vitale Unmittelbarkeit

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O-Ton:
"Ich habe Musiker immer beneidet, die machen 'pläng', und es gibt eine Reaktion. Bei Literatur ist alles ein bisschen umständlicher."
Zitiert nach: Rolling Stone (München), Nr. 1/2004, S. 50.

Tod am Nachmittag

Zehn Jahre Punk

Heute hatte ich ein schreckliches Erlebnis. Ich las den neuen "Stern". Ich lese das Magazin gern, weil es so schlecht ist. Im Kulturteil stand: Punk ist tot. Ich konnte es kaum fassen. Punk ist tot. So eine Scheiße. Er hatte es eh schon so schwer gehabt, der Punk. Die Tragödie jeder großen Erscheinung: daß einfach jedes Arschloch sich damit identifizieren kann. Erst beinah ausgehungert, die letzten Hippies ausgestorben, anschließend gleich die ersten Studienratsgattinnen, die auch mal eine grüne Strähne im Haar haben wollten, und in den Kneipen zunehmend Jammergestalten in schwarzer Ledermontur. Ich sach dir, Alter, Siemunsiebzig, das warn noch Zeiten - Fünfundzwanzigjährige, die wehmütig in die Vergangenheit blicken: Bubi erzählt aus'm Krieg. Krise. Punk war alltäglich geworden. Es war dieser Übergangsschmerz wie bei einer Liebesgeschichte, wenn die Euphorie verflogen ist und man sehen muß, was hält. Aber Totsein, das war nun wirklich gemein.
Ich schlich ins Nebenzimmer zu Sven. Traurig watete ich durch das schöne Chaos, streichelte über das Riesenposter mit den schlammverschmierten Slits an der Wand und setzte mich auf ein großes, defektes Elektrogerät. "Du kannst aufräumen, Sven", sagte ich, "es ist zu Ende". Sven saß mit Teddy und Reder unter einer aufgespannten Tarnplane vor seinem Mikrocomputer, wo sie schon den ganzen Nachmittag ein Tabellenkalkulations-Programm für mittelständische Unternehmen grausig mißhandelten. Teddy hat gewöhnlich einen blauen Müllsack an, aber da Wochenende war, trug er einen teuren gelben. Ich zog an dem Plastiksack: "Mann, Punk ist tot."
Teddy sagte: "Nichzufassen, is noch Cola da?" Dann ging er allen wieder mit seinem Lieblingsthema auf die Nerven, nämlich daß er wahrscheinlich Krebs habe.
"Tot", rief ich und wandte mich an Reder. Reder war grade in Texas gewesen und erzählte mir, wie er zusammen mit texanischen Punks Kühe umgeschmissen hatte. Die Kühe schlafen im Stehen und sind nachts ein bißchen steif, und wenn eine umfällt, bringt sie die ganze Herde in Panik, und die Cowboys, die Redneck-Idioten, müssen auf die Weide raus. "Cow Topling" heißt das.
"Es steht im ‚Stern'", beharrte ich mit aufgerissenen Augen. Sven schrieb neunmal "tot" in eine Spalte, über der "Jahresumsatz" stand. Dann kam Made vorbei mit einer Cassette der neuen Torpedo-Moskau-LP "Malenkaja Rabota", und Sven schaltete den Brüllwürfel ein, seinen Ghettoblaster, der ein bißchen kleiner ist als ein Eisenbahnwaggon. Musik, prachtvoll, wild, punk den Tiger in den Takt. Ich hielt die Klappe und ließ mich in einem Begeisterungssturm von dem Geist, der lebt, an die Wand blasen.

Aus: Glasers heile Welt. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1988, S. 87f. Wiedergabe mit freundlicher Genehmigung des Verfassers. - Ergänzt durch ein Privatfoto.


last update 04.09.2012