MUSS MAN LESEN! - MUSS MAN LESEN?
Von den jedermann bekannten Büchern muß man nur
die allerbesten lesen und dann lauter solche, die fast niemand kennt,
deren Verfasser aber sonst Männer von Geist sind.
(Georg Christoph Lichtenberg)
Wo immer es Literatur in Fülle gibt, werden Personen oder Gruppen nicht weit sein,
die es sich zur Aufgabe gemacht haben, diese Literatur qualitativ zu bewerten und
so dem potentiellen Leser die Qual der Wahl zu erleichtern.
Hinter diesem Phänomen
steht die aufklärerische Idee von der Nützlichkeit der Literatur für die geistige
Weiterentwicklung des Menschen. Lesen solle schließlich eine intellektuelle Herausforderung
bleiben und nicht zum reinen Vergnügen absinken. Ein gutes Buch habe philosophische
Qualitäten aufzuweisen, die das sittliche Denken und Handeln des Menschen fördern
und so zu dessen Besserung und Vervollkommnung beitragen. Reaktionäres Gedankengut
freilich, aber ist es im Kern tatsächlich so verschieden von heutigem Bildungsdiktat?
Dichterische Werke, die in ihrer Aussage von einer Elite als allgemein und dauerhaft
gültig erachtet werden, bilden einen Maßstab: Was anerkannt ist, wird als bekannt
vorausgesetzt, hat also jeder kennenzulernen.
Aus der Masse das Exemplarische herauszufiltern, ist bis heute die Grundlage jeder Kanonbildung
geblieben. Da Werte einem historischen Wandel unterliegen, bedarf es natürlich einer steten
Überprüfung, was uns heutigen Menschen die literarischen Werke früherer Zeiten
noch zu sagen haben. Was muss man abseits der Bestsellerlisten gelesen haben,
um als gebildet zu gelten? Eine Frage, die für viele relevant zu sein scheint,
denn gemessen am Angebot der Lektüreratgeber muss das Bedürfnis nach Lenkung der
Lesegewohnheiten ein ungebrochenes sein.
Letztendlich bleibt es der Entscheidung jedes einzelnen Lesers überlassen, ob er sich von
Literatur dieser Art gängeln lässt oder diese als bloße Orientierungshilfe betrachtet.
Peter Jungmayer
"Die Frage, ob wir einen solchen Katalog benötigen,
ist mir unverständlich, denn der Verzicht auf einen Kanon würde den Rückfall in
die Barbarei bedeuten."
(Marcel Reich-Ranicki)
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