[2/ S. 231:] Seit 1996 hat der Otto Müller Verlag drei Neuerscheinungen von Christine Lavant (1915-1973) herausgebracht: »Die Schöne im
Mohnkleid« (1996), »Herz auf dem Sprung. Die Briefe an Ingeborg Teuffenbach« (1997) und, gleichsam als bisherigen Höhepunkt
dieser Serie, »Das Wechselbälgchen« (1998). Das ist bemerkenswert für jemanden, der bereits mehr als 25 Jahre tot ist und
zu Lebzeiten häufig an der eigenen literarischen Schaffenskraft gezweifelt hat. Darüber hinaus lassen sich die besagten Publikationen
als erste Zeichen für weit umfangreichere Anstrengungen deuten, die derzeit unternommen werden, um endlich den nicht unerheblichen
Bestand an nachgelassenen, bisher unbekannten Werken Lavants einem - mittlerweile wohl immer gespannter wartenden - Lesepublikum
erstmals zugänglich zu machen.
Dies soll vor allem durch zwei Forschungsprojekte des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung ermöglicht werden,
die der Vorbereitung einer kritischen Werkedition dienen (Laufzeiten 1995 bis 1997 und 1998 bis 2000) und zwei regionale Literaturarchive
in enger Kooperation vereinen: zum einen das Brenner-Archiv der Universität Innsbruck und das Robert-Musil-In- [2/ S. 232:] stitut der Universität Klagenfurt zum anderen, wo der Nachlaß Lavants auch verwahrt wird.
Bei aller formalen und inhaltlichen Unterschiedlichkeit und Eigenständigkeit der vorliegenden Bücher, lassen sich doch gewisse
Grundsätzlichkeiten feststellen, auf denen Christine Lavants Poetik aufbaut: So waren ihre Texte meist für bestimmte Personen
gedacht, nicht für eine anonyme Leserschaft; oder sie gab sie am liebsten erst aus der Hand, wenn eine persönliche Widmung
damit verbunden war. Lavant ist niemals Schriftstellerin im eigentlichen Sinn gewesen und hat unter den Bedingungen des Marktes
gelitten. Schreiben war für sie unmittelbar mit der Hinwendung an Menschen verbunden; oft fungierte Geschriebenes für sie
daher als ein Geschenk oder als Abgeltung für ihr gegenüber erbrachte Wohltaten und Zuwendungen. Nicht zuletzt aus diesem
Grund hatte Lavant, die ihr Leben großteils im sozio-kulturellen Abseits des Kärntner Lavanttals zubrachte, bei den Veröffentlichungen
ihrer Werke von Anfang an nicht nur besondere äußere Probleme wie etwa die der Verlagswahl zu bewältigen, sondern auch zutiefst
empfundene innere Probleme der Selbstüberwindung, der Selbstentäußerung, der Selbstzerstreuung. Sogar noch ihre Lyrik, geschweige
denn ihre Prosa erhalten dadurch einen (im weitesten Sinn) briefähnlichen Charakter, der zu einer für Lavant typischen Mischung
fiktiver und faktischer Elemente geführt hat. Auch die auffälligen Schwierigkeiten und Irritationen von Literaturwissenschaftlern
und -kritikern bei der gattungsmäßigen Klassifizierung insbesondere der »Schönen im Mohnkleid« hängen damit zusammen, sind
doch die zwei nachträglich vom Verlag erst unter diesem gemeinsamen Titel zusammengefaßten, 1948 entstandenen Briefe (an die
Schriftstellerin Ingeborg Teuffenbach [1914-1992]), die Erzählerisches, Liebeserklärungen, Beschwörungen, religiöse, poetologische
und psychologische Reflexionen sowie Teile einer Autobiographie enthalten, eben nicht einfach auf einen theoretisch begründeten
Begriff zu bringen.
