ISSN: 1680-8975 PURL: http://purl.org/sichtungen/ |
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Klaus Kastberger: Zu einer Philologie des Schaffensaktes. Anhand Friederike Mayröckers »Reise durch die Nacht« (10. 03. 2002). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/kastberger-k-2a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 1 (1998), S. 107-124. |
Klaus Kastberger Österreichische Nationalbibliothek Österreichisches Literaturarchiv Josefsplatz 1, A-1015 Wien Adressinformation zuletzt aktualisiert: 2002 |
Zu einer Philologie des SchaffensaktesAnhand Friederike Mayröckers »Reise durch die Nacht«Klaus Kastberger |
[1/ S. 107:] Wer sich mit der Entstehung von Texten interpretativ auseinandersetzt, ist wahrscheinlich ganz gut beraten, wenn er sich an eine Warnung Peter Szondis hält. Es ist dies ein Einwand, den seinerzeit Friedrich Schleiermacher gegenüber einem seiner Vorgänger, dem klassischen Philologen Friedrich Ast, erhoben hat und der am Beginn der modernen Hermeneutik steht. Ast hatte davon gesprochen, daß es sich beim Verstehensakt um ein »Nachbilden des schon Gebildeten« handeln würde.[1] Mit dieser Formel hat er den methodischen Grundstein all dessen gelegt, was man später eine genetische Literaturanalyse nennen sollte. Da Ast nun aber von der Identitätsphilosophie Schellings geprägt war, hat er den Schöpfungsakt unter idealistischen Vorzeichen gesehen. Die geistige Kreation wurde als ein Vorgang betrachtet, dem - gleichgültig, in welcher Gattung, zu welchem historischen Zeitpunkt oder bei welchem Autor - eine einheitliche Erscheinungsform zukommen sollte. An einem Beispiel aus der Antike, einer Ode von Horaz, führte Ast die Wirkungsweise des poetischen Geistes und deren interpretativen Nachvollzug vor. »Die Erklärung« sollte demnach »von dem ersten Puncte ausgehen, von welchem des Dichters Production begonnen; in ihm ist zugleich die Idee des Ganzen angedeutet, so gewiß der Anfangspunkt der dichterischen Production selbst aus der begeisterten Idee des Ganzen entsprungen ist. Die Idee des Ganzen«, so heißt es bei Ast weiter, »entfaltet sich, nachdem sie im Anfangspuncte ihre erste Richtung empfangen hat, durch alle Elemente des Gedichts hindurch.«[2] Um zu einem adäquaten Verständnis des schriftstellerischen Schaffensprozesses zu kommen, sollte man sich von der Astschen Vorstellung lösen. Daß das Ganze des Werkes in den ersten Ideen beschlossen sei, daß die ersten Notizen, Bau- und Konstruktionspläne wie die vorpro- [1/ S. 108:] grammierten Embryonen des Künftigen wirken und sich der Schöpfungsprozeß insgesamt zu einem harmonischen und organischen Ganzen fügt, ist ein schönes, wenn auch nicht unbedingt richtiges Modell. Freilich könnte es bei Horaz und auch anderswo durchaus so gewesen sein, daß mit den frühesten Gedanken das literarische Werk in seiner Gesamtheit schon vorhanden war. Eine genetische Interpretation, die diesen Namen verdient, hätte dies aber erst in der Nachkonstruktion der tatsächlichen Entstehungsgeschichte zu prüfen. Davon jedenfalls ging Szondi in seinen Arbeiten aus: von einer forschenden Prüfung der Werkgenese, wie sie sich im philologischen Bestand der Werkmaterialien, in den Aussagen der Autoren und nicht zuletzt im Werk selbst zeigt. Bei Friederike Mayröcker scheint diese Rückbesinnung auf eine - wie man es nennen könnte - Philologie des Schaffensaktes in mehrfachem Sinn angebracht. Zum einen haben wir es hier mit einem für die avancierte Literatur des 20. Jahrhunderts exemplarischen Fall zu tun. Mayröcker ist als virtuose Sprachartistin bekannt. In bislang beinahe hundert Buchveröffentlichungen hat die Autorin ein erstaunliches