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Wilhelm Hemecker: Franz Kafka: Der Process. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle. Sechzehn Faksimilebünde (mit typographischer Umschrift) und ein Beiheft im Schuber mit CD-ROM. Basel, Frankfurt / Main: Stroemfeld / Roter Stern 1997, zus. 795 S., OS 2905,-.. Rezension (09. 05. 2002). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/hemecker-w-1a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 1 (1998), S. 157-161.

Wilhelm Hemecker
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Franz Kafka: Der Process. Historisch-Kritische Ausgabe. Hg. von Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle. Sechzehn Faksimilebünde (mit typographischer Umschrift) und ein Beiheft im Schuber mit CD-ROM. Basel, Frankfurt / Main: Stroemfeld / Roter Stern 1997, zus. 795 S., OS 2905,-.

Rezension

Wilhelm Hemecker

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[1/ S. 157:] Was tun mit einem Schuber voller großformatiger Faszikel mit mehr als 300 Handschriften-Faksimilia samt typographischer Umschrift? Liegt hier »eines der reinsten und merkwürdigsten Dichterwerke der Epoche« vor uns, »endlich in seiner Gesamtheit dargeboten in schöner, sorgfältiger Anordnung«? Oder gar »die edelste und bedeutendste Publikation, die heute aus Deutschland kommt«?

[1/ S. 158:] Worte, die Klaus Mann 1935 für die von Max Brod bei Schocken in Berlin herausgegebenen »Gesammelten Schriften« Franz Kafkas gefunden hat[1] - lassen sie sich noch einmal verwenden für das ambitionierte Vorhaben, gegen Ende des »Siècle de Kafka«[2] mit einer Faksimile-Edition »zur Sicherung einer der bedeutendsten Hinterlassenschaften des Abendlandes bei[zutragen]«?[3]

Die Rede ist von der Historisch-Kritischen Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte Franz Kafkas, der »FKA«, im besonderen von Kafkas »Process«, 1997 im Rahmen dieser neuen Gesamtedition erschienen. Schon die ungewohnte Schreibweise des Titels ist signifikant für die Intention der Herausgeber, strikt und konsequent der Handschrift, die im Deutschen Literaturarchiv in Marbach liegt, zu folgen. Max Brods »Prozess«[4] also endgültig ad acta. Aber stand nicht schon auf dem Titelblatt der 1990 bei Fischer erschienenen Einzelausgabe, die auf der von Sir Malcolm Pasley herausgegebenen Kritischen Ausgabe beruht: »in der Fassung der Handschrift«? Und stutzen wir nicht, jetzt erst recht, wenn wir in dieser Ausgabe nach derselben und einzigen Handschrift den Titel in folgender Schreibweise finden: »Der Proceß«?[5]

»Prozess«, »Proceß« oder »Process«? Es geht um mehr als nur um massoretische Texttreue. Es geht um einen anderen Prozeß: um den Editionsprozeß. Und dabei geht es letztlich ums Ganze, das Ganze des Textes oder gar des Werkes, das nach der neuen Ausgabe immer Werk des Lesers bleibt. Denn, so erfahren wir: »Kafka hat keine Romane hinterlassen.«[6]

Um all das zu verstehen, müssen wir uns auf dieses andere, das editionswissenschaftliche Verfahren, zuallererst aber auf Kafkas Schreibprozeß selbst einlassen, der den Verwicklungen und Verwirrungen des Josef K. nur um weniges nachsteht.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1914, nach seiner Entlobung von Felice Bauer, legt Franz Kafka in zehn Quartheften, die er für verschiedenartige Eintragungen benutzt, Teile seines »Process«-Romans nieder. Sehr wahrscheinlich Anfang und Ende zuerst, wonach er dann nach dem »System des Teilballes«, wie er es in seiner späteren Erzählung »Beim Bau der Chinesischen Mauer« beschreibt, mal dieses, mal jenes Kapitel vorantreibt. Diese Hefte löst er jedoch später auf, vermutlich bald nachdem der Schreibprozeß, immer mühsamer werdend - Pasley weist wortstatistisch eindrucksvoll ein zunehmendes Dichterwerden der Handschrift nach -, Mitte Januar 1915 abgebrochen wird. Die so entstandenen losen »Process«-Konvolute - Kapitel, Kapitelfolgen und -fragmente - versieht Kafka teils mit betitelten »Deck«- (Pasley) oder genauer: Vorsatzblättern, teils mit Einschlagblättern, die einem offenbar nicht mehr benötigten Typoskriptdurchschlag der Erzählung »Der Heizer« entstammen.

