Erotik - theoretischer Diskurs und literarische Chiffren in der Frauenliteratur des Fin-de-siècle

von Christa Bittermann-Wille und Helga Hofmann-Weinberger

in: Der verbotene Blick : Erotisches aus zwei Jahrtausenden ; [aus den Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek] / Hrsg.: Österr. Nationalbibliothek. Red.: Michaela Brodl ... . - Klagenfurt : Ritter , 2002, S. 146 - 180

Wir möchten uns dem Thema Erotik in der Frauenliteratur des Fin-de-siècle sowohl von einem theoretischen als auch von einem literarischen Blickwinkel nähern. Dafür haben wir die Bestände der Österreichischen Nationalbibliothek - der ehemaligen Hofbibliothek - im Zeitraum zwischen 1870 und 1930 untersucht.

Die sogenannte "sexuelle Frage" gehört zu den zentralen Anliegen des theoretischen Diskurses der historischen Frauenbewegung. Beziehen sich die frühen emanzipatorischen Initiativen noch hauptsächlich auf die weibliche Teilnahme am öffentlichen Leben (Frauenbildung, Frauenberufstätigkeit, Vereinsrecht etc.), so kommen schon bald auch Themen ans Tageslicht, die lange Zeit in die Intimsphäre des weiblichen Lebenszusammenhanges verbannt waren, weil sie nach bürgerlichen Moralvorstellungen als "unschicklich" galten.

Mit zunehmendem Heraustreten der Frauen aus der häuslichen Isolation, ihrer Selbstorganisierung in Klubs und Vereinen und dem damit verbundenen gesteigerten Selbstbewusstsein wagen sie sich auch an brisantere Themen. Bisher vor der Öffentlichkeit sorgfältig gehütete intime Bereiche des Geschlechterverhältnisses, nämlich Liebe, Erotik und Sexualität (wobei die semantischen Grenzen der beiden letzteren Begriffe fließend sind), kommen ab nun zur Sprache. Die Frauen durchbrechen damit ein Tabu und begeben sich gleichsam auf ein "Minenfeld", das durch die bürgerliche Doppelmoral gelegt wurde.

Die Probleme sind drängend: Bordellbesuche von Männern gehören fast zum guten Ton und werden mit sexualhygienischen Argumenten zu legitimieren versucht; eine der Folgen dieser Gepflogenheit ist die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten; junge Mädchen hingegen werden bis zu ihrer Hochzeit über sexuelle Belange völlig im Unklaren gelassen, was oft zu traumatischen Erlebnissen in der Hochzeitsnacht führt. Ein beliebtes Leitmotiv der Frauenliteratur jener Jahre: Emilie Mataja, Elsa Asenjeff, Maria Peteani, Mara Berks oder Marie Eugenie Delle Grazie beschreiben in ihren Ehe- und Gesellschaftsromanen die Kluft zwischen Mann und Frau, die diametral entgegengesetzten Wahrnehmungen und Erwartungen von Begehren, Liebkosung und Geschlechtsakt.

Zunächst ist es die Prostitution, welche von den fortschrittlicher denkenden Frauen des liberal eingestellten Bürgertums zum Gegenstand der Anklage gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse wird. Zu diesem Thema hält Rosa Mayreder - eine der Galionsfiguren der österreichischen Frauenbewegung - am 13. Jänner 1894 ihre erste öffentliche Rede im Alten Wiener Rathaus und erregt großes Aufsehen. Sie wendet sich - ebenso wie die Salzburger Frauenrechtlerin Irma von Troll-Borostyáni - scharf gegen die Errichtung öffentlicher Bordelle und die damit verbundene Herabwürdigung der Frau zum reinen Sexualobjekt. Die gesellschaftliche Relevanz dieser Frage zeigt sich auch darin, dass Frauen, die sich freier zu bewegen versuchen, häufig unter Prostitutionsverdacht polizeilich verfolgt werden.

