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Susanne Baackmann: Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte. Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1998, 180 S., ÖS 409,-. Rezension (20. 04. 2002). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/baackmann-s-1a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 2 (1999), S. 228-231. |
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Ingeborg Bachmann: Letzte, unveröffentlichte Gedichte. Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar von Hans Höller. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1998, 180 S., ÖS 409,-RezensionSusanne Baackmann |
[2/ S. 228:] In seinem Editionsprojekt »Ingeborg Bachmann. Letzte, unveröffentlichte Gedichte. Entwürfe und Fassungen« versucht Hans Höller zu zeigen, daß sich Ingeborg Bachmann in den 60er Jahren keineswegs ausschließlich der Prosa verschrieben hat. Dem Leser werden zum einen erstmals Gedichte aus dem Nachlaß vorgestellt, die in der Zeit ihres Berlin-Aufenthaltes zwischen 1963 und 1965 entstanden sind. Zum anderen präsentiert Höller verschiedene Entwürfe und Fassungen von drei Gedichten, die werkgeschichtlich bereits in die Zeit der Arbeit an den »Todesarten« fallen und die im November 1968 im »Kursbuch« publiziert wurden. Seine Entscheidung, den Entstehungsprozeß der drei bekannten Gedichte »Keine Delikatessen«, »Böhmen liegt am Meer« und »Enigma« zu dokumentieren, begründet der Herausgeber damit, daß die Textsituation hier besonders aufschlußreich sei. Höller versteht die Veröffentlichung der textgenetischen Rekonstruktionen von Bachmanns lyrischem Spätwerk als einen »brisante[n] poetologische[n] Diskussionsbeitrag«, insofern damit die These widerlegt werde, die Autorin habe sich mit Beginn der Arbeit an den »Todesarten« ganz von der Lyrik als einer schönen, aber effektiv irrelevanten Sprache abgewendet. Im Gegensatz dazu vertritt Höller die Ansicht, daß den Bewegungen der Entwurfshandschriften bereits jene fatale Energie der »Todesarten«-Texte eingeschrieben sei, die darauf [2/ S. 229:] dränge, die Unmittelbarkeit der weiblichen Stimme bzw. der biographischen Ich-Stimme oder des lebendigen Ich zu beseitigen, um zu einem klaren Text zu kommen. (Er beruft sich hier auf das in »Malina« ausgeführte Konfliktmuster.) Mit dem Verweis auf diese intertextuellen Beziehungen insistiert Höller auf thematischen und poetologischen Kontinuitäten in Bachmanns Œuvre, die formale Differenzen zwischen Lyrik und Prosa suspendieren und stattdessen auf unterschiedlichen Ebenen um den »Konflikt von Kunst und Leben und […] weiblicher Autorschaft« (S. 10) kreisen. In dieser Hinsicht komplementiert Höllers editorisches Projekt gegenwärtige Versuche, den zugänglichen Nachlaß Bachmanns einer erneuten historisch-kritischen Revision zu unterziehen. So bemüht sich z. B. die unter Leitung von Robert Pichl von Monika Albrecht und Dirk Göttsche herausgegebene kritische Ausgabe des »Todesarten«-Projekts (München: Piper 1995) darum, die Rekonstruktion der Vorgeschichte und Entwicklung der Spätprosa in einen poetologischen Gesamtzusammenhang zu stellen, der formale Gattungskategorien zweitrangig, wenn nicht gar irrelevant macht. Das »Todesarten«-Projekt markiert jetzt nicht mehr die ›neue‹ Handschrift einer »gefallene[n] Lyrikerin« (Marcel Reich-Ranicki), sondern ist - im Gegenteil - Bestandteil der kontinuierlichen bis in die späten 40er und frühen 50er Jahre zurückreichenden Annäherungen an die erzählende Prosa. Wie die Herausgeber des »Todesarten«-Projekts in ihrem Nachwort zu »Das Buch Franza« feststellen, wird »in den achtziger Jahren nach der Öffnung des literarischen Nachlasses […] deutlich, daß Bachmann zu keiner Zeit ihres literarischen Schaffens ausschließlich Lyrikerin war« (München: Piper 1995, S. 250). Mit Blick auf die Erst- bzw. Neuherausgabe der späten Lyrik, läßt sich diese Feststellung durch die Beobachtung ergänzen, daß die Autorin auch in den 60er Jahren nicht ausschließlich an Prosatexten arbeitete. (Und damit gerät die Relativität von historisch bedingten und im Fall einer Autorin oft geschlechtsspezifisch gefärbten Werturteilen über literarische Formen und Gattungen selbst in den Blick!) Höller stellt den Texten jeweils einen ausführlichen Kommentar nach, in dem er vor allem auf Beziehungen innerhalb des Œuvres und auf lebensgeschichtliche Schreibspuren verweist. Die Herausgabe der von der Autorin selbst nie zur Veröffentlichung freigegebenen Gedichte begründet Höller damit, so die »›Problemkonstante‹ des Schaffens […] zu verdeutlichen und sie nicht einfach nach dem Grad des ästhetischen Gelungenseins zu bewerten« (S. 29). Sowohl die Publikation dieser bisher unveröffentlichten Gedichte als auch die Dokumentation der verschiedenen Entwürfe der zuletzt veröffentlichten Gedichte mitsamt der sich daran anschließenden, teils sehr ausführlichen Analyse der Verschiebungen, Ergänzungen und Streichungen scheint mir im großen und ganzen äußerst wichtig und hilfreich - auch wenn