bemühen um objektive Distanz und eine unvoreingenommene Würdigung der Texte und ihrer Urheber, wobei es die wissenschaftliche
Redlichkeit traditionell gebietet, die unvermeidliche Standortgebundenheit des Interpreten durch selbstreflexive Fallibilitätssignale
und die Offenlegung ästhetischer Prämissen einer rationalen Diskursivität zugänglich zu machen. Zeyringer offeriert in seinem
dickleibigen Band zwar den beliebten Bescheidenheitstopos eines perspektiviert-subjektiven Diskussionsbeitrags (selbstverständlich
mit wissenschaftlichem Anspruch), seine Argumentationslinie entbehrt aber einer (selbst)kritischen Metaebene. Identifikatorische
Beweihräucherungen und polemische Verrisse (von den »Traditionalisten« bis zu den stromlinienförmigen Marktschreibern und
Kitschisten) werden wortmächtig auf einem kulinarisch belegten Serviertablett österreichischer Gegenwartsliteratur drapiert
und arrangiert, bereit für einen im Selbstverständnis kritischen Zugriff, der sich an einem bisweilen kabarettistischen Begriffs-
und Bewertungsarsenal delektiert.
Die inhaltliche Verflachung und der Verrat an den Konstitutionsbedingungen ästhetischer Qualität durch die Ausrichtung an
kommerziellem Erfolg und medialer Aufmerksamkeit, die Zeyringer (zu Recht) Autoren wie Josef Haslinger, Michael Köhlmeier
oder Robert Schneider vorwirft – gelten sie nicht auch als möglicher Vorwurf gegenüber der speziellen Textsorte der literarhistorischen
›Erzählung‹, wenn sie sich dem Sog der verführenden Metapher oder dem gelungenen ›Sager‹ überantwortet? Schon die Zwischenüberschriften
fungieren als ›Appetizer‹; da wird mit Begriffspreziosität werbewirksam Aufmerksamkeit erheischt, wenn im Inhaltsverzeichnis
folgende Abschnitte angekündigt werden: »Verschiedene Wege auf dem Boden der Ambivalenz / Erhebende und niederschmetternde
Sprachkunde / Wortkarawanen durchs Arbeitszimmer / Text-Landschaft / Dichtung allfach / Symbolische Ordnungsstätten / Was
bisher geschah – Störaktionen, Erledigungen / Schlachten-Simulationen, Schein-Absolutionen, Raststätten-Perversionen, Sport-Kriege
/ Der Doppeladler im Pissoir / Bruch-Stücke des Ersprechens / Ich-Seiten-Wechsel / Sprach-Körper-Terrain, mehrfach / Wild-Alpen
/ Die ganze Welt ist ein doppelbödiger Fußboden / Verschachtelte Ansichten, schwankender Grund / Welten-Risse und Stimmen-Vielfalt
/ Zwischen(t)räume, unterschiedlich / 1995: Gruppenbild mit Buchmesse / Neue Dorfgeschichte(n)«. Nun sind aber gerade die
drei (für diesen Band neu verfaßten) Kapitel, die von solch modischer, Sloterdijk & Co. abgeschauter Header-Segmentierung
zeugen, im Haupttext großteils von erhellender Differenziertheit. Die Lyrik-Interpretationen zu Franz Josef Czernin, Ernst
Jandl, Ferdinand Schmatz, die Dramenanalysen zu Werner Schwab oder Peter Turrini, die Prosa-Erläuterungen zu Alois Hotschnig,
Elisabeth Reichart, Robert Schindel oder Raoul Schrott erleichtern dem literarhistorisch interessierten Leser durchaus den
Erstzugang. Bei anderen Autoren hingegen, wie bei Elfriede Jelinek, sind quantitative und qualitative Verkürzungen zu verzeichnen,
die dem methodischen Zugang geschuldet sind: Die ideologiekritisch-sozialhistorische Perspektivierung rückt die politischen
Aussagedimensionen der Texte so massiv ins Blickfeld, daß die sprachästhetische Konstruktion demgegenüber wenig Berücksichtigung
findet. Zudem gilt Zeyringer der Erfolg im Literaturbetrieb als mögliches Anzeichen eines opportunistischen Arrangierens und
wird der Textqualität negativ verrechnet, so etwa bei Jelineks »Sportstück«, bei dem »hinter den zornigen Registern, die gezogen
werden«, »zunehmend ein selbstironischer Mimikry, eine Massenphänomen-Analysen-Koketterie gepaart mit Antiken-Pose zum Vorschein«
komme (S. 338). Den besonderen Ingrimm des Verfassers erregt die attestierte Tendenz der ehemaligen »Avantgardisten«, sich
in unverhohlener Selbststilisierung ein Denkmal zu Lebzeiten schaffen zu wollen und – sich mit den (ehemaligen) Verdiensten
brüstend – Machtpositionen im Literaturbetrieb einzunehmen, die durch diverse politische oder universitäre Cliquen zementiert
würden. Besonders deutlich wird dies im Ergänzungskapitel zur jüngsten österreichischen Literatur in der gegenüber der (1999
unter dem Titel »Österreichische Literatur 1945 – 1998« erschienenen) Erstausgabe korrigierten Neuauflage. Gestützt auf einige
Kategorien der Kunstsoziologie Pierre Bourdieus ist da beispielsweise gemünzt auf die Altvorderen der »Grazer Gruppe« die
Rede von »Ritualen des Abfeierns und des Wallfahrens«, werden »Gründungsmythen, Sakralisierungen und intensive Selbsthistorisierungen«
verzeichnet. Der »entsprechende Diskurs« sei dann »jener der Laudatio sowie des Ausschlusses, der Claqueure sowie der manischen
Faschismus-Rufer«. Der Vorwurf an Autorinnen und Autoren, ein »Gewohnheitsrecht vormaliger ›Progressivität‹« in Anspruch zu
nehmen, bildet dann wiederum die Hintergrundfolie für die Beurteilung der Textqualität, so z. B. für Helmut Eisendle, »eines
vorgeblichen denkerischen Überfliegers« dessen neuer Text, ein »Zitatensalat«, geprägt sei von »Intellektualitäts-Kitsch«
und »Platitüden« (S. 597f.).
