[1/ S. 146:] Immer weniger verstehen sich Literaturarchive als bloße Hüter eines literarischen Überlieferungsschatzes. Zwar ist die Aufgabe
der Erhaltung und Ordnung der Materialien unbestritten, doch macht gerade diese intensive Beschäftigung mit den Archivalien
den Bearbeiter zum Medium eines übergreifenden Prozesses: Im selben Maße wie ein eindeutiger Begriff dessen, was ein literarischer
Text ist, abhanden kommt, wie die literaturtheoretische Diskussion ihren Gegenstand nicht mehr interpretativ festschreibt,
sondern im diskursiven Feld auflöst, verändern sich Bild und Selbstbild des Archivs. Institutionen, zu deren Sammelgebiet
die Literatur des 20. Jahrhunderts gehört, schaffen mit ihrer Ankaufspolitik auch Fakten, sie grenzen »mit ihren wertenden
Entscheidungen der Literaturwissenschaft ein Teil ihres Arbeitsfeldes überhaupt erst ab«, wie es Bernd Kortländer vom Düsseldorfer
Heinrich-Heine-Institut formuliert. Welche historische Dimension die Frage nach der Beschaffenheit einer Bibliographie der
Primärliteratur gewinnen kann, zeigt sich im Beitrag von Bernhard Fischer. Diese habe sich an der »Qualität« und am »Exemplarische[n]«
zu orientieren, gefordert ist vom Bibliographen eine »kritische Zeitgenossenschaft«, die Erstellung einer Bibliographie der
Primärliteratur wird zum »hermeneutisch-konstruktive[n]« Akt. Wie prekär auch immer dies klingen mag: Wer die Wertfreiheit
des eigenen Tuns behauptet, verkennt den eigenen - historischen - Standpunkt. Man kann es mit Blick auf die überbordenden
Depotbestände und die Informationsflut auch handfester formulieren: »Das schwerste am Sammeln ist das Wegwerfen.« Diesen Satz
Albert Kösters zitiert Herbert Jacob in einem Beitrag zur Weiterbearbeitung des »Goedeke«.
[1/ S. 147:] Aber Literaturarchive grenzen das Terrain nicht nur ein, sie erweitern es auch wieder, indem Nachlässe mit ihren vielfältigen
Dokumenten Werk und Autor in ihrem Umfeld situieren, in dem, was man in Anlehnung an Pierre Bourdieu das literarische Feld
nennen kann. In einem der instruktivsten Beiträge des Bandes zeichnet Michel Espagne vom Pariser Institut des textes et manuscrits
modernes nach, wie einerseits die spezifische Wissenschafts- und Kulturgeschichte Frankreichs, andererseits der offene Charakter
der Archivmaterialien zur Etablierung der »critique génétique« führten. Über die im deutschsprachigen Raum vorherrschende
historisch-kritische Perspektive mit ihrer chronologischen Einordnung verschiedener Textstufen geht die »critique génétique"
weit hinaus, und zwar in Richtung einer Kulturanthropologie: »Die philologische Auswertung eines Nachlasses im Literaturarchiv
erweist sich als Bestandteil einer möglichen Kulturgeschichte.« Dieser engen Verflechtung von an das Archiv herangetragenen
Fragestellungen mit der jeweiligen nationalen Wissenschaftsgeschichte trägt eine Einrichtung wie die Marbacher Forschungsstelle
für die Wissenschaftsgeschichte der Germanistik Rechnung.