»Das Manuskript des Romans ›Der Prozess‹ habe ich im Juni 1920 an mich genommen und gleich damals geordnet«, hält Max Brod im Nachwort zur Erstausgabe fest, die 1925 in Berlin erscheint. Von Brod für den Satz eingerichtet, wie Spuren in der Handschrift verraten, war das Manuskript selbst bereits wenige Wochen nach Kafkas Tod - bekanntlich gegen dessen letztwillige Verfügung - in die Druckerei gegangen.

[1/ S. 159:] Warum aber hatte Kafka selbst noch das zerlegte Manuskript teils mit Vorsatz-, teils mit Einschlagblättern versehen? Pasley vermutet, daß Kafka mit den »unterschiedlichen Methoden der Aufbewahrung [...) die ihm vorliegenden Teile des Romans zwei Kategorien zugewiesen hat, der Kategorie der abgeschlossenen (bzw. beinahe abgeschlossenen) Kapitel und der Kategorie solcher Kapitel, deren Abschluß sich noch nicht abzeichnete.«[7] Zudem enthält ein guter Teil der mit Vorsatzblättern versehenen Kapitel jeweils einen waagerechten Strich am Ende des Textes, nach Pasley ein weiteres Indiz dafür, daß diese zu einem zumindest vorläufigen Abschluß gekommen sind. »Gemäß dieser vom Autor vorgenommenen Einteilung werden in der Kritischen Ausgabe die Textteile des Romans in zwei Gruppen (›Kapitel‹ und ›Fragmente‹) dargeboten.«[8]

Genau gegen diese Aufteilung des gesamten Textbestandes in »unvollendete Kapitel« (Brod) bzw. »Fragmente« (Pasley) einerseits und (mehr oder minder) abgeschlossene Teile und deren lineare Verknüpfung andererseits - von Brod nach »Gefühl«, von Pasley nach dem »Ablauf der Handlung« -, gegen die editorische Konstitution eines (so) nicht überlieferten Romans also, richtet sich die neue Historisch-Kritische Ausgabe: »Eine genaue Analyse der Überlieferung verlangt in der Makrostruktur [...] nicht nur, die Unterscheidung von ›vollendeten‹ und ›unvollendeten‹ bzw. fragmentarischen Kapiteln aufzugeben. Der Kritik hält ebenso nicht der Versuch stand, eine verbindliche Abfolge der Kapitel zu (re-)konstruieren [...]. Den Gefallen, die einzelnen Konvolute zu numerieren, hat Kafka der Philologie nicht getan«.[9] Konsequent legt daher die neue Edition die einzelnen Konvolute faszikelweise, ungeordnet und unnumeriert vor, denn die auf den Vorsatzblättern erkennbare Numerierung stammt von Max Brod.

Brod hatte ja das Manuskript 1920, also noch zu Lebzeiten Kafkas, geordnet. Keineswegs übersehen oder leichtfertig abgetan werden darf daher, was Brod im Nachwort zur ersten Ausgabe festhält: »Bezüglich der Anordnung der Kapitel war ich auf mein Gefühl angewiesen. Doch da mir mein Freund einen großen Teil des Romans vorgelesen hatte, konnte sich mein Gefühl bei der Ordnung der Papiere auf Erinnerungen stützen.«

Ohne Zweifel ordnet Brod auch - und mit sehr ähnlichem Ergebnis später Pasley[10] - nach der inneren Chronologie des Handlungsverlaufs. Zudem hat es nicht an Versuchen gefehlt, nach solchen inhaltlichen Kriterien eine Ordnung sämtlicher vorhandener Teile vorzunehmen.[11] Gemeinsam ist all diesen Bemühungen die Prämisse einer trotz gewisser Unstimmigkeiten letztlich kohärenten Handlung. Eine Prämisse, die auch vom Herausgeber der Historisch-Kritischen Ausgabe nicht grundsätzlich in Frage gestellt wird. »Selbstverständlich hatte Kafka bis zuletzt die Absicht, einen Roman zu schreiben, bei dem die einzelnen größeren Einheiten ihren Ort im Gefüge eines Ganzen haben sollten«.[12] Wenn Roland Reuß dann aber fortsetzt: »[...] doch hat er die Arbeit zu einem Zeitpunkt aufgegeben, als hiervon noch nicht einmal der Umriß feststand«, dann tut Unterscheidung der Geister Not.

