[1/ S. 156:] Vorliegendes Werk ist eine Fundgrube für jeden, der sich mit der österreichischen Literatur in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
auseinandersetzen möchte, zugleich auch ein Beispiel dafür, daß Bibliographien ›lesbar‹ sein können. Das gilt auch für die
Register des Werks, denn gerade die nüchterne alphabetische Ordnung gibt Zusammenhänge preis, die sonst nur schwer erschließbar
sind. Das methodische Prinzip, das dieser analytischen Bibliographie zugrundeliegt, ist höchst einfach: Ausgewertet wurden
45 zum Teil sehr kurzlebige Zeitschriften und sieben Anthologien bzw. Sammelbände; der Beobachtungszeitraum erstreckt sich
von 1911 bis 1926, wobei eine eindeutige Schwerpunktbildung für die Jahre unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg erkennbar
ist. Im ersten Band bietet Wallas eine Kurzcharakteristik der einzelnen Zeitschriften und Anthologien, wobei er vor allem,
soferne faßbar, das Programm zu umreißen sucht. Der Hauptteil besteht aus der Auflistung eben dieser Zeitschriften und Anthologien
in alphabetischer Reihenfolge, wobei in chronologischer Folge der Inhalt der einzelnen Nummern und Bände verzeichnet ist.
Darunter finden sich so wichtige Publikationsorgane wie »Der Anbruch«, »Der Brenner«, »Daimon«, »Der Friede«, »Die Gefährten«,
»Die Rettung«, »Der Ruf« und »Ver!«, aber auch so wenig bekannte und für ihre Zeit doch signifikante Blättchen wie »Der Knockabout«.
Die vorhandene Forschungsliteratur ist meist genau berücksichtigt und wird in jedem Fall auch herangezogen.
Der zweite Band bietet ein Autorenregister, für mich der wichtigste Teil des Werks, weil darin neben den Personennamen auch
die Titel der Beiträge verzeichnet sind. So verfügen wir über eine Fülle von äußerst brauchbaren Personalbibliographien für
den in Frage stehenden Zeitraum. Es handelt sich dabei um eine subjektive und / oder objektive Personalbibliographie, und
dem Suchenden wird schnell und verläßlich Hilfe zuteil. Wer sich informieren möchte, welche Beiträge das untersuchte Material
z. B. von und über Dostojewski bietet, wird hier sofort fündig. Lobenswert am Register ist darüber hinaus, daß es, soweit
dies möglich war, Abkürzungen auflöst, so daß man bei der Sigle "I. H. Br." auf Hermann Broch und dessen Text »Die Straße«
in Heft 11 der »Rettung« verwiesen wird; zugleich findet sich diese Sigle auch bei Broch, so daß man bei der Recherche auch
hier alle festgestellten Beiträge dieses Autors beisammen hat. Bei Otto Basil findet sich ebenfalls ein Pfeil, der auf die
Sigle »o. b.« verweist, und so werden für die frühe Tätigkeit dieser nach 1945 so bedeutenden Persönlichkeit des literarischen
Lebens zumindest einige wichtige Spuren in übersichtlicher Form gesichert. Man könnte gegen das Register auch einwenden, daß
sich darin einige Autoren finden, die mit Sicherheit nicht als Expressionisten gelten können, wie etwa Adalbert von Chamisso,
Charlie Chaplin, Leo Trotzki und Johann Gottfried Herder, ja man könnte fast sagen, daß die Nicht-Expressionisten in der Mehrzahl
sind und das Register dadurch überladen
[1/ S. 157:] wirkt. Zum anderen aber wird man gerade auch für solche Eintragungen dankbar sein, weil dadurch doch auch die Wirkung der
Genannten im Rahmen dieser Strömung überprüfbar wird. Vier weitere Register hat Wallas angelegt: Ein Sachregister, worin einzelne
Themenkomplexe abgerufen werden können; dies ist gewiß brauchbar, so man auch über das geeignete Stichwort verfügt; wer aber
wird etwa unter den Schlagworten »Güte«, »Minnesang« oder »Entente« gerade in diesem Register nachschauen wollen?
Es folgt noch ein Register der Verlage, aus deren Produktion Bücher besprochen wurden. Das mag hilfreich und verlagsgeschichtlich
interessant sein, aber es verhält sich so wie beim vorangehenden Register: eine Schatzkammer, an der alle auf der Suche nach
anderen Sammlungen wie Touristen vorbeieilen werden. Das gilt auch für das folgende Register mit den Titeln der besprochenen
Bücher und der einzelnen Aufsätze.
Die kleinen Bedenken sind der Bedeutung dieses Werks nicht abträglich. Es steht außer Zweifel, daß Armin A. Wallas das grundlegende
Werk für die Erforschung des Expressionismus in Österreich geschaffen hat. Die Frage allerdings, nach welchen Kriterien nun
Zeitschriften und Anthologien als Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus eingestuft werden, wird nicht gestellt;
und von dieser Bibliographie war auch keine Antwort auf die Frage zu erwarten, ob es überhaupt einen Expressionismus in Österreich
gegeben hat und wenn ja, wie dieser zu beschreiben wäre. Der Katalog »Österreichische Avantgarde 1900-1938. Ein unbekannter
Aspekt«, zusammengestellt von Oswald Oberhuber (Bildende Kunst) und Peter Weibel (Literatur - Wissenschaft) aus dem Jahr 1976
hat als erster umfassend auf diese Lücke in der Forschung aufmerksam gemacht und die Beschränkung der Forschung auf den im
engeren Sinne deutschen Expressionismus mit gutem Grund gerügt. Seit dieser Publikation (Wallas erwähnt sie nicht) ist einiges
in diesem Bereich geschehen, allerdings fehlt es noch an der Grundlagenforschung. Mithilfe der analytischen Bibliographie
wird es vielleicht möglich sein, durch Sichtung des Malerials zu einer einigermaßen verläßlichen Bestimmung dessen zu gelangen,
was man als österreichischen Expressionismus bezeichnen kann.
Wendelin Schmidt-Dengler
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