In der Belletristik thematisieren der "Heilige Skarabäus" von Else Jerusalem oder "Vera - aus dem Tagebuch eines Mädchens" und Mara von Berks "Gestrandet" die Prostitution und die männliche Sexualität mit all ihren Schattenseiten und Konsequenzen. Bei diesen drei Werken sind die unterschiedlichen Erzählperspektiven und Annäherungen besonders interessant: Im "Skarabäus" die Perspektive der Innenansicht, von der Prostituierten selbst; in "Vera" die Perspektive des Opfers, der Braut, die den Mann, der Erfahrung mit käuflicher Liebe hat, nicht heiraten will; und schließlich in "Gestrandet" die Perspektive des Freiers, des Konsumenten, der dem verderblichen Charakter des käuflichen Sexualobjekts völlig verfällt.

Neben den oben erwähnten konkreten politischen Forderungen drückt sich das neue Denken auch in theoretischen Auseinandersetzungen aus. Publikationen mit Titeln wie "Frauenbewegung und Sexualethik", "Das Wesen der Geschlechtlichkeit" (von Grete Meisel-Hess) oder "Die Erotik" (von Lou Andreas-Salomé) stehen hier nur stellvertretend. Dabei kristallisiert sich ein breites Spektrum von Herangehensweisen heraus: von leidenschaftlichen Kampfschriften (Irma von Troll-Borostyani) über wissenschaftlich argumentierende Abhandlungen (Grete Meisel-Hess, Rosa Mayreder) bis hin zu Versuchen, so etwas wie eine eigene weibliche Erotik und Sexualität zu definieren und damit auch positiv zu besetzen (Elsa Asenijeff, Lou Andreas-Salomé). In vielen Fällen sind die Autorinnen sowohl theoretisch als auch literarisch tätig (Lou Andreas-Salomé, Rosa Mayreder, Grete Meisel-Hess etc.) und es kommt auf diese Weise zu interessanten Korrespondenzen im Gesamtwerk.

Die sexuellen Erfahrungen und Erlebnisse, die in der Frauenliteratur der Jahrhundertwende geschildert werden, sind vielfacher Art: in den meisten Fällen werden sie als bedrohlich und katastrophal wahrgenommen. So etwa die bereits angesprochenen sogenannten "Hochzeitsnacht"-Erzählungen oder Romane mit Tabuthemen, wie vorehelicher Geschlechtsverkehr, ungewollte Schwangerschaft, Abtreibung. Diese führen, wie in Martha Bergers "Leben einer Frau" schonungslos und packend als Vermächtnis für alle anderen Frauen geschildert, ins Verderben. Häufig stellt sich die Wirklichkeit einer "im Himmel geschlossenen Ehe" als desillusionierend heraus - zu groß sind die Gegensätze der Ehepartner. Im "Buch der Liebe" von Delle Grazie muss die Heldin Eifersucht, männliche Untreue und den Verlust eines Kindes ertragen.

Einen besonderen Stellenwert besitzen die Romane der durch die Psychoanalyse beeinflussten und heute leider vergessenen Schriftstellerin Mela Hartwig. Ihr expressionistischer Erzählstil in den "Ekstasen", ihre Schilderungen erotischer Phantasien und ihre schriftlichen Grenzüberschreitungen bei Tabuthemen wie Vergewaltigung und Inzest suchen auch in der Frauenliteratur gegen Ende des 20. Jahrhunderts ihresgleichen. Positivere Aspekte und Hinweise für einen selbstbewussteren weiblichen Umgang mit dem Thema Erotik sind etwa bei Grete Meisel-Hess zu finden. Sie beschreibt in ihrem Roman "Fanny Roth" eine Musikerin, die - wie so viele - durch die Ehe "ernüchtert" wird, andererseits aber auch gerade durch die mit dieser Institution verbundene relative Befriedigung sexueller Bedürfnisse zur künstlerischen Kreativität zurückfindet. Ebenso erlebt die Protagonistin in Lou Andreas-Salomés "Fenitschka" die körperliche Liebe als Erholung von ihren geistigen Kämpfen, die sie als emanzipierte Frau durchstehen muss.

