Ins tiefe Österreich

Notizbuch, 170 Seiten, 15.03.1976 bis 16.04.1976

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Beschreibung

Dieses braune, spiralgebundene Notizbuch versammelt Notizen Peter Handkes aus der Zeit von 15. März bis 16. April 1974. Es umfasst 170 Seiten, die vom Autor von 1-170 paginiert wurden, wobei er die Seitenzahlen 126 und 127 doppelt verwendete. Am vorderen Vorsatz notierte er seine damalige Wohnadresse im 16. Arrondissement in Paris, Boulevard de Montmorency sowie, vermutlich falls das Buch verloren gehen sollte, die Adresse der österreichischen Botschaft in Paris. Dieses Notizbuch ist das erste von insgesamt acht, die dem Schreibprojekt »Ins tiefe Österreich« (Bl. I) zugeordnet sind. Den Projekttitel notierte Handke gleich dreimal am vorderen Vorsatz – einmal in der Variante »Im tiefen Österreich«. (Bl. I). Der Vermerk »Notizen 2« (Bl. I) vor dem ersten Titeleintrag lässt vermuten, dass es bereits »Notizen 1« zu diesem Projekt gab; ein solches Notizbuch befindet sich jedoch in keinem der öffentlichen Archive.

Sämtliche Einträge in diesem Notizbuch entstanden in Paris oder in Vororten von Paris – in Neuilly (S. 116, 128, 146) und in Villeneuve St. Georges (S. 154ff.) Straßennamen erwähnt Handke dabei selten; Cafés oder Kirchen, die er besuchte, werden nie mit Namen genannt. Handke unternahm in dieser Zeit keine Reisen. Einen großen Teil der Aufzeichnungen (62 Seiten) notierte er allerdings in einer anderen Art Ausnahmesituation: Von 26. März bis 1. April 1976 wurde er wegen starker Herzrhythmusstörungen und Brustschmerzen, die von Angstzuständen begleitet waren, in einem Pariser Krankenhaus stationär behandelt. Während dieser Zeit im Krankenbett notierte Handke vor allem Selbstbeobachtungen sowie seine Eindrücke vom Krankenhauspersonal und seinen Bettnachbarn.

Bereits kurz vor seiner Aufnahme ins Krankenhaus (ab. S. 34) kreisen seine Notizen verstärkt um die Themen Angst, Schmerz, Tod und Leben; sie machen einen inhaltlichen Schwerpunkt des Notizbuchs aus. »Wenn endlich die Bedrückung und Todesfurcht nur ein einfacher Schmerz des Körpers werden!« (S. 39) Oder »Ja, ich habe den ganzen Tag still und aufmerksam und listig gegen den Tod gekämpft!« (S. 42) Die Todesangst führt sogar zu Einträgen wie: »Ich betete: "Bitte, Gott, laß mich leben. Laß mich leben"« (S. 40). Die Angstzustände betimmen aber auch noch zwei Wochen nach seinem Krankenhausaufenthalt sein Leben. Erst gegen Ende des Notizbuchs, findet man, trotz der prägenden Einsicht, jeden Tag in Gefahr zu sein (S. 146),  Einträge, die eine Besserung bedeuten (z. B.: S. 157). Die Erfahrungen im Krankenhaus gaben Anlass zu einer Neuorientierung. Nach seiner Entlassung am 1. April 1976 notierte er: »An diesem schönstmöglichen Tag der Welt gehe ich, aus dem Krankenhaus entlassen, umher mit dem Gefühl (?), ich hätte nichts versäumt, wenn ich jetzt tot wäre (16h25) Ich muß hier draußen, in der Stadt, herausfinden, wer ich bin, wer ich geworden bin« (S. 108).

Seine sukzessive Genesung kann man bereits im Krankenhaus an seinem sich mehr und mehr von innen nach außen richtenden Blick und den an Häufigkeit zunehmenden Lektürenotizen erkennen. Handke liest in dieser Zeit vor allem Goethes Wahlverwandtschaften, aus denen er sich viele Zitate herausschreibt; er findet dort ein Motto für seine Erzählung die Die linkshändige Frau (S. 107). Zu seiner Lektüre zählen auch Hesses Unterm Rad oder Kafkas Tagebücher und Briefe an Milena. Etliche andere Autoren werden erwähnt, ohne erkennbarer zeitgleicher Lektüre.