Formenspektrum entwickelt. Dieses reicht von surrealistisch inspirierten Versuchen (versammelt in dem Debütband »Larifari«, 1956) über ›Lange Gedichte‹, experimentelle Texte (»Tod durch Musen«, 1966) und Hörspiele (»Fünf Mann Menschen«, zusammen mit Ernst Jandl, 1971) bis hin zu umfangreichen Lyrikbänden. Ein einzigartiges Phänomen stellt die Serie großer, assoziativer Prosawerke dar, die Friederike Mayröcker seit Beginn der 80er Jahre vorlegt und die sich von dem Buch »Die Abschiede« über »Reise durch die Nacht« und »Mein Herz mein Zimmer mein Name« bis hin zu dem vorläufig letzten Buch »Lection« erstreckt. Die Serie dieser Prosabücher (ebenso wie die Kurzprosatexte der Autorin, die in den Sammelbänden der »Magischen Blätter« erscheinen) besitzt für Fragen der Textgenese und Interpretation eine besondere Relevanz. In ihren Prosaarbeiten legt Mayröcker die spezifische Art ihres Schreibens dar, der Verweis auf die Produktion bildet hier einen genuinen Bestandteil der Texte. Wer die Bücher Mayröckers kennt, weiß automatisch um die Art ihrer Produktion Bescheid: Von einem unablässigen Schreibprozeß, dem unausgesetzten Notieren von Wahrnehmungen und Empfindungen, vom Sammeln dieser Notizen und Materialien, ihrem Anwachsen-Lassen und ihrem Überborden ist hier ebenso die Rede wie von sprachlicher Zucht - von Vorgängen also der Verdichtung und Reduktion, die so lange fortgesetzt werden, bis das Geschriebene ästhetische Autonomie erlangt hat. [1/ S. 109:] Das freie sprachliche Wachstum, das sich bei Mayröcker zu kristallinen Formen umsetzt, führt nur allzu leicht zum freien Assoziieren der Interpreten. Nichts könnte aber anhand dieser Texte weniger gelingen als ein losgelöstes Weiterphantasieren, es tut zur Interpretation dieser Bücher im Gegenteil eine strenge Methode not. Die Rückbesinnung auf Peter Szondi scheint bei Friederike Mayröcker aus einem weiteren Grund angebracht, aus einem Grund, der der Mayröcker-Forschung entstammt. Der Schaffensprozeß der Autorin wurde in den vergangenen Jahren vom deutschen Konstruktivismus untersucht. Die Siegener Vertreter dieser Forschungsrichtung, allen voran Siegfried J. Schmidt, haben in den Texten und Zeichnungen Mayröckers wunderbares Anschauungsmaterial für ihre These von der tätigen Beteiligung des Wahrnehmenden am Wahrzunehmenden (also der regelrechten »Konstruktion« von Wirklichkeit) gefunden. In den 70er und 80er Jahren hat diese literaturwissenschaftliche Variante moderner Kognitionstheorie innerhalb der Mayröcker-Forschung für merkbare Belebung gesorgt.[3] Auf der Strecke blichen dabei allerdings die spezifisch ästhetischen Eigenschaften der Texte, für deren Beschreibung das konkret philologische Herangehen des Peter Szondi in hohem Maße geeignet scheint. Die nachfolgenden Überlegungen werden sich an den genannten Punkten orientieren: Zunächst wenden sie sich der textimmanenten Rede Mayröckers über die Produktion zu. Analysiert werden die zentralen Metaphern und die übergeordneten Strukturfelder, innerhalb derer hier eine spezifisch moderne Form von Textgenese als ein genuin ästhetisches Faktum erscheint. Diese poetisch-poetologische Rede über die Produktion soll aber nicht allein stehen bleiben, weshalb anhand des Buches »Reise durch die Nacht« eine kleine genetisch-philologische Analyse versucht werden soll. |