Geist oder Buchstabe? Mit paulinischer Antithetik im Sinne des Deutschen Idealismus: Dem Buchstaben, dem Schriftbefund nach mag ein Umriß nicht er- [1/ S. 160:] kennbar sein - wiewohl selbst Reuß die »wahrscheinliche Hypothese« akzeptiert, die Erzählung der Verhaltung und das »Ende«, in gewissem Sinne also der »Umriß«, seien »in zeitlicher Nähe« zueinander relativ früh, »nämlich um den 11. August 1914«, entstanden.[13] In jedem Fall aber ist »Umriß« keine Kategorie der Textkritik, und es darf bezweifelt werden, daß »bei Abbruch der Arbeit am ›Prozess‹ noch nicht einmal der Umriß feststand.«[14]

Notabene: Die Legitimität einer Faksimile-Edition, der Historisch-Kritischen Ausgabe in der vorliegenden Gestalt, in der nichts in die »Rumpelkammer« eines Apparatbandes verbannt werden muß, steht ganz außer Zweifel. »Anerkannt« sei auch »die Offenheit des Manuskripts im Augenblick, als Kafka von ihm abließ«.[15] Einspruch aber gegen den apodiktischen Schluß, man könne »aus einer Handschrift wie der des ›Process‹ [...] nicht einfach ein Buch machen.«[16] Aber noch eine weitere Strophe Schwanengesang zum Ende der Gutenberg-Galaxis erklingt: »Dem Anspruch, im für viele vielleicht ungewöhnlichen Aufbau der Edition eines ›Werks‹ in Heften die größtmögliche Adäquanz an die Makrostruktur des überlieferten Materials zu erreichen, tritt komplementär in der Darstellung der Mikrostruktur ein Insistieren auf der Handschriftlichkeit und, damit verbunden, der - wenn man so sagen kann - (Noch-)Nichttextförmigkeit des Manuskripts zur Seite.«[17]

»(Noch-)Nichttextförmigkeit«? Also noch nicht Text, geschweige denn ein Buch, sondern - merkwürdige Dialektik des Geschichtsprozesses - Handschriften sind wieder zu lesen, und die »Einleitung« zur Historisch-Kritischen Ausgabe insgesamt betrachtet die diplomatische Umschrift ausdrücklich nur als »Lese- und Entzifferungshilfe«![18]

Dechiffrieren des Textes also; Lesen der Partitur, an der nicht das Lineare, sondern gerade das Nichtlineare, das Fragmentarische, Fraktale, die spatiale Ordnung des Neben-, In- und Übereinander interessiert; der Primat des Schreibprozesses und dessen Genesis; die Archive... - skrupellos ließe sich das formale Objekt des neuen Begehrens mit Schlagwörtern des Poststrukturalismus weiter umschreiben.

Und wie steht es um das materiale Objekt, die Handschrift? Ja, wir haben jetzt Kafkas Handschrift vor uns, aber freilich nicht ›die‹ Handschrift, das Autograph, sondern eben eine Reproduktion, das Scan, das, wie Roland Reuß mit Blick auf das Faksimile des »Stuttgarter Foliobuchs« von Friedrich Hölderlin sagt, »in vielen Einzelheiten (Farbvaleurs etc.) ›besser‹ als das Original« sein kann.[19] Dennoch wird man, auch wenn sich nach Installation der beigelegten CD-ROM »ein kafkaeskes I-Pünktchen auf Erbsengröße heranzoomen"[20] läßt, außerstande sein zu entscheiden, ob es sich um eine geringfügige Papierunreinheit, bei Hölderlin etwa um einen winzigen Holzspan[21] handelt, oder tatsächlich um ein Satzzeichen, um einen Punkt. Ein Punkt freilich, der, frei nach Stefan George, wichtiger sein kann als alles, was manch anderer in seinem ganzen Leben geschrieben hat.