Ob also Gedichte oder Erzählungen, gleichermaßen durchdrungen sind alle von der Sehnsucht nach einem Mitmenschen - dem anderen,
der man sich letztlich auch selber ist. Eine der eindrucksvollsten und spannendsten Textstellen, die das zum Ausdruck bringen,
findet sich in einer Traumpassage zu Beginn der »Schönen im Mohnkleid« (S. 16-22), in der »sie [Christine Lavant] sich einerseits
im Bett liegend erlebt und andererseits wilde Orchideen suchend ausschwärmt in den Wald.« (Werner Thuswaldner: Werben um eine
Freundin. Bisher unbekannte Prosa von Christine Lavant. In: Salzburger Nachrichten, 11. 5. 1996) Distanz und Nähe sind überhaupt
die zentralen Kategorien, aus denen die Spannung des Buchs resultiert. Denn die Autorin versucht sowohl gleich zu Beginn ihrer
näheren Bekanntschaft, eine möglichst intensive Zuneigung von seiten der gesellschaftlich viel höher gestellten Ingeborg Teuffenbach
zu erringen, als auch sich und der Adressatin ständig bewußt zu halten, daß sie selbst infolge ihrer Herkunft aus einer Bergarbeiterfamilie,
der unvorstellbaren Armut, die dort herrschte, und der Krankheiten, unter denen sie seit frühester Kindheit litt, zum ›Anderssein‹
gezwungen, aber auch berufen sei. Wann immer Lavant die narrative Ebene verläßt, um die autobiographisch fundierten [2/ S. 233:] Geschichten über ihre Geschwister, ihre Mutter oder Schulkameraden in erstaunlicher analytischer Klarheit zu kommentieren,
entwickelt sie daher eine eigentümliche Dialektik in der Argumentation: »Du bist also nicht nur die, die ich beschenken möchte,
sondern vor allem die wichtige Voraussetzung, die ich brauche, um in den Zustand zu kommen, der selbst den Ärmsten noch dazu
befähigt, Geschenke zu machen. [...] Bedenke es genau und prüfe es, ob ich dir so zugetan sein könnte, wenn die Armut nicht
letzten Endes doch heimlich begnadet wäre.« (S. 23f.)
So entspricht die wundersame, aus dem Kontext willkürlich herausgelöste Formulierung von der »Schönen im Mohnkleid« letztlich
dem Spiel mit poetischen Verkleidungen, Rollenverhältnissen und Zeitsphären, das von Lavant metaphorisch facettenreich gestaltet
wird (»Ich werde dann wieder einmal aus einer Kindheit - o, es gibt deren immer wieder welche! - erwachsen werden.«, S. 109):
Sie bezieht sich nämlich zunächst auf eine neue Lehrerin, die geradezu angehimmelt wurde und der zuliebe das Volksschulkind
Christine (geb. Thonhauser) den allerersten literarischen Text verfaßte - unbedankt und unverstanden, wie sich die Schreiberin
später erinnert. Doch immerhin galt das Mädchen von da an innerhalb der Familie als diejenige, die den »Geist« besaß (der
Inspiration?, der Kontemplation?, der Entrückbarkeit?; vgl. S. 81ff.). Da Ingeborg Teuffenbach, die durch die Briefe ebenfalls
beschenkt und vereinnamt werden soll, in einer Art Wiederholung des nur scheinbar längst Vergangenen in eine ganz ähnliche
Situation wie ehedem die Lehrerin versetzt wird, erfolgt auch ein Transfer der emotionalen, idealisierenden, motivischen Projektionen
auf ihre Person. Zugleich kreiert Lavant ein schillerndes, wie aus einer fotografischen Mehrfachbelichtung hervorgegangenes
Selbstbild, in dem die ›reale‹, 33jährige Christine, mittlerweile verh. Habernig, sich und ihre pseudonyme Identität spiegeln
läßt.
Den weiteren Fortgang der hier mitunter allzu überschwänglich initiierten Beziehung skizziert »Herz auf dem Sprung«. Der Band
beinhaltet 42 Schreiben Christine Lavants; das ist der (leider nur einseitig und offensichtlich nicht vollständig erhaltene)
Rest des im Nachlaß Ingeborg Teuffenbachs gefundenen Briefwechsels zwischen den beiden Frauen aus der Zeit von 1948 bis 1964.
»Der Grad der Selbsterkenntnis und Selbsteinschätzung ist auch in diesen Briefen hoch anzusetzen«, meinte Beatrice Eichmann-Leutenegger
dazu. »So ist angesichts all der eminenten Gefährdungen die Balance dieser Frauenfreundschaft delikat. Das schwebende Gleichgewicht
wird einerseits immer wieder hergestellt durch die starke Präsenz Ingeborg Teuffenbachs als Helfende, Vermittelnde, Tröstende,
andrerseits durch die rührende Anhänglichkeit der Dichterin. Sie zeigt sich allerdings in diesen Briefen nicht nur von ihrer
Nachtseite, sondern durchaus auch mit ihrem listigen Humor, welcher sich in trefflichen Beschreibungen komischer Situationen
gefällt.« (In: Orientierung 62/1998, Nr. 3, S. 31f.) Trotz alledem liegt der Hauptwert dieser Texte nicht im Literarischen,
waren sie doch nicht zur Veröffentlichung bestimmt und erfuhren dementsprechend (bis auf ein paar Gedichte, die auch zu der
Korrespondenz gehören) wohl auch kaum stilistische Überformung. Von Interesse sind diese [2/ S. 234:] Briefe in erster Linie für biographisch an Christine Lavant Interessierte, die sowohl aus den Primärtexten eine Fülle von
unmittelbaren Hinweisen erhalten (etwa über die allgemeinen Lebenseinstellungen dieser einzigartigen Frau, ihre spezifischen
Erlebnis- und Wahrnehmungsweisen, Ängste und Freuden, ihre Gepflogenheiten und Umgangsformen innerhalb der Ehe mit dem um
36 Jahre älteren Kunstmaler Josef Benedict Habernig [1879-1964] und nicht zuletzt über ihre Beziehung zu Werner Berg [1904-1981]),
die in bezug auf manch verbreitete Lavant-Klischees ziemlich entmythisierend wirken, als auch Informatives aus den von Annette
Steinsiek mit großer Akribie, Einfühlungsvermögen und Zurückhaltung verfaßten Erläuterungen.