An dem Mayröckerschen Schaffensprozeß fällt zunächst die Rückbindung an Form und Funktion von Wahrnehmung auf. Die spezifische Form dieser Wahrnehmung trägt ohne Zweifel zum spezifischen Erscheinungsbild dieser Literatur bei. In den Büchern und Texten der Autorin ist davon die Rede, daß sich der Prozeß des Wahrnehmens »sogleich« in Sprache umsetzt. Das spontane Verfertigen von Notizen, das Sammeln und Horten dieser Notizen bildet den unabdingbaren Ausgangspunkt der literarischen Werke. Der Prozeß der Weltwahrnehmung hält sich aber auch unabhängig von unmittelbaren Verwertungsmöglichkeiten in Gang. Oftmals vermag die Autorin gar nicht zu sagen, ›wozu‹ sie ihre Notizen eigentlich anfertigt. ›Ob‹ und ›wie‹ das [1/ S. 110:] solcherart Notierte für die eigene Schreibarbeit zu verwenden sei, wird erst später - ›angesichts‹ der Entstehung von Werken - entschieden. In dem, was die Autorin über die Eigenarten ihrer Wahrnehmung mitteilt, drückt sich eine deutliche Privilegierung zweier Sinne aus; das Auge (und zwar »›das euphorische Auge‹«, MB I, S. 32[4]) und das Ohr gewährleisten die Erfahrbarkeit von Welt. Von Hören und Sehen (von »Verhörungen« und »Verlesungen« auch) ist die Rede, wenn Friederike Mayröcker von der ihrem Schreiben zugrundeliegenden Wahrnehmungsform spricht; Geruchs-, Geschmacks- und Tastsinn scheinen dafür eher irrelevant. Auge und Ohr (»vorwiegend aber das Auge«) kommen zum Einsatz, wenn es um die »kritische Rezeption« von Welt geht - um eine Rezeption, so könnte man ergänzen, die in Literatur Bestand haben kann. Sich selbst hat die Autorin als einen »Augenmenschen« (MB II, S. 184) bezeichnet, und immer wieder ist in dieser Literatur von einer überproportionalen Betonung des »Augensinns« die Rede. Dieser Umsetzungsprozeß von Wirklichkeitserfahrung zu Sprache, der von Auge und Ohr geleistet wird und von der konstruktivistischen Mayröcker-Forschung stark betont wurde, stellt sich aber nicht immer als ein selbsttätig funktionierender Vorgang dar. Oftmals muß die Form eigener Wahrnehmung für das eigene Schreiben produktiv ›gemacht‹ werden. Gerade auf diesem Gebiet - einem Gebiet, das man als jenes der Wahrnehmungstechnik bezeichnen könnte - legt die Autorin, wenn überhaupt, eine Poetik in althergebrachtem Sinn vor; eine Poetik also, die sich als unmittelbare Anleitung zu schriftstellerischem Handeln verstehen ließe. Innerhalb der beschriebenen Wahrnehmungstechniken nimmt wiederum das Sehen eine zentrale Stellung ein. Mayröcker scheint eine Art von Unschärfe anzuempfehlen, wenn sie schreibt: »MAN MÜSSE ZUWEILEN, UM ÜBERHAUPT ETWAS WAHRNEHMEN ZU KÖNNEN, SEINE BLICKE IM ›Halbkreis‹ SCHWEIFEN LASSEN« (A, S. 235). Die bewußte Abweichung von der Beobachtung des realen Bildnisses bringt eine Spannung hervor, und in dieser Spannung erst bietet sich die Grundlage der literarischen Tätigkeit: Dies gilt nicht nur für Bilder, sondern auch für Worte. Die im Optischen gegebene Spannung zwischen Nähe und Ferne stellt sich hier als eine Spannung zwischen den verschiedenen Wortbedeutungen dar. So ist dann auch in dem Buch »Lection« von einem Korrekturprozeß die Rede, der anstatt einer Teleologie der Textgenese deren Zufälligkeit und spontanes Wirken zeigt: [1/ S. 111:] wenn ich in meinem Aufzeichnungen lese, sage ich zu B., wenn ich mich da verlese, sage ich zu B., weiß ich, so muß diese Stelle heißen: indem ich mich verlese, lese ich die endgültige Fassung des Textes (L, S. 218). An dem Zitat wird ein weiteres Element des Mayröckerschen Produktionsprozesses sichtbar: die Abhängigkeit des Schreibens von sprachinternen Gesetzmäßigkeiten. Den großen Prosabüchern Mayröckers ist dies in direkter Weise abzulesen. Im Laufe ihrer Schreibarbeit gerät die Schriftstellerin in einen sprachlichen Sog, der bis hin zu obsessiver »Schreibwut« reicht. Ausgelöst wird dieser Sog von einem Potential, das in der Sprache brachliegt und das die Autorin in unmittelbarer Weise zu nutzen versteht. Um das Schreiben in Gang zu bringen und in Gang zu halten, muß