Es macht die Qualität des vorliegenden Bandes aus, daß er das komplexe Gebilde Archiv sowohl theoretisch und wissenschaftsgeschichtlich
als auch praktisch reflektiert: Das Archiv ist Ort der Forschung und bibliographische Arbeitsstelle, seine Mitarbeiter legen
die Grundlagen für Editionen bzw. betreuen selbst Editionsprojekte, sie gestalten Ausstellungen und organisieren Tagungen,
und sie beeinflussen durch ihre Erwerbungspolitik und die Prinzipien, nach denen Nachlässe geordnet und verzeichnet werden,
Literaturwissenschaft und Kulturgeschichtsschreibung. Zunehmend, und das macht seine Attraktivität aus, wird das Archiv auch
zur Schnittstelle zwischen Universität und Öffentlichkeit. Der auf den Geisteswissenschaften lastende Legitimationsdruck wie
die Forderung nach »praxisorientierter« Ausbildung können auch als Chance verstanden werden, Studenten vermehrt an die Archive
zu binden. Diese Forderung wird etwa vom Hochschulgermanisten Norbert Oellers erhoben. Die Mitarbeit an Nachlaßbearbeitungsprojekten,
aus denen unter Umständen Diplomarbeiten oder auch Dissertationen hervorgehen können, bedeutet neben der für die unter chronischem
Personalmangel leidenden Archive wertvollen zusätzlichen Arbeitsleistung auch einen didaktischen Nebeneffekt: Im Archiv wird
der Prozeßcharakter literarischer Arbeit »handgreiflich«, die an den Universitäten geführte literaturtheoretische Diskussion
wird, soferne sie überhaupt stattfindet, rückgebunden an das Material. Im Archiv feiert der Autor als Bestandsbildner seine
Wiederauferstehung, während ihn die strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien längst zu Grabe getragen haben.
Die Hochkonjunktur von Begriffen wie »Vernetzung« und »Kooperation« ist selbst ein Beleg für den Funktionswandel des Archivs.
Christoph König illustriert am Beispiel des Wiener Literarhistorikers Jakob Minor den herrischen Gestus einer Wissenschaft,
für die das Archiv bloßes Hilfsinstrument sein sollte: der Lieferant von Regesten, Verzeichnissen, Sammlungen, wie dies Minor
1894, wenige Jahre nach dem Erscheinen von Wilhelm Diltheys programmatischem Plädoyer »Archive für Literatur«, gefordert hatte.
Heute ist es der ausdrückliche
[1/ S. 148:] Wunsch wohl der meisten Beteiligten - und dafür sind die einzelnen Beiträge ein beredtes Zeugnis - die Zusammenarbeit zu verstärken,
Synergien zu nützen, den Austausch von archivarischer und literaturwissenschaftlicher Kompetenz sowie von Archivmaterialien
zu erleichtern. Dies hat dort seine Grenzen, wo Archive etwa die Ausgabe von Kopien aus guten Gründen reglementieren, auf
der anderen Seite gerade Editoren und Forscher an einem möglichst unbegrenzten Zugang interessiert sind. Winfried Woesler,
Herausgeber der editionswissenschaftlichen Zeitschrift »editio«, macht den durchaus einleuchtenden Vorschlag, die Ergebnisse
von Editionsprojekten wiederum den Archiven zukommen zu lassen, als Gegenleistung gewissermaßen für einen möglichst umfassenden
Zugang zu den Handschriften. Wenn auch die Zukunftsvision eines »scanning an demand« aus urheberrechtlichen und technischen
Gründen nicht so bald verwirklicht werden wird, so bedeutet der Austausch gewiß auch eine Aufweichung der jeweiligen Berufsbilder.
Der Archivar wird zum Editor und umgekehrt, wie etwa die Praxis des Innsbrucker Brenner-Archivs mit seinen großen Editionsprojekten
zeigt.
Neben den wissenschaftsgeschichtlich argumentierenden Beiträgen sind es vor allem die praktischen Vorschläge bzw. die Berichte
aus der Praxis, die den Band lesenswert machen. Über aller »Vernetzungseuphorie« geht es in kleinen wie in großen Archiven
um eine grundsätzliche Diskussion dessen, was mit welchen Ressourcen überhaupt machbar und was vor allem auch sinnvoll ist.
Naturgemäß sind die meisten Archive daran interessiert, die wichtigen Bestände großer Autoren vorrangig zu bearbeiten und
möglichst weitgehend zu erschließen. Dazu verpflichtet sie schon die Nachfrage von Seiten der Benutzer und Forscher. Das heißt
nicht, daß ein fragwürdiges Prominenzprinzip handlungsleitend wird, vielmehr sind es oft gerade die Nachlässe unbekannterer
Autoren, die das literarische Feld in die verschiedensten Richtungen hin öffnen. Die inzwischen in einer Neufassung vorliegenden
»Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen« (RNA) gewährleisten die notwendige Einheitlichkeit bei der Erfassung
der wichtigsten Daten und bieten gleichzeitig genügend großen Spielraum für die einzelnen Archive bei der Festlegung der Erschließungstiefe.
