[1/ S. 127:] Das Adalbert-Stifter-Institut des Landes Oberösterreich in Linz ist auch Sitz des Oberösterreichischen Literaturarchivs, das
gemäß seinem Statut für die oberösterreichische Literatur zuständig ist. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer- regionalen
Definition von Literatur: Wie ist diese Eingrenzung am Stifter-Institut gezogen?
[1/ S. 128:] In Zeiten der umfassenden Globalisierung, die sich mit den Möglichkeiten der elektronischen Medien und des Internet-Betriebs
rasant beschleunigt hat, erhält die »Region« als historisch gewachsene soziale und kulturelle Einheit einen neuen Stellenwert.
Die Literatur einer Region ist ein wenn auch fluktuierender Bereich des identitätsstiftenden »Selbstbewußtseins« einer Region;
die regionalen Literaturarchive können als Speicher der kulturellen Tradition eine wertvolle Punktion erfüllen. Eine definitorische
Eingrenzung regionaler Literatur ist schwierig. Am Oberösterreichischen Literaturarchiv wird - in abgestufter Form - grundsätzlich
alles Literarische gesammelt, was mit diesem Land in irgendeiner Weise zu tun hat: Neben Stifteriana z. B. auch Strindbergiana,
Autochthones wie regionale Dialektdichtung klarerweise, soweit es literarische Qualität besitzt.
Empfinden Sie beim Versuch, Vor- bzw. Nachlässe oberösterreichischer Schriftsteller mit überregionaler Relevanz zu erwerben,
Konkurrenz von Wiener Institutionen, etwa der Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur, dem Österreichischen
Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, der Wiener Stadt- und Landesbibliothek sowie auch von anderen österreichischen
Literaturarchiven, z. B. dem Brenner-Archiv in Innsbruck, das ebenfalls über Bestände aus Oberösterreich verfügt, und deutschen
Institutionen, etwa beim Ankauf von Stifter-Autographen?
Natürlich kann es bei überregionalen Größen zu Konkurrenzsituationen mit anderen Archiven kommen. Prinzipiell sollten Nachlässe
von Autoren und Autorinnen, deren Werk hauptsächlich in einer Region entstanden und von der »Herkunftslandschaft« geprägt
ist, in diesem Land bleiben können, soweit es die adäquate Einrichtung dafür gibt. Sicherlich gibt es auch mehrfache »Loyalitäten«
bei Schriftstellern und Schriftstellerinnen, die, sagen wir, in Oberösterreich geboren und aufgewachsen sind, ihr literarisches
Oeuvre aber hauptsächlich in Wien geschaffen haben, beispielsweise Hermann Bahr. Innerhalb Österreichs sollte es bei den Archiven
möglichst großzügige Flexibilität gehen, eine Art von »Do ut des«-Einstellung. - Wegen der Stifter-Autographen gab es nur
einmal Streit, 1964, als die Sammlung Schocken versteigert wurde und die Bayerische Staatsbibliothek den Löwenanteil erwerben
konnte. Seither klappt es mit gegenseitigen Absprachen.
Angesichts des zunehmenden fachspezifischen Bewußtseins von den Kanonisierungsprozessen, die über die Literaturarchive geleitet
werden, stellt sich die Aufgabe, die Begriffe ›regionale‹ und ›überregionale‹ Rele- [1/ S. 129:] vanz differenzierter zu fassen. Ist es nicht so, daß oft erst durch eine intensive regionalgeschichtliche Forschung überregionale
Zusammenhänge erhellt werden, die allein mit dem Blick auf die kanonisierte Literaturverschüttet blieben?
Hier liegt eine große Chance für regionale Literaturarchive vor: Insofern, als jede Literatur als Zeugnis ihrer Zeit relevant
ist, kann regionale Literatur exemplarisch werden für überregionale historische Tendenzen und Zusammenhänge. An unserem Institut
konnte z. B. mit einer Ausstellung über den heute unbekannten oberösterreichischen Schriftsteller und Germanisten Edward Samhaber
(1846-1927) und seine Beziehung zum Werk des slowenischen Nationaldichters France Prešeren (1800-1849) ein Fallbeispiel für
die Virulenz der Nationalitätenfrage im slowenischsprachigen Gebiet in der ausgehenden Habsburgermonarchie demonstriert werden.
Der besonders umfangreiche Nachlaß Enrica von Handel-Mazzetti (1871-1955) kann für die Darstellung der Situation der katholisch-konfessionellen
Literatur in der Auseinandersetzung mit Protestantismus und Liberalismus und ihre Rolle im Modernismus / Antimodernismus-Streit
ebenso herangezogen werden wie für Verlagsgeschichte, Zeitschriftengeschichte usw. Es kommt auf die Perspektive an, unter
der ein Nachlaß »etwas hergibt«.
Sie bereiten derzeit eine oberösterreichische Literaturgeschichte vor: Können Sie kurz die Tragfähigkeit Ihres Konzepts einer
historischen Definition oberösterreichischer Regionalität vorstellen, die dieser Literaturgeschichte vorausgesetzt ist?
Bei der Konzeption einer Literaturgeschichte des Landes Oberösterreich stehen wir erst am Anfang. Wie bei den Sammelgebieten
für das Literaturarchiv werden literarische Phänomene im weiteren Sinn einbezogen, die mit Oberösterreich (in den heutigen
Grenzen) in irgendeinem bemerkenswerten Zusammenhang stehen auch angesichts dauernder Grenzüberschreitungen, die sich aus
den überregionalen Zeitströmungen und den individuellen biographischen Bezügen der Autoren und Autorinnen ergehen. Im großen
und ganzen kultur- und sozialgeschichtlich orientiert, wird die jeweilige »Infrastruktur« des literarischen Lebens (kulturelle
Zentren) neben Gattungsgeschichtlichem und Einzeldarstellungen eine Rolle spielen. Spezielle Oberösterreich-Themen (wie z.
B. Bauernkriegs-Dichtung) sollen hervorgehoben werden.
[1/ S. 130:] Schon vor Jahren wurde Literatur als zunehmend minoritäres Unternehmen bezeichnet. Die Skepsis wächst, daß sie überhaupt noch
gesellschaftliche Kommunikationszusammenhänge stiften kann, weder regionale und schon gar nicht überregionale. Besteht für
die regionalen und nationalen Literaturarchive dabei nicht die Gefahr, Speicher einer überholten Diskursform zu werden?
Der Tatsache, daß das Bücherlesen abnimmt angesichts der leicht konsumierbaren Angebote der elektronischen Medien Fernsehen,
Video, Internet etc., stellt das Anwachsen der Buchproduktion gegenüber, wie die jährlich immer noch steigenden Zahlen bei
den Buchmessen zeigen. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß der Bildungsfundus Literatur selbst in den traditionellen
Bildungsschichten an Bedeutung verliert zugunsten anderer Informationsangebote und daß damit bestimmte kulturelle und ästhetische
Werte nicht mehr allgemein vermittelt werden. Es sollte aber Zentren geben, in denen der kulturelle »Vorrat«, der sonst verloren
ginge, aufbewahrt und verfügbar gehalten wird, sei es für eine qualifizierte Minorität, sei es für neue Formen der (reflektierten
kritischen) Aufbereitung in einer perpetuierten Geschichtsflucht.
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