Einem Brief an Siegfried Unseld nach (Handke / Unseld 2012, S. 300), dürfte er während des Krankenhausaufenthalts die dritte Textfassung seiner Erzählung Die linkshändige Frau korrigiert haben. Es finden sich dazu im Notizbuch allerdings erst im hinteren Teil Nachträge bzw. Einfügungen (S. 160, 166-I*). Mit der Erzählung und sicherlich auch mit seiner Situation als alleinerziehender Vater hängen die vielen Einträge über Frauen, über Begehren, Lust, Liebe, Alleinsein und Einsamkeit zusammen. Sie bilden einen zweiten thematischen Schwerpunkt der Notizen.

Seine Tochter wohnte während der Krankenhauswoche bei Freunden, »Herrn und Frau G.«, die in Neuilly ein Mietshaus hatten. Handke übernachtete die erste Zeit nach seiner Entlassung auch dort. (Handke / Unseld 2012, S. 300) Viele Notizen handeln von seinen Freunden und seiner Tochter. Die Krankheit bewirkte überhaupt eine Reflexion seiner Verhaltensweise anderen Menschen gegenüber (beispielsweise S. 25, 89f., 91, 143).

Das Notieren als Versuch, die Angst zu verstehen und sich des Lebens neu versichern, erfordert rigide Selbstbeobachtung. Schmerz und Glück, Todesangst und Dankbarkeit empfindet er dabei gleichzeitig oder im permanenten Wechsel (S. 103, 152), ebenso das Gefühl der »Unwirklichkeit«, »Unverbundenheit« (S. 129, 130) oder Stumpfheit durch Angst (S. 146) in der Abwechslung mit epiphanischen Glückmomenten in der Naturbetrachtung (beispielsweise S. 150): »Alles draußen scheint mir so innig schön, aber nicht als sei es schon die Offenbarung, sondern als stünde diese unmittelbar bevor – als stünde diese unmittelbar bevor und als würde sie für ewig so unmittelbar bevorstehen!« (S. 98)

Diese Empfindungen werden von ihm noch in den Notizen in seinen Schreibauftrag übersetzt: »Das Gefühl, die Vergangenheit völlig vergessen zu müssen, um mich nicht mehr unter einem Brustschmerz zu winden: ich muß mein Gedächtnis verlieren!« (S. 62) – »Du mußt dein Gedächtnis verlieren (und ein Gedächtnis für die anderen werden)« (S. 72) Immer wieder formuliert er sich sein poetisches Arbeitsprogramm: »Die vergessene, angemessene Sprache aller Menschen wiederfinden – und sie wird erstrahlen in Selbstverständlichkeit (meine Arbeit)« (S. 30). Er will »etwas schreiben, das von Wahrheit durchschauert ist« (S. 97). Oder es geht ihm um ein »Schreiben aus der tiefsten Seele, unter Betreuung durch den Verstand« (S. 119). Die Poetik der Halbschlafbilder, in denen es kein Innen und kein Außen mehr gibt, wird dabei immer wieder als Vorbild genannt (S. 13). Das Notizbuch enthält auch etliche Traumnotizen.

Das Schreibprojekt »Ins tiefe Österreich« entwickelt in den Notizen noch keine deutlichen Konturen. Für den Leser des Notizbuchs lässt sich noch kein Schreibplan erkennen. Bei den Einträgen handelt es sich vielmehr um spontane Aufzeichnungen von Bewusstseinseindrücken. Darunter findet man vereinzelt auch durch Gerüche oder Tätigkeiten geweckte Erinnerungen an die Familie – an seine Mutter vor allem (S. 8, 21, 35, 76, 118), den Vater und Stiefvater (S. 82), den Großvater (S. 30, 89, S. 140) und die Großmutter (S. 100), oder auch an Handlungen als Kind – das Butterkaufen im Sommer (S. 9), das Osterfeuer (S. 116, S. 155), Ostereierfärben (S. 127), in Silberpapier eingewickelte Schokolade (S. 146), das Heimatdorf mit dem Wiesendreick als Spielort (Handke fertigte dazu eine kleine Skizze von dem »Dreieck« (S. 104) an) oder die »Schweinewiese« (S. 106) und an das Internat. In dem Notizbuch findet man nur zwei kleine Skizzen Handkes, aber zwei Einträge in denen er seine plötzliche Lust zu zeichnen aufschreibt (S. 150, 166). Ein Großteil der Notizen wurde in das Journal Das Gewicht der Welt aufgenommen.  (kp)