Auf den Punkt gebracht: Die Philologie wird die Historisch-Kritische Ausgabe dankbar entgegennehmen und zu nutzen wissen, die mit ihr verbundene edito- [1/ S. 161:] rische Ideologie jedoch kritisch betrachten. Sie wird freilich. wie bisher auch, wenn es ums Letzte geht, das Original autopsieren (müssen).

Und der Leser? Der vom Herausgeber ins Auge gefaßte »mündige« Leser? Was soll er tun mit einem gewichtigen Schuber voller faksimilierter Kafka-Handschriften? »Wer Kafka mag, hängt auch an den Zügen, der Graphik seiner Handschrift«, will der historisch-kritische Herausgeber wissen.[22] Ja. Nur soll einer, der Kafka mag und lesen möchte, soll er wirklich die Faksimilia des Manuskripts, nachdem er sie für sich (womöglich immer wieder neu und anders) in Ordnung gebracht hat, entziffern? Lesen?

Vielleicht aber muß ›lesen‹ tatsächlich neu definiert, neu verstanden, begriffen werden.

Wilhelm Hemecker

ANMERKUNGEN

1] Klaus Mann: Dank für die Kafka-Ausgabe. In: Die Sammlung 2 (Juli 1935). II. 11, S. 664.

2] So der Titel einer Großausstellung im Centre Georges Pompidou, Paris 1984.

3] Roland Reuß in dem Interview mit Simon Wagner: ›Der Prozess‹ als Prozeß. Kafka-Ausgabe. In: Der Falter (Wien) Nr. 42 vom 17. Oktober 1007, Beilage, S. 4.

4] Franz Kafka: Der Prozess. Roman. Berlin: Die Schmiede 1025 (= Die Romane des 20. Jahrhunderts).

5] Pasley ersetzt, wie er in der editorischen Vorbemerkung des Apparathandes zur Kritischen Ausgabe erklärt, grundsätzlich »ss-Schreibung durch ß, wo dies der heutigen [sic!] Regelung entspricht«!

6] Roland Reuß: Lesen, was gestrichen wurde. Für eine historisch-kritische Kafka-Ausgabe In: Franz Kafka: Historisch-Kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte. Hg. von Roland Reuß und Peter Staengle. Einleitung. Basel und Frankfurt / Main: Stroemfeld / Roter Stern 1995, S. 9-24, hier S. 21.

7] Franz Kafka: Der Proceß. Apparatband. Kritische Ausgabe. Hg. von Malcolm Pasley. Frankfurt / Main: Fischer 1990, S. 125.

8] Malcolm Pasley: Die Handschrift redet. In: Franz Kafka. Der Proceß. Die Handschrift redet. Bearbeitet von Malcolm Pasley. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1990 (= Marbacher Magazin 52), S. 1-36, hier S. 5.

9] Roland Reuß: Zur kritischen Edition von ›Der Process‹ im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz Kafka-Ausgabe. In: Franz Kafka-Hefte 1 (= Beiheft zur FKA), S.3-25, hier S. 15.

10] Mit zwei Unterschieden: »Die Verhaftung« wird bei Pasley zu einem eigenen Kapitel, und das vierte Kapitel der Ausgabe Brods findet sich unter dem neuen Titel »B’s Freundin« bei den Fragmenten.

11] Übersicht bei Reuß, Zur kritischen Edition (Anm. 9), S. 33-36. Übergangen ist hier Hartmut Binders sorgfältige Rekonstruktion. In: Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu den Romanen, Rezensionen, Aphorismen und zum Brief an den Vater. München: Winkler 1976, S. 160-177.

12] Reuß, Zur kritischen Edition (Anm. 9), S. 15.

13] Ebd., S. 6.

14] Ebd., S. 15.

15] Ebd.

16] Ebd.

17] Ebd., S. 21.

18] Reuß, Lesen (Anm. 6), S. 17.

19] Ebd., S. 16.

20] Manfred Schneider: Original oder hyperreal? Zur neuen Ausgabe von Kafkas ›Process‹-Roman In: Die Zeit (Hamburg) Nr. 50 vom 5. Dezember 1997, Literaturbeilage S. 5.

21] Vgl. Werner Volke: Nachwort. In: Friedrich Hölderlin: Die Maulbronner Gedichte 1786-1788. Faksimile des ›Marbacher Quartheftes‹. Marbach: Deutsche Schillergesellschaft 1977, S. 147-160.

22] Reuß, Lesen (Anm. 6), S. 17.




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