ISSN: 1680-8975 PURL: http://purl.org/sichtungen/ |
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Sabine E. Selzer: Ernst Fischer an Georg Lukács (1957) (28. 12. 2001). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/selzer-s-1a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 1 (1998), S. 98-101. |
Sabine E. Selzer Margartenstraße 150/8, A-1050 Wien Adressinformation zuletzt aktualisiert: 1998 |
Ernst Fischer an Georg Lukács (1957)Georg Lukács an Ernst Fischer (1957)Sabine E. Selzer |
[1/ S. 98:] Mein lieber alter Freund! Wir haben viel an Dich gedacht, oft von Dir gesprochen, Lou und ich. Das alles stimmt nicht froh, aber wir freuen uns doch, dass Du wieder Deinen Schreibtisch hast, wieder an Deinem Buch arbeitest - monumentum aere perennius. Wenn Du mir zwischendurch etwas fürs »Tagebuch« schicken kannst, was Du willst und wie es Dir gefüllt, Essai oder Abfallsprodukt Deiner »Aesthetik«, wäre ich Dir sehr dankbar; ich würde grossen Wert darauf legen, etwas von Dir zu publizieren. Und wenn Du irgendwas brauchst, oder Gertrud, und wir irgendwas schicken können, was Euch Freude macht, bitte, schreib es uns! Ich möchte Dir gern die Hand drücken, gern ein Gespräch mit Dir haben und Dich unsrer unwandelbaren Freundschaft versichern. Es gibt ein paar Menschen in der Welt, deren Dasein man nötig hat - und Du gehörst zu ihnen. Aus ganzem Herzen grüssen wir Dich und Gertrud. Dein Ernst Fischer Wien 11. Rustenschacherallee 28 Nachlaß Ernst Fischer (ohne Sign.) - Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Lou Fischer, Wien, vertreten durch Karl-Markus Gauß, Salzburg. [1/ S. 99:] GEORG LUKÁCS Budapest, den 31. Mai 1957 Lieber Ernst! Es ist eine Schande, dass ich deinen Brief, mit dem ich mich ausserordentlich gefreut habe, erst so spät beantworte. Wenn du aber miterlebt hättest, wie schwer es war, einen physischen und geistigen Status quo in meinem Arbeitszimmer und in meinem Kopf wieder herzustellen, würdest du meine Lage ganz verstehen. Jetzt bin ich endlich dort angelangt, dass ich an die Fortführung meines Manuskripts wieder ernsthaft denken kann. Will ich wenigstens diesen ersten Band in absehbarer Zeit / ungefähr in einem Jahr / unter Dach bringen, so muss ich mich auf diese Arbeit und auf sie ausschliesslich konzentrieren. Das bedeutet eine Schweigepflicht auf sehr vielen Gebieten. Ich muss natürlich sagen, dass mir das unter den gegebenen Umständen garnicht besonders schwer fällt. Wenn man die theoretischen Kernfragen - teils dieserhalb, teils ausserdem - nicht diskutieren kann, so ist es viel vernünftiger über den Schaum der Oberfläche garnichts zu sagen. Diese Lage bringt es mit sich, dass ich vorläufig sehr schwer etwas für das Tagebuch schreiben könnte. Die Aesthetik ist vielzu einheitlich, als dass man Teile aus ihr gesondert publizieren könnte, und sogar die kleinsten, relativ selbständigen Teile könnten bestenfalls in einer dicken Monatsschrift veröffentlicht werden. Ich sage natürlich nicht ein definitives Nein. Es können natürlich subjektive oder objektive Aenderungen eintreten. Jedenfalls wäre es gut, wenn ich das Tagebuch ständig erhalten würde, damit ich gegebenenfalls Umfang, Ton etc. konkret beurteilen kann. Uns geht es ganz gut. Es ist eine grosse Freude, zu wissen, dass es in diesem Wirbel unveränderliche Freundschaften gibt. Ich glaube, auch du zweifelst nicht daran, dass die Unveränderlichkeit sich auch auf mich bezieht, dir gegenüber, aber darüber hinaus auf alle wesentlichen persönlichen und sachlichen Bindungen, die mir teuer waren und teuer bleiben. Wann wir uns wieder sehen und sprechen können, ist natürlich eine ganz andere Frage. Es ist sehr lieb, dass Ihr uns eventuelle Wünsche erfüllen wollt, aber momentan sind wir mit allein versehen. Gertrud und ich grüssen dich und Lu in alter Freundschaft Georg <Seite 98> Nachlaß