den in Sprache gegebenen Mechanismen nachgegangen und müssen diese im schriftstellerischen Tun nachvollzogen werden. Solches wird beispielsweise vom Rhythmus behauptet, von dem es heißt, daß er in der Sprache schlafe, und im Schreiben »nur richtig geweckt, wachgerüttelt«, ja richtiggehend »wachgeküßt« werden muß (St, S. 136). Neben metrischen Wiederholungen und Entsprechungen ist es die phonetische Ähnlichkeit, in der sich für Mayröcker immer wieder ein Anlaßfall zur Hervorbringung und Anlagerung netter sprachlicher Ausdrücke findet. Hinter dem einzelnen Wort tun sich für die Autorin ganze Reihen ähnlich klingender Wörter auf; zwischen diesen Wörtern kommt es zu »Verkettungen« (S. 111), »Kettenreaktionen« (S. 77) werden ausgelöst: So wird in »Mein Herz mein Zimmer mein Name" ein - wie die Autorin selbst kommentiert-»absurder Zusammenhang« von »Neubuffet Nebenbuffet (Dubuffet)« (S. 111) hergestellt; in »Reise durch die Nacht« werden »Papageien« »Papieren« (S. 11, 38f.) angelagert, »Adern« fügen sich den »Anden« an (S. 97), der »Hut« dem »Hund« (S. 14), der »Schleier« dem »Schreiber« (S. 79) - Beispiele für solche Bildungen ließen sich in großer Zahl finden. Der Wirkungsweise des sprachlichen Soges, der Eigengesetzlichkeit mithin auch, die sich hier zeigt, stellt nun aber eine ganz ausgeprägte Vorstellung von schriftstellerischer Disziplin gegenüber. Diese Disziplin ›zeigt‹ sich nicht nur in der Vielzahl von Textfassungen und Umarbeitungen, die zu jedem Mayröcker-Text vorliegen, sie wird von der Autorin selbst als eine wesentliche Grundlage ihres Schreibens ›behauptet‹. Gerade auf das wechselseitige Verhältnis von Disziplin und Ekstase (»So wird Ekstase zu einer Disziplin« - MB II, S. 129) kommt es an. Die Sprache wird von Mayröcker, und dies ist eine ihrer poetologischen Zentralmetaphern, als »etwas Organhaftes«, ja als eine Art von [1/ S. 112:] »künstlichem Lebewesen« (MB I, S. 14) betrachtet; die schriftstellerische Auseinandersetzung hat darauf Rücksicht zu nehmen. Der im Entstehen befindliche Text wird wie eine lebende Substanz behandelt, er benötigt beispielsweise eine gewisse Reifungszeit und es besteht (bei längerem Liegenlassen) die Gefahr des Verrottens: Man muß damit nicht nur lange gehen, sondern sich mit diesem Stück Poesie lange auseinandersetzen, wenn man es geschrieben hat, man muß lange korrigieren, feilen, Korrekturen von Korrekturen machen, aber vor allem muß man geduldig sein : so ein Stück Text arbeitet ja nach der Fertigstellung weiter bis zum Augenblick seiner endgültigen Reifung, ein paar Tage, ein paar Wochen, ein paar Monate lang, ganz für sich allein : man muß es ruhen, man muß es abliegen, man muß es rasten lassen, wie eine Teigmasse - schade um den Text, der von seinem Autor ungeduldigerweise zu früh in die Welt entlassen wurde! (MB I, S. 14) all diese Notizen, wenn man diese Notizen so lange liegenläßt, ohne sie ins Reine zu schreiben, das zersetzt sich buchstäblich vor meinen Augen, als hätte ich es in Salzsäure getan, das verrottet alles, schließt man die Reinschrift nicht unmittelbar an die ersten Notizen an, das verrottet alles, läßt man der ersten Niederschrift nicht alsbald die Reinschrift folgen, das verliert alles seiner) Sinn, das verliert die Substanz, zurück bleiben leere Hülsen, nicht zu gebrauchen, verfault, ausgehaucht die schöne Seele, das verzehrende Feuer niedergebrannt!, da können womöglich hundert Seiten und mehr zu Bruch gehen (HZN, S. 108). In ihren Prosabüchern führt Friederike Mayröcker den Umgang mit dem organischen Lebewesen Sprache in eigentümlicher Weise vor. Hierbei ist es zur Ausprägung eines ganz »unkonventionellen« und »unorthodoxen Erzählverhalten« gekommen, das mit den logisch-kausalen und chronologischen Abläufen herkömmlichen Erzählens kaum etwas gemein hat. Statt dessen liegt eine vollausgeprägte Programmatik des Nicht-Erzählens vor: »und dann denke ich, während ich durch den triefenden Wald streife [...], ›nur keine Story!