[2/ S. 228:] In seinem Editionsprojekt »Ingeborg Bachmann. Letzte, unveröffentlichte Gedichte. Entwürfe und Fassungen« versucht Hans Höller
zu zeigen, daß sich Ingeborg Bachmann in den 60er Jahren keineswegs ausschließlich der Prosa verschrieben hat. Dem Leser werden
zum einen erstmals Gedichte aus dem Nachlaß vorgestellt, die in der Zeit ihres Berlin-Aufenthaltes zwischen 1963 und 1965
entstanden sind. Zum anderen präsentiert Höller verschiedene Entwürfe und Fassungen von drei Gedichten, die werkgeschichtlich
bereits in die Zeit der Arbeit an den »Todesarten« fallen und die im November 1968 im »Kursbuch« publiziert wurden. Seine
Entscheidung, den Entstehungsprozeß der drei bekannten Gedichte »Keine Delikatessen«, »Böhmen liegt am Meer« und »Enigma«
zu dokumentieren, begründet der Herausgeber damit, daß die Textsituation hier besonders aufschlußreich sei.
Höller versteht die Veröffentlichung der textgenetischen Rekonstruktionen von Bachmanns lyrischem Spätwerk als einen »brisante[n]
poetologische[n] Diskussionsbeitrag«, insofern damit die These widerlegt werde, die Autorin habe sich mit Beginn der Arbeit
an den »Todesarten« ganz von der Lyrik als einer schönen, aber effektiv irrelevanten Sprache abgewendet. Im Gegensatz dazu
vertritt Höller die Ansicht, daß den Bewegungen der Entwurfshandschriften bereits jene fatale Energie der »Todesarten«-Texte
eingeschrieben sei, die darauf [2/ S. 229:] dränge, die Unmittelbarkeit der weiblichen Stimme bzw. der biographischen Ich-Stimme oder des lebendigen Ich zu beseitigen,
um zu einem klaren Text zu kommen. (Er beruft sich hier auf das in »Malina« ausgeführte Konfliktmuster.) Mit dem Verweis auf
diese intertextuellen Beziehungen insistiert Höller auf thematischen und poetologischen Kontinuitäten in Bachmanns Œuvre,
die formale Differenzen zwischen Lyrik und Prosa suspendieren und stattdessen auf unterschiedlichen Ebenen um den »Konflikt
von Kunst und Leben und […] weiblicher Autorschaft« (S. 10) kreisen.
In dieser Hinsicht komplementiert Höllers editorisches Projekt gegenwärtige Versuche, den zugänglichen Nachlaß Bachmanns einer
erneuten historisch-kritischen Revision zu unterziehen. So bemüht sich z. B. die unter Leitung von Robert Pichl von Monika
Albrecht und Dirk Göttsche herausgegebene kritische Ausgabe des »Todesarten«-Projekts (München: Piper 1995) darum, die Rekonstruktion
der Vorgeschichte und Entwicklung der Spätprosa in einen poetologischen Gesamtzusammenhang zu stellen, der formale Gattungskategorien
zweitrangig, wenn nicht gar irrelevant macht. Das »Todesarten«-Projekt markiert jetzt nicht mehr die ›neue‹ Handschrift einer
»gefallene[n] Lyrikerin« (Marcel Reich-Ranicki), sondern ist - im Gegenteil - Bestandteil der kontinuierlichen bis in die
späten 40er und frühen 50er Jahre zurückreichenden Annäherungen an die erzählende Prosa. Wie die Herausgeber des »Todesarten«-Projekts
in ihrem Nachwort zu »Das Buch Franza« feststellen, wird »in den achtziger Jahren nach der Öffnung des literarischen Nachlasses
[…] deutlich, daß Bachmann zu keiner Zeit ihres literarischen Schaffens ausschließlich Lyrikerin war« (München: Piper 1995,
S. 250). Mit Blick auf die Erst- bzw. Neuherausgabe der späten Lyrik, läßt sich diese Feststellung durch die Beobachtung ergänzen,
daß die Autorin auch in den 60er Jahren nicht ausschließlich an Prosatexten arbeitete. (Und damit gerät die Relativität von
historisch bedingten und im Fall einer Autorin oft geschlechtsspezifisch gefärbten Werturteilen über literarische Formen und
Gattungen selbst in den Blick!)
Höller stellt den Texten jeweils einen ausführlichen Kommentar nach, in dem er vor allem auf Beziehungen innerhalb des Œuvres
und auf lebensgeschichtliche Schreibspuren verweist. Die Herausgabe der von der Autorin selbst nie zur Veröffentlichung freigegebenen
Gedichte begründet Höller damit, so die »›Problemkonstante‹ des Schaffens […] zu verdeutlichen und sie nicht einfach nach
dem Grad des ästhetischen Gelungenseins zu bewerten« (S. 29). Sowohl die Publikation dieser bisher unveröffentlichten Gedichte
als auch die Dokumentation der verschiedenen Entwürfe der zuletzt veröffentlichten Gedichte mitsamt der sich daran anschließenden,
teils sehr ausführlichen Analyse der Verschiebungen, Ergänzungen und Streichungen scheint mir im großen und ganzen äußerst
wichtig und hilfreich - auch wenn damit Schreibspuren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die die Autorin oft verzweifelt
als Teil ihres Privatraums zu schützen gesucht hat.