Ernst Fischer (ohne Sign.) - Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Artisjus - Agency for Theatre and Literature, Budapest. [1/ S. 100:] KommentarErnst Fischer (1899-1972; vgl. S. 30) begegnete. Georg Lukács (1885-1971) erstmals im Exil. Fischer lebte als Mitarbeiter der Komintern teils in Prag, teils in Moskau. Lukács war 1933 in die UdSSR emigriert und schrieb dort für zahlreiche Zeitschriften (u. a. für »Internationale Literatur« und »Literaturnyi kritik«). Die beiden Marxisten lernten einander über Jósef Révai, den ungarischen Referenten des mitteleuropäischen Sekretariats und späteren Kulturminister der Ungarischen Volksrepublik, kennen und blieben nach ihrer Rückkehr in die Heimat (Fischer 1945 nach Wien, Lukács 1944 nach Budapest) in regelmäßigem Briefkontakt. Die produktive Freundschaft zu dem um 14 Jahre älteren Lukács dokumentiert auch Fischers Autobiographie: »Ich ehre ihn als Lehrer, liebe ihn als Menschen und streite gegen viele seiner ästhetischen Auffassungen.« (Ernst Fischer: Erinnerungen und Reflexionen. Frankfurt / Main: Sendler 1987, S. 469; gegen Lukács’ literarische Anschauungen stritten bekanntlich auch andere: vor allem Ernst Bloch und Bert Brecht). Zeitgeschichtlicher Hintergrund des vorliegenden Briefwechsels ist die gescheiterte ungarische Revolution 1956. Wie auch Tibor Déry und Julius Hay war Lukács Mitglied des Petöfi-Kreises, einem Forum literarischer und politischer Diskussion, dem intellektuellen Zentrum des Aufstands. In der revolutionären Regierung Imre Nagy (23. Oktober bis 4. November 1956) stieg er zum zweiten Mal in seinem Leben zum Volksbildungsminister auf; das erste Mal hatte er dieses Amt 1919 in der Räterepublik unter Béla Kun inne. Er trat aber zurück, als Nagy Ungarns Neutralität und den Austritt aus dein Warschauer Pakt verkündete. Trotzdem wurden er und seine Frau Gertrud mit den anderen Regierungsmitgliedern aus ihrem Asyl in der jugoslawischen Botschaft, wo sie nach der Niederwerfung des Aufstands vom 4. bis zum 22. November verweilten, von den Sowjets nach Rumänien deportiert und dort monatelang gefangengehalten. Am 10. April 1957 kehrt Lukács nach Budapest zurück, widmet sich wieder ganz der Theorie und wagt sich nicht mehr ins politische Geschehen vor. Der aus der Partei Ausgeschlossene wird zur Persona non grata und hat dabei noch Glück: Er kommt wenigstens mit dem Leben davon. Imre Nagy und einige seiner ehemaligen Minister werden im Juni 1958 nach einem Geheimprozeß hingerichtet. Die kommunistische Zeitschrift »Tagebuch« erschien unter wechselnden Namen - auch als »Österreichisches Tagebuch« und als »Wiener Tagebuch« - von 1946 bis 1989, wurde bis 1969 von der Kommunistischen Partei Österreichs finanziert und im parteieigenen Globus Verlag gedruckt. Ernst Fischer war in den 50er Jahren zusammen mit Bruno Frei und Viktor Matejka Herausgeber und von 1957 bis 1960 Chefredakteur. Die Entwicklung seines Verhältnisses zur Kommunistischen Partei Osterrreichs (KPÖ) läuft zu der des »Tagebuchs« weitgehend parallel. Unter dem Eindruck der Ereignisse in den kommunistischen Staaten, vor allem 1956 und 1968, koppelte sich die anfangs parteikon- [1/ S. 101:] forme Zeitschrift zusehends von der KPÖ ab, bis es 1969 zum endgültigen Bruch kam, aus dem das parteiunabhängige »Wiener Tagebuch« hervorging. Von Georg Lukács wurden im »Tagebuch« mehrere Beiträge gedruckt, z. B. »Gesunde und kranke Kunst« (1952) und »Einführung in die ästhetischen Schriften von Marx und Engels« (1953). Im Frühjahr 1957 arbeitet Lukács wieder an seiner »Aesthetik«, deren erster Teil 1963 unter dein Titel »Die Eigenart des Ästhetischen I« erscheint. Für das »Tagebuch« fällt dabei nichts ab. Die Arbeit ist offenbar zu komplex, um sich für Publikationen in Auszügen zu eignen. Sabine E. Selzer |
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