Werkbezüge

Die linkshändige Frau

Die Einträge dieses Notizbuchs umfassen zeitlich die vier Wochen zwischen 15. März und 16. April 1976. Sie entstanden alle in Paris und in Vororten von Paris; die letzte Märzwoche verbrachte Handke dabei wegen heftiger Herzrhythmusstörungen in einem Pariser Krankenhaus. Obwohl er bis nach seiner Entlassung am 1. April die dritte Textfassung seiner Filmerzählung Die linkshändige Frau noch einmal überarbeitet hatte, und sich am 11. April mit seinem Verleger, Siegfried Unseld, traf, um die Korrekturen zu besprechen, findet man nur wenige die Erzählung betreffende Aufzeichnungen. In etlichen Notizen reflektiert Handke über Frauen, seine Beziehungen zu anderen, über Liebe, Alleinsein und Einsamkeit auch im Zusammenhang mit Selbstverwirklichung und schreibt damit das bestimmende Thema der Filmerzählung weiter. Diese Notizen verändern jedoch den bestehenden Text der Linkshändigen Frau nicht mehr.

Dass die Frau nicht nur Heldin, sondern selbst zur Idee und zum Leitmotiv seines Schreibens wird, belegt eine Notiz, die im Vergleich zu einem Eintrag aus dem vorhergehenden Notizbuch »Eine Woche im März« deutlicher wird. Dort notierte Handke: »"für die Unbekannte, die mir in einer Gasse entgegenkam und seitdem immer + nirgends" (Die linkshändige Frau)« (ÖLA SPH/LW/W73, S. 9). Hier bestimmt er für sich genauer: »Alles Schöne ist nur wegen einer erträumten Frau entstanden, nie wegen einer wirklichen; immer wegen einer Unbekannten, nie wegen einer Bekannten« (S. 12).

Während seines Krankenhausaufenthalts las Handke Goethes Wahlverwandtschaften und notierte sich am Tag seiner Entlassung daraus den Satz: »"So setzen alle zusammen, jeder auf seine Weise, das tägliche Leben fort, mit und ohne Nachdenken; alles scheint seinen gewöhnlichen Gang zu gehen, wie manchmal in ungeheuren Fällen, wo alles auf dem Spiele steht, noch immer so fort lebt, als wenn von nichts die Rede wäre" (Das als Motto an den Schluß von "Die linkshändige Frau")« (S. 107) Das Motto wurde von ihm seiner Typoskriptkopie (Textfassung 3b) auf der letzten Seite nachgetragen.

Konkrete Aufzeichnungen zur Filmerzählung findet man eher im hinteren Teil des Notizbuchs, vor allem auf den letzten drei Seiten zwischen Telefonnummern und Adressen geschrieben (S. 169-171). Die Notizen betreffen die Figur Bruno (S. 122 u. 130f.), den Schauspieler (S. 169 u. 170) und Marianne. Es sind eher lange Einfügungen, eine lautet beispielsweise: »Der Schauspieler (am Fenster in der Nacht) schaute die Frau so lange an, bis sie ihn auch anschaute. Plötzlich erzählte sie: "Ich lag einmal im Krankenhaus, und da sah ich, wie eine sehr alte kranke todtraurige Frau die bei ihr stehende Krankenschwester streichelte, aber nur ihren Daumennagel, immer wieder den Daumennagel. Das ist mir jetzt eingefallen." Sie schauten einander immer weiter an; das Gesicht der Frau begann zu leuchten, obwohl keine Miene sich veränderte.« (S. 171) Im Krankenhaus hatte sich Handke zuvor notiert: »Der alte Kranke streichelt den Fingernagel der Krankenschwester« (S. 84).

Zwei weitere, für die Linkshändige Frau nicht unwichtige Hinweise findet man in diesem Notizbuch; sie belegen, dass Handke zu zeichnen begonnen hat. Am 10. April notierte er: »Und wieder die Lust zu zeichnen« (S. 150) und fünf Tage später, am 15. April: »Vor ein paar Tagen, als ich etwas zeichnete, machte ich zum ersten Mal eine Linie (die Kurve einer Hyazinthenblüte) in EINEM Schwung (bis jetzt strichelte ich nur)« (S. 166). Mit der Hyazinthenblüte könnte Handke die Titelblattzeichnung meinen, die er für die von ihm korrigierte Typoskriptkopie angefertigt hat. (kp)

Tabellarische Daten

Titel, Datum und Ort

Eingetragene Werktitel (laut Vorsatzblatt): 