In der Dokumentation der unterschiedlichen Entwürfe und Fassungen der drei Gedichte kommt es Höller darauf an, »›die Gesamtdynamik
des Schreibprozesses‹« (S. 10) zu rekonstruieren. Dabei könne die »fotomechanische Wiedergabe [2/ S. 230:] der überlieferten Textzeugen der einzelnen Gedichte […] relativ unverfälscht die Schriftbilder, die Schreibansätze und das
Abbrechen der Schrift, den Schreibduktus, die Schreibversehen und die verschiedenen Formen des Korrigierens in den Blick rücken
und so einen sinnfälligeren Begriff der Werkgeschichte vermitteln« (S. 10). Und tatsächlich bietet die Präsentation der verschiedenen
»Textzeugen« von »Keine Delikatessen«, »Böhmen liegt am Meer« und »Enigma« eine interessante, irritierend ambivalente und
zugleich bereichernde Lesesensation. Höller entdeckt dem Leser die verwirrenden und zugleich vielsagenden Bewegungen hinter
der Statik der letzten publizierten Fassung. Damit wird zum einen die Materialität des Schreibprozesses sichtbar und zum anderen
die für manchen Interpreten fast sakrale Textautorität relativiert als scheinbarer Endpunkt einer allmählichen Bewegung, die
keineswegs mit Notwendigkeit abbricht. Der dadurch in den Blick rückende Poetikbegriff ist insofern interessant, als er das
poststrukturalistische Diktum vom »Tod des Autors« ernst nimmt und statt starrer Autor(itäts)positionen die Vielfalt der inner-
und intertextuellen Spannungen, sowie den Prozeß des Schreibens / Lesens betont.
Höllers Kommentare stellen einfühlsame und einsichtige Verbindungslinien im Schreiben der Autorin her, sowohl auf der biographischen
als auch auf der poetologischen Ebene. Allerdings bestimmt das »Todesarten«-Interpretationsparadigma, d. i. die Figur der
»Unterwerfung des lebendigen Ich unter die Idee des Werks« (S. 9), weitgehend die Lesart der Lyrik und verengt damit zum Teil
den Zugang zu den Texten. So notiert z. B. der Kommentar zu »Feindesland« (oder »Feindeshand«?) »die Aufspaltung des Ich in
zwei Komponenten« (S. 35). Diese Lesart des Gedichts kann nur den Leser überzeugen, der mit der Dualität und Problematik einer
dominanten (männlichen) und einer unterdrückten (weiblichen) Stimme / Perspektive in Bachmanns späten Prosaarbeiten vertraut
ist und den Textbefund darauf projiziert. Hilfreich ist dieses Paradigma jedoch vor allem in Verbindung mit den Entwürfen
und verschiedenen Fassungen der bereits veröffentlichten Gedichte, insofern Höller hier auf die »Ebene des textgenetisch dokumentierbaren
Schreibprozesses« (S. 83) verweist und damit auf das (für Bachmann zentrale) Drama des schreibenden Ich aufmerksam macht.
Wie in den späten Prosaarbeiten klar ablesbar, ist dieses Drama vor allem durch eine Vielfalt von sich widersprechenden Stimmen
und Wahrheiten bestimmt, die in der autorisierten Letztfassung eines Gedichts nicht in ihrer ganzen Bandbreite sichtbar ist.
Höllers zahlreiche und kenntnisreiche Hinweise auf Kontinuitäten und Beziehungen im Werk Bachmanns tragen einerseits dazu
bei, auf die Konsistenz von wesentlichen Problemkonstanten in ihrem Schreiben aufmerksam zu machen. Andererseits verdecken
sie jedoch nicht zu unterschätzende Diskontinuitäten und Brüche in Bachmanns Arbeiten und favorisieren dadurch indirekt einen
poetologischen Zusammenhang, der der Autorin selbst immer wieder auseinanderfiel.
Zurecht kann man behaupten, daß sich an den Kreuz- und Querbewegungen der »Entstehungshandschriften« ablesen läßt, was im
poetischen Entstehungsprozeß auf der Strecke blieb. Problematisch wird diese Behauptung dann, wenn [2/ S. 231:] man das (bei Bachmann zuletzt stark akzentuierte) geschlechtsspezifische Moment der konkurrierenden Stimmen mit hinzunimmt.
In ihren Prosaarbeiten inszeniert die Autorin zunehmend das Dominanzgebaren der männlichen Stimme und die Usurpation der weiblichen
Stimme. Betrachtet man die Bewegungen der Entstehungshandschriften lediglich unter diesem Vorzeichen, dann verdoppelt man
in gewisser Weise den Gestus der Unterdrückung, indem dieser Logik zufolge die Letztfassung mit der (männlichen) Überwindung
des »Unmittelbaren, Maßlosen, Wirren und Disparaten« (S. 10), eben der (weiblichen) Vorgeschichte, zusammenfällt. Diese fatale
Hierarchie in seinem Editionsprojekt fortzuschreiben, ist sicherlich nicht Absicht des Herausgebers. Im Gegenteil, Höllers
Dokumentation und sorgfältige Kommentierung der Textgenese machen ja gerade die zahlreichen Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen
im Prozeß des Schreibdramas für die Leser sichtbar und geben damit der wirren Vielfalt der um Ausdruck suchenden Stimmen Raum.
Allerdings wäre ein Hinweis auf diese Problematik in dieser ansonsten sehr interessanten Edition nicht nur erhellend, sondern
auch wichtig gewesen.
Susanne Baackmann
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