Dieses Konvolut aus dem Bestand der Literaturzeitschrift protokolle enthält verschiedene Materialien zu Peter Handkes Theaterstück Der Ritt über den Bodensee: Zwei beidseitig, mit blauem Kugelschreiber und lila Filzstift beschriebene DIN-A5-Blätter eines Briefpapieres mit der Adressaufschrift »Via Andregari, 4 [/] Milano« (Bl. 1r/v-2r/v) und drei sogenannte »Abfallblätter«, Blätter die beim Schreiben der ersten Textfassung verworfen und dann für Notizen während des Schreibens verwendet wurden (Bl. 3-5).
Die zwei Briefpapierblätter enthalten unterschiedlich einzuordnende Aufzeichnungen. Auf der Vorderseites der beiden Blätter sind drei mit den Nummern »3« (Bl. 1r), »4« und »5« (Bl. 2r) gekennzeichnete Notizen, genauer fertigformulierte inhaltliche Sequenzen geschrieben. Sie wurden durchgängig mit blauem Kugelschreiber angefertigt und lauten zum Beispiel: »4 Einmal habe ich ein Stück gesehen "Die Physiker" von Friedrich Dürrenmatt. In diesem Stück wird, glaube ich, eine junge Frau mit ihrem Vorhang erdrosselt und liegt nun, während das Stück weitergeht, auf der Bühne unter dem Vorhang. Ich konnte aber der Handlung nicht mehr folgen, weil ich die ganze Zeit daran dachte an die Schauspielerin unter dem Vorhang dachte.« (Bl. 2r) Diese und eine weitere Sequenz findet man in veränderter Weise eingearbeitet in Peter Handkes Besprechung von Wolfgang Bauers Magic Afternoon, die zuerst am 30. November/1. Dezember 1968 in der Münchner Abendzeitung und am 24. April 1970 in den Nürnberger Nachrichten erschien (wiederabgedruckt in IBE 195ff.), also kurz bevor Handke an Der Ritt über den Bodensee zu schreiben begann. Ob es sich um Notizen zur Besprechung handelt oder ob die Notizen ursprünglich für einen anderen Text (vielleicht auch schon für den Ritt) gedacht waren, ist schwer zu sagen.
Auf der Rückseite der beiden Briefpapierblätter finden sich nun Notizen mit lila Filzstift, blauem Kugelschreiber und die Ziffer »104« mit rotem Kugelschreiber. Es sind jene Schreibstifte, die Handke auch bei den handschriftlichen Korrekturen der ersten Textfassung verwendete. Die Notizen sind schnell (wie nebenbei) geschrieben und nur schwer zu entziffern, können aber eindeutig Stellen im Stück zugeordnet werden. Zum Beispiel wurde aus der Notiz: »Sie reden von der Stewardeß: "Reden wir von was anderem["] Sie reden von der Frau, die auf der Straße steht, aber trotzdem keine Hure ist "Reden wir.." Sie reden von dem Mann mit der langen Nase, der aber trotzdem ...« (Bl. 1v) die Dialogsequenz: »Emil Jannings beginnt eine Geschichte: "Kürzlich sah ich eine Stewardeß, aber eine häßliche –" Stroheim unterbricht ihn: "Reden wir von etwas anderem!" Emil Jannings beginnt eine andere Geschichte: "Vor noch nicht langer Zeit sah ich eine Frau auf der Straße stehen, keine Nutte, muß ich dazusagen –"« George unterbricht ihn: "Was andres!"« (DRB 82). Oder die Notiz: »104 wie wenn man bei Regen über die Straße geht und auf der anderen Seite den Regenschirm zusammenklappt« (Bl. 2v) wurde zu: »Henny Porten: "Einmal, bei Regen, ging ich mit aufgespanntem Regenschirm über eine breite, dichtbefahrene Straße. Als ich endlich auf der anderen Seite angekommen war, ertappte ich mich dabei, wie ich den Regenschirm zusammenfaltete."« (DRB 47) Oder die kurze Notiz »"Bin ich dir zu ...?"« findet sich in der Stelle in der Stroheim und Porten Machtverhältnisse von Mann und Frau vorspielen. Porten: »Bin ich dir zu schwer? Ist dir meine Nase zu groß? Bin ich dir zu vernünftig? Bin ich dir zu laut? Sind dir meine Brüste zu klein? Bin ich dir zu fett? Bin ich dir zu schnell? Bin ich dir zu mager?« (DRB 67)
Die drei »Abfallblätter« beziehen sich auf unterschiedliche Stellen im Stück. Der Text auf dem ersten Blatt reicht über die Hälfte der Seite und beginnt: »Tisch. Stroheim legt die Handschuhe dazu. Alles klappt" Alice Kessler zu Stroheim: Was hast du da in der Hand?" Stroheim öffnet die Hand: "Ein Halsband. Ja, ein Halsband!" Alice Kessler: "Es ist schön!"« (Bl. 3) Der Anfang des Blatts ist bis auf kleine Veränderungen und Korrekturen ident mit dem Text der ersten Textfassung (ÖLA SPH/LW/W43, Bl. 28, vgl. DRB 85ff.). Die letzten neun Zeilen nach der Stelle: »"Ich war in Gedanken dabei, mich selber in den Arm zu kneifen." Alice, bewegungslos: "Schon vergessen."« (Bl. 3, Bl. 28) hat Handke jedoch noch einmal verändert. Unter den Typoskripttext am »Abfallblatt« machte sich Handke mit rotem Kugelschreiber eine Notiz: »Rollen {xxx} [in Stenokürzel] Danke etc. Fragmente v. Rollen« (Bl. 3)
Auf dem zweiten »Abfallblatt« tippte Handke nur zweieinhalb Zeilen, bevor er neu ansetzte. »holen!" Henny Porten: (sich erinnernd) "Ja! Wie ich da gezappelt habe!" Stroheim, als er wegschaute, hat zugleich zu Jannings gesagt: "Sie wollten etwas sagen?" Jannings« (Bl. 4). Sie unterscheiden sich nur um einen kleinen Einschub von der ersten Textfassung (ÖLA SPH/LW/W43, Bl. 31; vgl. DRB 95). Darunter notierte Handke, wieder mit rotem Kugelschreiber: »Schnell wegnemen, bevor er sich daran gewöhnt hat, daß es ihm gehört« und »mit dem Fuß die Sache des anderen weg{fegen}« (Bl. 4).
Auf dem dritten »Abfallblatt« ist wieder die Hälfte der Seite beschrieben. Der Text referriert auf eine frühere Stelle des Stücks und beginnt: »du sagen willst! Der Kreis! Ich werde schwindlig, wenn ich mir einen vorstellen soll. Und wenn ich schwindlig werde, werde ich zornig.« (Bl. 5) Wieder ist der Text bis auf kleine Änderungen ident mit dem der ersten Textfassung (ÖLA SPH/LW/W43, Bl. 28; vgl. DRB 68) Auf der nicht mit Schreibmaschine beschriebenen Hälfte des Blatts notierte Handke (teilweise in Stenografiekürzeln) Stichwörter zur Konzeption oder auch ganze Dialogsätze, ordnete seine mit Ziffern versehenen Notizen Szenen zu oder notierte überhaupt nur eine Reihe von Zahlen. Manche Notizen wurden von ihm nach der Verwendung abgehakt. (kp)
1 Manuskript, 2 Blatt (beidseitig beschrieben) und 1 Typoskript 1-zeilig, 3 Blatt, fol.1-5