damit Schreibspuren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, die die Autorin oft verzweifelt als Teil ihres Privatraums zu schützen gesucht hat. In der Dokumentation der unterschiedlichen Entwürfe und Fassungen der drei Gedichte kommt es Höller darauf an, »›die Gesamtdynamik des Schreibprozesses‹« (S. 10) zu rekonstruieren. Dabei könne die »fotomechanische Wiedergabe [2/ S. 230:] der überlieferten Textzeugen der einzelnen Gedichte […] relativ unverfälscht die Schriftbilder, die Schreibansätze und das Abbrechen der Schrift, den Schreibduktus, die Schreibversehen und die verschiedenen Formen des Korrigierens in den Blick rücken und so einen sinnfälligeren Begriff der Werkgeschichte vermitteln« (S. 10). Und tatsächlich bietet die Präsentation der verschiedenen »Textzeugen« von »Keine Delikatessen«, »Böhmen liegt am Meer« und »Enigma« eine interessante, irritierend ambivalente und zugleich bereichernde Lesesensation. Höller entdeckt dem Leser die verwirrenden und zugleich vielsagenden Bewegungen hinter der Statik der letzten publizierten Fassung. Damit wird zum einen die Materialität des Schreibprozesses sichtbar und zum anderen die für manchen Interpreten fast sakrale Textautorität relativiert als scheinbarer Endpunkt einer allmählichen Bewegung, die keineswegs mit Notwendigkeit abbricht. Der dadurch in den Blick rückende Poetikbegriff ist insofern interessant, als er das poststrukturalistische Diktum vom »Tod des Autors« ernst nimmt und statt starrer Autor(itäts)positionen die Vielfalt der inner- und intertextuellen Spannungen, sowie den Prozeß des Schreibens / Lesens betont. Höllers Kommentare stellen einfühlsame und einsichtige Verbindungslinien im Schreiben der Autorin her, sowohl auf der biographischen als auch auf der poetologischen Ebene. Allerdings bestimmt das »Todesarten«-Interpretationsparadigma, d. i. die Figur der »Unterwerfung des lebendigen Ich unter die Idee des Werks« (S. 9), weitgehend die Lesart der Lyrik und verengt damit zum Teil den Zugang zu den Texten. So notiert z. B. der Kommentar zu »Feindesland« (oder »Feindeshand«?) »die Aufspaltung des Ich in zwei Komponenten« (S. 35). Diese Lesart des Gedichts kann nur den Leser überzeugen, der mit der Dualität und Problematik einer dominanten (männlichen) und einer unterdrückten (weiblichen) Stimme / Perspektive in Bachmanns späten Prosaarbeiten vertraut ist und den Textbefund darauf projiziert. Hilfreich ist dieses Paradigma jedoch vor allem in Verbindung mit den Entwürfen und verschiedenen Fassungen der bereits veröffentlichten Gedichte, insofern Höller hier auf die »Ebene des textgenetisch dokumentierbaren Schreibprozesses« (S. 83) verweist und damit auf das (für Bachmann zentrale) Drama des schreibenden Ich aufmerksam macht. Wie in den späten Prosaarbeiten klar ablesbar, ist dieses Drama vor allem durch eine Vielfalt von sich widersprechenden Stimmen und Wahrheiten bestimmt, die in der autorisierten Letztfassung eines Gedichts nicht in ihrer ganzen Bandbreite sichtbar ist. Höllers zahlreiche und kenntnisreiche Hinweise auf Kontinuitäten und Beziehungen im Werk Bachmanns tragen einerseits dazu bei, auf die Konsistenz von wesentlichen Problemkonstanten in ihrem Schreiben aufmerksam zu machen. Andererseits verdecken sie jedoch nicht zu unterschätzende Diskontinuitäten und Brüche in Bachmanns Arbeiten und favorisieren dadurch indirekt einen poetologischen Zusammenhang, der der Autorin selbst immer wieder auseinanderfiel. Zurecht kann man behaupten, daß sich an den Kreuz- und Querbewegungen der »Entstehungshandschriften« ablesen läßt, was im poetischen Entstehungsprozeß auf der Strecke blieb. Problematisch wird diese Behauptung dann, wenn [2/ S. 231:] man das (bei Bachmann zuletzt stark akzentuierte) geschlechtsspezifische Moment der konkurrierenden Stimmen mit hinzunimmt. In ihren Prosaarbeiten inszeniert die Autorin zunehmend das Dominanzgebaren der männlichen Stimme und die Usurpation der weiblichen Stimme. Betrachtet man die Bewegungen der Entstehungshandschriften lediglich unter diesem Vorzeichen, dann verdoppelt man in gewisser Weise den Gestus der Unterdrückung, indem dieser Logik zufolge die Letztfassung mit der (männlichen) Überwindung des »Unmittelbaren, Maßlosen, Wirren und Disparaten« (S. 10), eben der (weiblichen) Vorgeschichte, zusammenfällt. Diese fatale Hierarchie in seinem Editionsprojekt fortzuschreiben, ist sicherlich nicht Absicht des Herausgebers. Im Gegenteil, Höllers Dokumentation und sorgfältige Kommentierung der Textgenese machen ja gerade die zahlreichen Widersprüchlichkeiten und Ambivalenzen im Prozeß des Schreibdramas für die Leser sichtbar und geben damit der wirren Vielfalt der um Ausdruck suchenden Stimmen Raum. Allerdings wäre ein Hinweis auf diese Problematik in dieser ansonsten sehr interessanten Edition nicht nur erhellend, sondern auch wichtig gewesen. Susanne Baackmann |
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Sichtungen 2 (1999),
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