|  [1/ S. 168:]  Es gibt eine Leerstelle zwischen monographischen Arbeiten zu vergessenen oder verdrängten Autoren der ersten Jahrzehnte dieses
                           Jahrhunderts und einer Theorie der literarischen Moderne, die sich an einem Kanon »großer Namen« (z. B. Tiermann Broch, Franz
                           Kafka, Karl Kraus und Robert Musil) orientiert. Das vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung finanzierte Forschungsprojekt
                           widmet sich in erster Linie Autoren, die dem österreichischen Expressionismus oder der vergessenen Avantgarde zugeordnet werden.
                           Das seit 15. März 1997 laufende Projekt steht unter der Leitung von Dr. Bernhard Fetz und wird von dem Projektleiter gemeinsam
                           mit Dr. Gisela Steinlechner durchgeführt. Ausgehend von den in exemplarischen Textanalysen gewonnenen Einsichten sollen in
                           einem zweiten Arbeitsschritt avancierte Positionen der österreichischen Literatur nach 1945 als Referenzsystem herangezogen
                           werden: Zu untersuchen ist, wo die Autoren von analogen Fragestellungen ausgehen, um aus den Überschneidungen und Differenzen
                           neue literaturhistorische und geistesgeschichtliche Zusammenhänge zu entwickeln. Dabei geht es erst in zweiter Linie um den
                           Nachweis einer eventuell vorhandenen Einflußgeschichte; vor allem ist zu zeigen, wie sich auch ohne explizite Einflußnahme
                           bestimmte thematische und formale Modelle über die Historischen Bruchlinien fortschreiben. Könnte der Komplex »Sprache Macht Gewalt« (Ferdinand Schmatz) nicht ein Ansatzpunkt sein, der Autoren wie Robert Müller und
                           Oswald Wiener, Hermann Ungar und Albert Drach zueinander in Beziehung setzt? Gerade die literarische Verschränkung von sprachimmanenter
                           Gewalt mit der Darstellung struktureller und physisch ausgeübter Ge- [1/ S. 169:]  walt als ästhetische Antwort auf die politische Geschichte ist ein Merkmal der österreichischen Literatur bis in die allerjüngste
                           Zeit. Melchior Vischers Theatertexte und sein Dadaroman »Sekunde durch Hirn« (1920) kennzeichnet eine Überlagerung von Trivial(literatur)mustern
                           und experimentellen Verfahren, wie sie auch für die literarischen Strategien der Wiener Gruppe, insbesondere Konrad Bayers,
                           charakteristisch sind. Vischers Plädoyers für Zeitgenossenschaft auf dem Theater, für eine Verbindung von hoher und niederer
                           Kultur, für ein Theater, das dem Kitsch nicht ausweichen will, findet sich in den ästhetischen Konzepten verschiedener Autoren
                           nach 1945 wieder (Wolfgang Bauer, Albert Drach, Elfriede Jelinek, Wiener Gruppe etc.). Eine weitere Fragestellung betrifft
                           das Verhältnis von juridischem und literarischem Diskurs am Beispiel des Pragerdeutschen Autors Hermann Ungar; seine von den
                           Zeitgenossen als skandalös empfundenen »Fallgeschichten« sollen mit Texten von Albert Drach und Elfriede Jelinek konfrontiert
                           werden.
                         Ausgehend von Fragestellungen wie den skizzierten wird auch eine Reflexion der Voraussetzungen und der Probleme einer österreichischen
                           Literaturgeschichte in diesem Jahrhundert angestrebt: In welchem Wechselverhältnis stehen österreichspezifische Literaturentwicklungen
                           und internationale Ausprägungen der Moderne? Die ausgewählten Autoren und Texte jedoch in bestehende Kategorien zur Moderne
                           einzuordnen, ist hier nicht die vorrangige Intention; vielmehr soll das literarische Feld zwischen ca. 1910 und 1930 durch
                           Werkanalysen aufgefächert und mit wahrnehmungstheoretischen, ästhetischen und ideologischen Positionen der zeitgenössischen
                           wie der Literatur nach 1945 konfrontiert werden.
                         Das Projekt kann sich auf detaillierte Arbeiten und Anthologien zum österreichischen Expressionismus stützen: die von Oswald
                           Oberhuber und Peter Weibel zusammengestellte Text- und Materialsammlung »Österreichs Avantgarde 1900-1938. Ein unbekannter
                           Aspekt« (1976/77); die von Ernst Fischer und Wilhelm Haefs herausgegebene Anthologie »Hirnwelten funkeln« (1988) mit einer
                           lokalen (Wien) und literarhistorischen (Expressionismus) Spezifizierung. Der von Klaus Amann und Armin A. Wallas herausgegebene
                           Band »Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste« (1994) nimmt eine umfassende Darstellung expressionistischer
                           Kunst und Literatur in Österreich vor.
                         In einzelnen Fällen, wie bei Albert Ehrenstein, Robert Müller, Walter Serner und Hermann Ungar hat eine auch Einzelaspekte
                           des Werks betreffende Rezeption eingesetzt. In anderen Fällen, wie bei Viktor [1/ S. 170:] Hadwiger, Heinrich Nowak oder Melchior Vischer liegen bislang keine detaillierten Werkanalysen vor. Bernhard Fetz / Gisela Steinlechner |