ISSN: 1680-8975 PURL: http://purl.org/sichtungen/ |
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Anneke Thiel: Vom Schreiben 6: Aus der Hand oder Was mit den Büchern geschieht. Mit einer Vorrede von Detlef Opitz: Schicksale Scheusale Labsale – Bücher. Bearb. von Helmuth Mojem und Reinhard Tgahrt zusammen mit Ulrike Weiß. Marbach / Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1999 (= Marbacher Magazin 88), 416 S., ISBN 3-933679-28-1, € (A) 13,20 / € (D) 12,80. Rezension (20. 04. 2002). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/thiel-a-2a.html ([aktuelles Datum]). |
Anneke Thiel Koppel 24, D-20099 Hamburg Adressinformation zuletzt aktualisiert: 2002 |
Vom Schreiben 6: Aus der Hand oder Was mit den Büchern geschieht. Mit einer Vorrede von Detlef Opitz: Schicksale Scheusale Labsale – Bücher. Bearb. von Helmuth Mojem und Reinhard Tgahrt zusammen mit Ulrike Weiß. Marbach / Neckar: Deutsche Schillergesellschaft 1999 (= Marbacher Magazin 88), 416 S., ISBN 3-933679-28-1, € (A) 13,20 / € (D) 12,80RezensionAnneke Thiel |
Die Dreifachnummer des »Marbacher Magazins«: »Aus der Hand«, umfangreich und üppig (wenn auch schwarz-weiß) bebildert, begleitete die Ausstellungen gleichen Titels in den Nationalmuseen der deutschen Dioskuren – in Weimar und in Marbach von September 1999 bis Januar 2000. »Vom Schreiben 6« bildet den letzten Band einer Reihe von »Marbacher Magazinen«, die der Chronologie des Entstehungsprozesses literarischer Texte nachempfunden ist: Vom Anfangen im Angesicht des noch jungfräulich weißen Blatts Papier (»Vom Schreiben 1«) über die Schreibgeräte, die Stimulanzien und die Schreiborte der Dichter bis hin zu den nicht eingelösten Versprechungen, Ankündigungen, (Selbst-)Verpflichtungen der Autoren (»Vom Schreiben 5«) reichte bislang das Spektrum, um nun – zu guter Letzt – zu Schriftstellers Glück und Ende vorangetrieben zu werden, zum Moment der Vollendung, in dem das ›manu scriptum‹ die Hand, der es sich verdankt, auf diese oder jene Weise verläßt. Nämlich: leichten Herzens, mit Glück-auf-dem-Weg! der Obhut eines anderen anvertraut durch Widmung oder Zueignung; mit verführerischen Zutaten, die dem in die Welt entlassenen Werk rasch eine neue Heimstatt auftun sollen: im Regal des geneigten Käufers. Oder, auf weniger ehrbarem Weg, durch Kassation übelwollender Zensoren oder infamer Plagiatoren, die sich die fremden Federn an den eigenen Hut stecken wollen; mitunter bedarf es für den endgültigen Abschied auch neuerlichen Hand-ans-Werk-Legens. Vielfältig sind die Geschicke der Bücher, sobald sie ihre Urheber verlassen haben, und noch vielfältiger sind die ausgewählten und dokumentierten Stücke, die sie veranschaulichen, in der überwiegenden Mehrzahl aus den Marbacher Beständen zusammengestellt. In den »Nachbemerkungen« der Bearbeiter Helmuth Mojem und Reinhard Tgahrt heißt es etwas kokettierend von der Zahl der beschriebenen Stücke, sie sei »geradezu unverschämt groß«, und tatsächlich ist der Katalogumfang mit seinen an die 300 Positionen (und rund 150 flankierenden Abbildungen) beträchtlich, indessen kein Grund zum Abbitte-Leisten. Der Mut zur reinen Bücherausstellung, dessen es in den Zeiten von Multimedialität, Bilderflut und Eventkultur zweifellos bedarf, wenn nichts die Sinne vom