»Das Wechselbälgchen« schließlich gehört zu jenen literarischen Werken, denen der Literaturbetrieb viel zu lange jenen Rang
vorenthalten hat, der ihnen gebührt. Im aktuellen Fall handelt es sich um eine bis vor kurzem als verschollen geltende Erzählung,
deren Überlieferungsträger (ein Typoskript und eine Druckfahne!) in Wahrheit von privater und sogar Verlegerseite einfach
in Vergessenheit geraten waren. Aber gerade noch rechtzeitig im Lauf des Gedenkjahres anläßlich des 25. Todestags Christine
Lavants hat der Otto Müller Verlag ein 50jähriges Versäumnis wieder gut gemacht und konfrontiert die Leser nun mit einer Erzählung,
deren Lektüre »nicht mehr unter dem Zwang [steht], sie unbedingt einem Lager, jenem der Antimodernen oder Modernen, zurechnen
zu müssen«. (Werner Thuswaldner: Von existenzieller Not. In: Salzburger Nachrichten, 5. 12. 1998) Die Geschichte versetzt
uns ohne Umschweife in eine ländliche Zwischenkriegswelt, die - zumindest literaturgeschichtlich betrachtet - praktisch unbekannt
ist, zugleich verdrängt und ignoriert von einer idyllisierenden Blut- und Bodendichtung. Lavant zeichnet die Mägde, Knechte,
Keuschler, Weiddirnen, Bauern, Pfarrer, Kinder und Kleinstbürger von einem Standpunkt direktester Betroffenheit aus, die man
im allgemeinen erst in den 70er Jahren an Anti-Heimat-Literaten wie Josef Winkler zu bewundern bereit war. Es geht um ein
uneheliches, geistig zurückgebliebenes Mädchen, dem die abergläubischen Leute nachsagen, es sei der einäugigen Mutter bei
der Geburt vom Teufel und seinen Helfershelfern untergeschoben worden, eben ein »Wechselbalg«. Zitha heißt das Kind, kann
nicht sprechen, sondern höchstens ein paar Laute stammeln, die wie »Um!« (S. 21) oder »Ibillimutter« (S. 32) klingen. Das
müßte eigentlich gut in eine Gesellschaft passen, die - isoliert und als ganze an den Rand der Zivilisation verbannt - sich
selber kirre macht mit Zaubersprüchen, Verwünschungen, einem animistischen Naturverständnis, katholischen Riten und Glauben
an Gespenster und Wiedergänger. Dennoch verheddert sich Zithas Schicksalsfaden unweigerlich in den fatalen Mechanismen, denen
ein in sozialen und (sexual)moralischen Dingen so widersprüchlich und hierarchisch organisiertes Gefüge wie das geschilderte
unterliegt.
Es ist faszinierend, wie genau, sensibel, mitunter ironisch Christine Lavant formuliert, ohne jemals irgendeine der Figuren
zu denunzieren. Sie kennt deren Sprache mit ihrer eigentümlichen Idiomatik bis in die alltäglichsten, scheinbar selbstverständlichsten
Wendungen hinein, und ist in der Lage, sie nicht nur in den Dialogpartien authentisch einzusetzen, sondern auch für den Erzählertext [2/ S. 235:] zu funktionalisieren: »Die darstellende Perspektive und die Nachempfindung der Perspektive einer Figur / Person sind oft
ineinsgesetzt.« - so die beiden Herausgeberinnen Ursula A. Schneider und Annette Steinsiek, die dem Buch insgesamt mit Hilfe
eines aufschlußreichen Glossars und eines knappen, aber informativen und anregend zu lesenden editorischen Anhangs außerordentlich
dienlich gewesen sind.
Arno Rußegger
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