Jochen Meyer vermittelt in seiner Darstellung des »Marbacher Memorandums« auch für Nichtarchivare nachvollziehbar die Schwierigkeiten,
Ordnungskriterien für Nachlässe ein für allemal zu definieren. Die Komplexität des übernommenen Materials bzw. die Frage,
inwieweit vorgefundene Ordnungen erhalten bleiben sollen, stehen im Widerspruch etwa zu überkommenen Gattungshierarchien.
So betrifft die Frage nach dem Werkcharakter bzw. der Literarizität autobiographischer Aufzeichnungen nicht nur die archivarische
Ordnung, sie führt auch ins Zentrum literaturwissenschaftlicher Theoriebildung - was erneut das Archiv als kommunizierendes
System ausweist. Und auch hier sind die kulturbedingt unterschiedlichen »Rituale« zu berücksichtigen, wenn man sich etwa die
unterschiedliche Archivpraxis in England, Frankreich und Deutschland vor Augen führt.
[1/ S. 149:] Spannend ist der Band immer dort, wo die Beiträge verdeutlichen, daß es die Qualität der Einrichtung Literaturarchiv ausmacht,
eine »›weich‹ definierte Institution« zu sein (Christoph König im Vorwort); das heißt, daß ihr genuiner Standort aus heutiger
Sicht zwischen Bibliothek, Universität, Dokumentations- und Forschungsstelle liegt, zwischen interessierter Öffentlichkeit
und Forschung. Ulrich Ott argumentiert überzeugend, daß dieser schillernde Charakter des Literaturarchivs den Archiven und
ihren Mitarbeitern wieder zugute kommt: »Paradoxerweise werden gerade dadurch [durch die »Bildung der Allgemeinheit«] unsere
eigenen Forschungskräfte aktiviert. Denn Ausstellungen und Publikationen aus den eigenen Beständen setzen eigene Forschung
voraus.« Und diese Forschung besitzt eine »prägende Rückwirkung auf Bestandsaufbau, Bewahrung ›und‹ Erschließung«. Dieser
Regelkreis aus Forschung und Erschließung bedingt andererseits, daß »Ordnung und Erschließung von Nachlässen [...] gar nicht
so tief wie möglich gehen« dürfen, »sie dürfen nur Angebote von Quellenmaterialien und Wegweiser zu ihnen sein, der Forscher
muß seine Fragestellung selbst an sie herantragen«.
Die Beiträge des Bandes sind aus einem Weimarer Symposium im November 1992 hervorgegangen. Dies erklärt, weshalb einige der
Anmerkungen zu Datenbanken und EDV-Lösungen inzwischen vom Lauf der Entwicklung eingeholt wurden. Aus österreichischer Perspektive
ist hier anzumerken, daß gerade auf diesem Gebiet durch eine Kooperation der nationalen Literaturarchive Insellösungen in
Zukunft vermieden werden sollen. Wobei als Maxime gelten kann, was Thomas Feitknecht nicht nur aufgrund der Schweizer Erfahrungen
formuliert: »Es gilt genau zu unterscheiden zwischen technisch Möglichem, wissenschaftlich Wünschbarem und wirtschaftlich
Machbarem.«
Die Beiträger des Bandes kommen aus den wichtigsten Archiven im deutschsprachigen Raum sowie vom »Centre national de la recherche
scientifique« in Paris. Vielleicht hätte die Einbeziehung der Handschriften-, Autographen- und Nachlaß-Sammlung der Österreichischen
Nationalbibliothek die Fragestellung nochmals anders akzentuiert. Das Österreichische Literaturarchiv war während der Entstehungszeit
des Bandes gerade selbst im Entstehen (wenn es auch bereits 1989 per Erlaß gegründet worden war); daß fast alle der angeschnittenen
Fragen die Geburtswehen eines neuen nationalen Literaturarchivs begleiteten und begleiten, mag als Beleg für die Relevanz
und Nützlichkeit des Buches gelten. Jedenfalls wird der Band selbst einmal Dokument einer dann historischen archivarischen
Identität sein und damit hoffentlich weiteres Zeugnis für die Lebendigkeit des Konzepts Literaturarchiv.
Bernhard Fetz
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