[2/ S. 57:] Die Bestände zu Ödön von Horváth stellen einen Kernbereich des ÖLA dar. Der Grundstein des Sammlungskomplexes wurde mit dem
Ankauf des Nachlasses Horváths gelegt, der im Jahr 1990 von der ÖNB gemeinsam mit der Wiener Stadt- und Landesbibliothek unternommen
wurde. Neben Manuskripten und Typoskripten des Autors zu fast all seinen Werken, wozu auch Vorstufen, Skizzen, Pläne und Fragmente
zu zählen sind, umfaßt der Nachlaß einige wenige Briefe, Fotografien und Erstausgaben. Zur Geschichte des Bestandes wäre anzumerken,
daß er seit Beginn der 60er Jahre im Archiv der Akademie der Künste in Berlin verwahrt wurde und daß auf ihm und seiner Ordnung
(der sogenannten Berliner Mappenablage) die bis jetzt gebräuchlichen Ausgaben Traugott Krischkes basieren. Der Nachlaß wird
heute inklusive der Erwerbung durch die Wiener Stadt- und Landesbibliothek (Leihgabe) vom ÖLA betreut und kann für Zwecke
der wissenschaftlichen Forschung eingesehen und benutzt werden.
Neben dem Nachlaß Horváths stehen der Forschung am ÖLA mehrere Materialsammlungen zum Autor zur Verfügung. So können die Benutzer
auf einen ausgedehnten Handapparat mit Sekundärliteratur zurückgreifen, der neben den Standardwerken auch schwer greifbare
Arbeiten aus dem Bereich universitärer und studentischer Forschung umfaßt.
Einen gesonderten Komplex stellt die sogenannte »Theaterdokumentation Ödön von Horváth« dar. Hierbei handelt sich um einen
Teil des Archivs des Thomas Sessler Verlags, der eine umfangreiche und nahezu geschlossene Dokumentation zur Aufführung von
Horvaths Stücken während des Zeitraums von 1945 bis 1994 leistet. Die Dokumentation umfaßt Theaterprogramme, Plakate, Kritiken
und Szenenfotos; daneben liegen Materialkonvolute zu Sachthemen der Horváth-Rezeption sowie der Briefwechsel Lajos und Elisabeth
von Horváths mit dem Georg Marton Verlag und dem Thomas Sessler Verlag (ca. 140 Briefe von 1954 bis 1968) vor. Der Bestand
ist voll erschlossen, systematisch abgelegt und signiert und kann über die Nachlaß- und Autographen-Datenbank des ÖLA, allegro-HANS,
abgerufen werden.
Abb. 1. Inge Konradi (Marianne) und Karl Skraup (Zauberkönig) in »Geschichten aus dem Wiener Wald« (Volkstheater, Wien, Dezember 1948). ÖLA [2/ S. 58] Abbildung in eigenem Fenster öffnen [105,2KB]
In seiner Geschlossenheit vermittelt der Bestand ein exaktes Bild der Horváthschen Bühnengeschichte nach 1945. So finden sich
bereits die ersten punktuellen Anfänge in Österreich dokumentiert: Die Inszenierung der »Geschichten aus dem Wiener Wald«
1948 am Volkstheater (Abb. 1), die eine kleine mediale Erregung über den barschen und rü- [2/ S. 60:] den Umgangston der Horváthschen Bühnenfiguren zur Folge hatte; jene von »Figaro läßt sich scheiden« am Kleinen Theater in
der Josefstadt (1947) oder auch die erste Horváth-Aufführung der Zweiten Republik, nämlich jene von »Der jüngste Tag« am 7.
Dezember 1945 im Theater in der Josefstadt. (Abb. 2) Die Stückwahl, mit der das Theater nach 1945 in die erste Saison ging, war symbolisch zu verstehen und wurde von der Presse
auch so verstanden. So schreibt das »Neue Österreich«, daß es dem Autor hier um einen transzendenten Schuldbegriff zu tun
sei, der den einzelnen wie das Glied einer langen Kette umfaßt und innerhalb dessen die individuelle Verantwortung ans Kollektiv
delegiert werde – Worte, die man zu diesem Zeitpunkt in Österreich gerne gehört hat. Auch die äußere Situation einer Theateraufführung
unmittelbar nach dem Krieg hält die Kritik zu »Der jüngste Tag« fest: »Das Publikum war ergriffen und ging trotz arktischer
Kälte im Theatersaal ehrlich mit« (Richard Hoffmann: Das alte Lied von Schuld und Sühne. In: Neues Österreich, 12. 12. 1945).
Abb. 2. Theaterzettel zur Aufführung von »Der jüngste Tag« (Theater in der Josefstadt, Wien, Dezember 1945). ÖLA [2/ S. 59] Abbildung in eigenem Fenster öffnen [93,9KB]
In den Materialien lassen sich viele Details der Horváth-Rezeption erkunden, daneben zeigen sich auch die großen Entwicklungslinien:
In den 50er und frühen 60er Jahren war es um Horváths Stücke auf in- und ausländischen Bühnen sehr ruhig geworden; erst Ende
der 60er Jahre wurde der Autor neu entdeckt, und es begann jene Renaissance, die bis heute anhält und ihn zu einem der meistgespielten
Bühnenschriftsteller des 20. Jahrhunderts gemacht hat. Die Sammlung des ÖLA spiegelt diese bewegte Rezeption wider; von den
insgesamt mehr als 700 dokumentierten Aufführungen fanden mehr als neunzig Prozent erst nach 1968 statt.
Neueste Materialien zur Horváth-Rezeption finden sich in dem beim Sessler Verlag verbliebenen Teil des Archivs. Diese Sammlung
wird stets aktuell gehalten, zudem bietet der Sessler Verlag in seinem Programm ein Inszenierungsverzeichnis der Horváthschen
Stücke von 1977 bis 1997 an. Jüngste und neueste Zeitungsartikel zu Ödön von Horváth sind darüber hinaus im Wiener Literaturhaus
einzusehen, wo sich auch eine umfangreiche und aktuell gehaltene Sammlung von Bühnenfotos findet.
Klaus Kastberger
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