Entstehungskontext
Am 21. Oktober 1965, zwei Monate nachdem sein Debütroman Die Hornissen vom Suhrkamp Verlag angenommen worden war, schrieb Peter Handke an seinen Verleger Siegfried Unseld: »Ich habe gerade mit Ach und Krach ein Stück geschrieben. Es heißt "Publikumsbeschimpfung" und ist mein erstes und mein letztes«. (Handke / Unseld 2012, S. 17) Der Brief gibt einen ersten Hinweis auf die Entstehungszeit des Stückes. In einem Interview anlässlich der Uraufführung von Spuren der Verirrten (Handke / Focus 7/2007, S. 66) erinnerte sich Handke, er habe sein erstes Stück auf Anraten Unselds geschrieben, der meinte, vom Romanschreiben könne man nicht leben, mit Stücken könne man aber Geld verdienen. Glaubt man dieser Darstellung, muss er das Stück in der kurzen Zeit zwischen seinem ersten Treffen mit Unseld in Frankfurt am 9. September und dem Brief vom 21. Oktober 1965 geschrieben haben.
Zu dieser Zeit lebte Handke in einem kleinen Untermietzimmer in Graz-Waltendorf, Rosenhang 6, und studierte im vierten Jahr Rechtswissenschaften an der Universität Graz. Er war mit der Schauspielerin Libgart Schwarz liiert, die in der sogenannten »Theater-Pension« Rückert in Graz wohnte (vgl. Pichler 2002, S. 62). Er hielt sich im Kreis der Grazer Autoren und Künstler um die Künstlervereinigung Forum Stadtpark auf, wobei ihn mit einigen, wie etwa dem Schriftsteller Alfred Kolleritsch, einem Mitbegründer der Literaturzeitschrift manuskripte, eine bis heute andauernde Freundschaft verbindet. »Ich war ja damals mit einer Schauspielerin zusammen«, erinnerte sich Handke im Focus-Interview weiter, »und wegen ihr viel im Theater. Es hat mich genervt, wie damals gespielt wurde, wie die Stücke Natur vorgetäuscht haben. Und so kam’s zur "Publikumsbeschimpfung", natürlich auch aus der Begeisterung für die Beatles damals.« Neben dem Studium schrieb Handke Buchbesprechungen für die Sendung Bücherecke im Österreichischen Rundfunk Landesstudio Steiermark. Für die am 29. November 1965 ausgestrahlte Sendung besprach er zeitgenössische Dramentexte. Die vorbereitende Lektüre für diese Sendung könnte das Schreiben seines ersten Stücks ebenfalls mitinitiiert haben. Am Sendungsbeginn heißt es: »Das moderne Drama besteht aus Ausbruchsversuchen. Es versucht auszubrechen aus der Welt des Theaters, in die es jahrhundertelange Konventionen eingekapselt hat. Das moderne Drama möchte das Theater nicht zu einer eigenen Welt machen, die verschieden ist von der Welt der Zuschauer; das Theater soll wieder ein Teil der Welt der Zuschauer werden.« Genau das ist Thema seines ersten Theaterstücks. »Das Problem der Diskrepanz zwischen Spiel und Wirklichkeit ist noch immer ungelöst« (ÖLA/SPH/ LW/W165/10), lautet der Schluss der Sendung – eine mögliche Lösung versucht das Stück Publikumsbeschimpfung.
Die Übergabe des Stücks an Siegfried Unseld fand bei einem Treffen am 3. November 1965 in Wien statt. Am 18. November schrieb Unseld an Handke: »Ich habe "Publikumsbeschimpfung" jetzt gelesen und den Text auch meinen Mitarbeitern im Theaterverlag gegeben. Wir stimmen überein, es ist Ihnen da ein wirklich schönes Stück gelungen, das auch Aufführungschancen hat.« Karlheinz Braun, der Leiter des Suhrkamp Theaterverlags, stellte sich daraufhin am 8. Dezember 1965 bei Handke schriftlich vor und schwärmte von dem Stück: »Das hat Witz und Tiefe, beschäftigt sich mit dem, mit dem sich alle dramatischen Autoren beschäftigen müßten – aber Sie machen es auf eine derart direkte Weise, daß einem – und hoffentlich auch denen, auf die es gemünzt ist – die Spucke wegbleibt.« (Handke / Unseld 2012, S. 21, Anm. 1) Trotz aller Begeisterung für das Stück gestaltete sich die Suche nach einem geeigneten Theater für die Aufführung schwierig. Braun erinnerte sich in einem Gespräch anlässlich einer Inszenierung von Publikumsbeschimpfung im Hamburger Thalia Theater 2004: »Ich verschickte den Text über Wochen und Monate an viele Intendanten und Dramaturgen, die mich ausnahmslos für verrückt erklärten: selten in meiner über vierzigjährigen Verlagsarbeit erhielt ich auf ein Stück derart empörte Reaktionen. [...] Die Ablehnung bei den Theatermachern beruhte sicherlich auf dieser Provokation: sie sahen nur die ›Beschimpfung‹ (ihres braven Publikums) und weniger den theatralischen Essay übers Theater, der das Stück auch ist. Hermann Beil, Peymanns dramaturgischer Mitarbeiter vieler Jahre, berichtet, er habe seinerzeit als junger Dramaturg bei den Städtischen Bühnen Frankfurt einen Zettel mit einer Notiz des damaligen Generalintendanten Harry Buckwitz gefunden, auf dem stand: ›Mir graust vor diesem Stück.‹« (Das Gespräch erschien im Programmheft zur Aufführung, am 9.11.2004.) Uraufgeführt wurde das Stück schließlich am 8. Juni 1966 im Rahmen des neugegründeten und von Karlheinz Braun und Peter Iden kuratierten Festivals Experimenta I im Theater am Turm Frankfurt. Regie führte Claus Peymann. Die Dramturgie übernahm Wolfgang Wiens. Die Sprecher waren Michael Gruner, Ulrich Hass, Rüdiger Vogler und Claus Dieter Reents. Das Stück war ein großer Erfolg – nicht zuletzt deshalb, weil Handke eineinhalb Monate vorher, bei seinem Auftritt bei der Tagung der Gruppe 47 in Princeton/USA, für Schlagzeilen gesorgt hatte. Beides zusammen – Princeton und die Publikumsbeschimpfung – machte den 24-jährigen Autor, der den konventionellen Literatur- und Theaterbetrieb radikal infrage stellte, über Nacht berühmt.
Gedruckt erschienen ist das Stück zuerst in der österreichischen Literaturzeitschrift manuskripte, Heft 16, 1966. Drei Monate nach der Uraufführung, am 10. September 1966, veröffentlichte der Suhrkamp Verlag den Text zusammen mit zwei weiteren Sprechstücken in der Reihe edition suhrkamp. (kp)
-
Publikumsbeschimpfung. Sprechstück (letzte Textfassung)
Typoskript 1-zeilig, 25 Blatt, 11.12.1965 -
Publikumsbeschimpfung
Bühnenbuch, Exemplar von Peter Handke, 56 Seiten, ??.01.1966 -
Publikumsbeschimpfung
2 Bühnenbücher, Exemplare des Suhrkamp Theaterverlags, 56 Seiten, ??.01.1966 bis ??.05.1966