gedruckten oder geschriebenen Wort ablenken, die Konzentration stören soll, macht sich bezahlt: Selbst das Buch über die Bücher, losgelöst von den immerhin visuellen Reizen der Ausstellung, ist niemals trocken bei aller philologischen Sorgfalt der Kommentierung, niemals verstaubt bei aller archivalischen Findigkeit und Präzision, sondern vielmehr: anschaulich und vergnüglich geraten. Kein Anmerkungsapparat stört den Lesefluß, und dennoch ist dem instruktiven Charakter der Darstellung kein Abbruch getan. Wer die Nachweise (»oft knapper als üblich«, konzedieren die Herausgeber) verfolgen will, findet genügend Wegweiser, um ihnen auf der Spur zu bleiben. »Schicksale Scheusale Labsale – Bücher« beschwört eingangs, auf gut zehn essayistischen Seiten, der Schriftsteller Detlef Opitz, der den Nimbus vom »erhabensten Moment im Leben eines Bücherschreibers« so entschieden wie wortreich relativiert, indem er weidlich das metaphorische Feld von Geburt und Gebären, pardon, abgrast. Das Werk, mit dem man lange schwanger gegangen ist, als ein Kind, das endlich unter Qualen und Anstrengungen den behüteten Innenraum verlassen muß, um in eine unbehauste Außenwelt zu gelangen, aus der schriftstellerischen Obhut ans Licht der Welt befördert zu werden, die so unbarmherzig und emotionslos mit ihm verfahren wird, wie es ihr in den Sinn kommt. Der lang ersehnte und zugleich befürchtete Augenblick der Entbindung des Werks, des »Kindeleins«, der Freiraum = Leere schafft – für ein neues Beginnen, ein neues Austragen doch bloß. »Was mit den Büchern geschieht«, eben nicht nur mit den eigenen, reiht Opitz in autobiographischer Manier und anekdotischer Folge aneinander: Bücher als Köder, ihrem Liebhaber von der Staatssicherheit zugeworfen oder zum erotischen Lockmittel funktionalisiert, das nur begrenzt sein Ziel erreicht; als Objekt der Begierde für den Adoleszenten; als Einsatz beim Glücksspiel, der, wenn Fortuna ihrem Herausforderer nicht gewogen ist, unwiederbringlich verloren geht. Die Schicksale der Bücher sind Legion. Wie diejenigen der Menschen, die sie geschrieben oder denen sie einmal gehört haben. Die kenntnis- und detailreichen Exponatbeschreibungen, die diese Schicksale exemplarisch rekonstruieren, sind im wesentlichen vier Abteilungen zugeordnet: »Zueignung / Eigentum«, »Beiwerk«, »Markt und Policey«, »Verbesserungen? Verbesserungen!«. Ein Stück geht vorneweg, einige, die »für sich selber sprechen«, tun dies zwischendrin: »Außer der Reihe«. Unter den ausgestellten und beschriebenen Stücken aus drei Jahrhunderten finden sich entlegenere und berühmte (wie etwa die kreuzweise zwischen Weimar und Mailand ausgetauschten Widmungen Goethes und Manzonis, die als Aggregationsmoment von »Weltliteratur« seit 1999 auch die ständige Ausstellung des Goethe-Nationalmuseums schmücken, oder die Zueignung par excellence: Hölderlins nämlich an seine Diotima Susette Gontard, versteckt zwischen dem ersten und dem zweiten Band des »Hyperion«. »Wem sonst als Dir« – könnte man Schöneres sich wünschen?) Sie alle laden ein zum Vor- und Zurückblättern, zum kursorischen An- und zum Festlesen, zum Weiter- und zum Wiederlesen. Auch ein Bücherschicksal, fraglos der erfreulicheren Sorte. Anneke Thiel |
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