Auch wenn Zeyringer seine jeweiligen Verrisse mit Textbeispielen argumentativ zu untermauern sucht, bleibt die Vorgangsweise
– nämlich der denunziatorische Rückschluß von einer Autorenperson, ihren vermeintlichen sozialen Rollen und Gruppenzugehörigkeiten
auf den Text – insgesamt problematisch, ganz abgesehen vom Erkenntnisstatus solcher Aussagen, die ja selbst mit dem Gestus
einer selbstherrlichen Richterpose formuliert werden und als Textsorte der literaturkritisch-publizistischen Polemik zuzurechnen
sind.
Der Eindruck, daß die kritische Selbstreflexion nicht immer bis zu ihrem möglichen Endpunkt vorangetrieben wurde, verstärkt
sich etwa in der merkwürdig positiv-identifikatorischen Darstellung von Walter Gronds Schlüsselroman »Der Soldat und das Schöne«,
der die »ästhetisch gelungen gestaltete und radikale literarische Schilderung aus den Tiefen eines zynischen aktuellen Kunstbetriebes«
liefere. (S. 484) Der Beurteilung von Gronds hagiographischer Passions-Erzählung über seine Zeit als Grazer »Forum«-Präsident,
die mit ganz massiven Opfer-Stilisierungen operiert, hätte die sonstige Sensibilität gegenüber Sakralisierungs-Mythen ganz
gut getan – vorausgesetzt, daß eine Referentialität dieses »Romans« auf historische Realität überhaupt zugrunde gelegt werden
kann.
Trotz dieser kritischen Anmerkungen muß insgesamt festgehalten werden, daß Zeyringers launige Aufsatz-Kompilation zumindest
eine anregende und diskussionsfördernde Lektüre verspricht. Insbesondere bei Autoren, die noch kaum Eingang in den germanistischen
Kanon vielbeforschter heimischer Gegenwartsautoren gefunden haben – so etwa bei Czernin, Paulus Hochgatterer, Werner Kofler
oder Schmatz –, bieten die Analysen und kritischen Anmerkungen praktikable Hilfestellungen oder verweisen auf zu entdeckende
Texte. Zudem unterschreitet die Argumentation trotz der offensichtlichen Eigendynamik der Lust an der polemischen Formulierung
nur selten ein gewisses intellektuelles Reflexionsniveau. Insofern schließt Zeyringers Band eine Lücke zwischen den fachwissenschaftlichen
Einzelstudien und den Literaturgeschichte-Appendices oder verstreuten Überblicksartikeln zur österreichischen Gegenwartsliteratur,
eine großangelegte literaturwissenschaftliche Gesamtdarstellung steht aber nach wie vor aus.
Gerhard Fuchs
ANMERKUNGEN
1]
Vgl. u.a. das von Herbert Zeman herausgegebene mehrbändige Werk »Die österreichische Literatur« (Graz: Akademische Druck-
und Verlagsanstalt 1979ff).
2]
Katalog-Lexikon zur österreichischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Wien: IG Autoren – Autorensoli-darität 1995.
3]
Wendelin Schmidt-Dengler / Johann Sonnleitner / Klaus Zeyringer (Hg.): Die einen raus – die anderen rein. Kanon und Literatur:
Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte Österreichs. Berlin: Schmidt 1994 (= Philologische Studien und Quellen, 128).
4]
Wendelin Schmidt-Dengler / Johann Sonnleitner / Klaus Zeyringer (Hg.): Literaturgeschichte: Österreich. Prolegomena und Fallstudien.
Berlin: Schmidt 1995 (= Philologische Studien und Quellen, 132).
|
|