Notizen 2: für „Ins tiefe Österreich“
1) Ins tiefe Österreich
2) Im tiefen Österreich

Entstehungsdatum (laut Vorlage):  15.3.76 - 15.4.76 [Buchumschlag]; bis 16.4.[Eintrag im Notizbuch, Bl. 166]
Datum normiert:  15.03.1976 bis 16.04.1976
Entstehungsorte (laut Vorsatzblatt): 

Paris

Zusätzlich eingetragene Entstehungsorte: 

Stadtrandbahnhof [in Paris] (S. 17); Park (S. 39); rue d'Auteuil (S. 43); Krankenwagen (S. 46); [Krankenhaus (S. 46-108)]; Krankenhaus (S. 108), Allée Marcel Proust (S. 109); Boulevard St. Germain (S. 110); Rond Point (S. 110), Neuilly (S. 116); Champs Élyseés (S. 116); Place Concorde und Champs Élyseés (S. 125); Neuilly (S. 128); Krankenhaus (S. 144); Neuilly (S. 146), Auteuil (S. 153); Villeneuve St. Georges [bei Paris] (S. 154); Avenue des Fusillés (S. 155)

Materialart und Besitz

Besitz 1:  Deutsches Literaturarchiv Marbach
Art, Umfang, Anzahl: 

1 braunes Notizbuch, kariert mit Spiralbindung, 170 Seiten, I, pag. 1-127, 126-127 [doppelt gezählt], 128-166, 169-170, I*

Format:  8,7 x 13,8 cm
Schreibstoff:  Kugelschreiber (blau, rot), Filzstift (schwarz), Buntstift (rot), Fineliner (rot, schwarz, blau), Bleistift, Füllfeder (schwarz)

Nachweisbare Lektüren

  • Katherine Mansfield (S. 9, 12)
  • John Cowper Powys: Wolf Solent (S. 12); über J. C. Powys (S. 92), [Glastonbury Romance?] (S. 110)
  • Über einen Film von Jean Renoir (S. 16)
  • Über Bertolt Brecht (S. 21, 131)
  • Die Teilnehmer einer Fernsehdiskussion betrachten wie Sharewood Anderson die Bewohner in Winesburg, Ohio (S. 22)
  • Über das Zeitunglesen (S. 25, 60f., 153)
  • Über Sendungen im Fernsehen oder Fernsehen allgemein (S. 33, 42, 101)
  • Über konkrete Poesie, Surrealismus und Dadaismus (S. 35)
  • Martin Walser: Jenseits der Liebe (S. 3 6)
  • Hermann Hesse: Unterm Rad (S. 46); Vergleich mit Hesse (S. 87, 88)
  • Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (S. 61, 96, 99, 100-103, 106-107, evt. 117-118, 138-139, [140-141?], 142, 158, 166); Lernen von Goehte (S. 99, 100)
  • Über Marcel Proust und Walter Benjamin (S. 62)
  • Über Franz Kafka (S. 71); F. Kafka: Tagebuch (S. 73, 74ff.), Briefe an Milena (S. 78, 144f.-145)
  • Volker Schlöndorff: Interview vermutlich aus der Zeitung (S. 87)
  • Über Alain Robbe-Grillet (S. 103)
  • Vergleich mit Vincent Van Gogh (S. 105)
  • Vergleich Goethes mit Adalbert Stifter: Nachsommer (S. 107)
  • Über Peter Schneider (S. 115)
  • John Ford (S. 122f.)
  • Heinrich Tessenow (S. 131)
  • Van Morrisson: Slim Slow Slider von der Platte Astral Weeks (S. 133, 134)
  • Über eine Schriftstellerin o. N. (S. 159)

Ergänzende Bemerkungen

Illustrationen: 

 

  • kleine Zeichnung einer Notenzeile mit der erklärenden Notiz: »Wenn der alte Kranke fragt, wiederholt die Schwester seine Frage als Antwort SINGEND«, unter den Noten steht das Wort »Be-fe-stigt (enerviert)« (S. 80)
  • Skizze des sogennanten »Dreiecks«, einer Strassenkreuzung mit einem Wiesendreieck in der Mitte, in Handkes Heimatort (S. 104)
  • Skizze eines Kerzenanzünders in einer Kirche (S. 126)
  • Schachbrettmuster von Amina oder Peter Handke (S. 127)
  • Zeichnung von Amina Handke, datiert mit 10.4.1976 (S. 147)