Eine Sonderstellung nimmt Wanda von Sacher-Masoch ein, die durch einen "masochistischen Vertrag" mit ihrem Ehemann Leopold verbunden ist und eine Doppelrolle einnimmt: Herrin und (literarische) Schülerin zugleich. Ihre Texte sind explizit als "Gegenstücke" zum Werk ihres Mannes geschrieben und beziehen sich in der Wahl der Themen eng auf dieses. Die Protagonistinnen sind grausame Frauen, die nur um den Preis der Männervernichtung ihre hart erkämpfte Unabhängigkeit zu wahren imstande sind. Auch hier zeichnet sich eine gesellschaftliche Veränderung der Geschlechterverhältnisse ab, die eine starke Nähe zu theoretischen Positionen aufweist.

Um den Schleier, der die "geschlechtlichen Vorgänge" einhüllt, nicht vorschnell zu lüften, vielleicht auch um gewisse Geheimnisse zu bewahren, bedienen sich Autorinnen wie Delle Grazie oder Grete von Urbanitzky einer erotischen Symbolsprache: Umschreibungen aus der Natur, Metaphern, Farbenspiele sollten auf das weibliche Lesepublikum sinnlich und erotisch einwirken.

Das Motiv der lesbischen Liebe gehört zum modischen Utensil der Romane der zwanziger Jahre. Es wird bei Peteani immer wieder in Szenen des "Cross-Dressing" angesprochen und in Urbanitzkys "Im wilden Garten" sogar zum Hauptmotiv. Auch hier werden Symbole verwendet, eine Sprache der Farben oder gewisse Codewörter, die nur von einer "wissenden" Leserinnenschaft dechiffriert werden können.

Verblüffend ist die Fülle der Neuerscheinungen (bis in die dreißiger Jahre hinein) von Frauenliteratur am deutschsprachigen Buchmarkt, in denen die Aufhebung von erotischen und sexuellen Rollenklischees zum Thema wird. An diese Tradition kann von Autorinnen erst wieder im Zuge der Neuen Frauenbewegung angeknüpft werden. Große Auflagenhöhen und zahlreiche Neuauflagen erreichen zum Beispiel "Der heilige Skarabäus", "Die Liebesleiter" und "Vera". Ein bemerkenswerter Aspekt ist, dass auch erotische Frauenlyrik gegen Ende des 19. Jahrhunderts sehr beliebt ist und sich erfolgreich verkauft, etwa Ada Christens "Lieder einer Verlorenen"; Marie von Najmajers "An die Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts" oder Sidonie von Grünwalds "Das Gretchen von heute", ein Lyrikband, der die "Ehre" der Zensur erfuhr und in Österreich nicht erscheinen durfte. Manche Schriftstellerinnen konnten daher vom Verkauf ihrer Bücher ihren Lebensunterhalt ganz gut bestreiten.

Damals wurde die Frauenliteratur in ihrem Stellenwert oft nicht erkannt und - gemäß eines männlich geprägten Literaturkanons - auch als trivial eingestuft. Es ist nicht verwunderlich, dass die Kataloge der ehemaligen Hofbibliothek diesbezüglich zahlreiche Bestandslücken aufweisen. Ein Blick in die entsprechenden Kapitel der Hausgeschichte zeigt sehr klar, dass gerade in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die pekuniäre Situation der Hofbibliothek wegen ausstehender Dotationen sehr schwierig war. Individuelle Auslegungen der Pflichtablieferung, eine unter ausschließlich männlicher Ägide stehende Erwerbungspolitik und eine eklatante Raumnot mögen dazu beigetragen haben, dass dem Ankauf von als "wertlos" erachteter Frauenliteratur nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Offensichtlich hat daran auch eine hohe Auflagenzahl oder ein grosser Bekanntheitsgrad von Autorinnen im deutschsprachigen Raum (z.B. Janitschek, Jerusalem, Karlweis, Asenijeff, Troll-Borostyani etc.) nichts zu ändern vermocht. Dies lässt auf einen eher konservativ eingestellten Beamtenapparat schliessen, der vielleicht in vorauseilendem Gehorsam eine "Hofbibliothek" vor dieser "Art von Literatur" bewahren wollte.