‹, auf keinen Fall eine Story zulassen!, das Äußerste ein ›Erzählverlauf, wie Lebenslauf‹« (HdD, S. 121). »Ich handle nicht gern und ich lese nicht gern was eine Handlung hat, also schreibe ich auch nicht was eine Handlung hat oder andeuten könnte«, heißt es in »Reise durch die Nacht« (S. 32). Die beschriebene Art des ›Erzählens‹, dieser »ganz eigene narrative Stil«, der in »sorgfältigster« und »entfesseltster Weise« (HZN, S. 65, ein- [1/ S. 113:] mal mehr zeigt sich hier das Zusammenspiel voll Disziplin und Ekstase) entwickelt wurde, verweist auf die konkret praktizierte Art des schriftstellerischen Vorgehens. In den großen Prosabüchern der Autorin stellt sich dieses Vorgehen als ein tatsächliches ›Gehen‹ dar. Der theoretische Begriff der Narration setzt sich zu einer Metapher um, die in einem lebensweltlichen Zusammenhang gründet. In den einzelnen Prosabüchern erfährt die Art dieses ›Gehens‹ alle möglichen Abstufungen und Modulationen. In »Reise durch die Nacht« stellt es sich als ein ›Streunen‹ dar (»ich streune, strome ja nur herum« -S. 36 und 47, ähnlich auch S. 118), literarisches und außerliterarisches Tun werden parallel gesetzt. »Die Abschiede« sprechen leitmotivisch von einem ›Wandern‹, von einem »Wandern durch ein Motiv« (S. 56). In »Mein Herz mein Zimmer mein Name« dokumentiert sich eine rasante Beschleunigung der Fortbewegungsart; ein »Herumzigeunern« kontrastiert hier einem »Herumwirbeln« und einem »Dahinpreschen« (S. 65, S. 306). Im Gegensatz zu den aktionalen Vorgängen konventionellen ›Erzählens‹ stellt der einzelne Schritt dieses ›Gehens‹ eine reversible Handlung dar. Das schriftstellerische ›Vorgehen‹ ermöglicht ein ständiges Vor und Zurück; die Art des Mayröckerschen Erzählens ist von der Rhythmik dieses Wechselschritts geprägt, auch ermöglicht er jene Wiederholungen, die den Büchern der Autorin ihr spezielles Gepräge geben. Das Kalkül, das hinter dieser Art des Schreibens steckt, zielt nicht allein auf die sprachlichen Interna, sondern gerade auch auf die Wirkung des Geschriebenen ab. Friederike Mayröcker treibt (gerade auch dort, wo sie sich in programmatischer Weise auf Narration und Antinarration bezieht) ein Spiel mit den Erwartungshaltungen und den Reaktionsweisen der Rezeption. Teilweise nimmt sie die Reaktionen der Leser, der Kritik und der Literaturwissenschaft auch direkt in ihre Bücher hinein. So treten dort häufig theoriebeschlagene Kommentatoren auf. Meist sind es männliche Figuren, die über die Dinge des Schreibens bestens Bescheid wissen, wie beispielsweise die Figur des Samuel aus »Stilleben«: In den FRAGMENTEN von Schlegel, sagt Samuel, da steht eben sehr viel drin was man auf deine Bücher anwenden könnte, sagt Samuel, dieses Selbstreflektieren des Buches im Buch usw., mir ist das immer sehr aufgefallen, also ein Buch das NICHTS erzählt, sagt Samuel (St, S. 174). [1/ S. 114:] In die dialogische Struktur der Mayröckerschen Prosabücher bleiben indes nicht nur mögliche Erklärungsversuche und Deutungsmuster integriert, bisweilen findet sich in den Wortmeldungen der männlichen Figuren auch recht harsche Kritik: DU VERSCHANZT DICH JA NUR HINTER DIESEN NATURBESCHREIBUNGEN, UM AUF DAS WESENTLICHE NICHT EINGEHEN ZU MÜSSEN - diese deine ›ewigen‹ Naturbeschreibungen können nicht hinwegtäuschen darüber, daß du die wesentlichen Dinge, die Dinge, auf die es ankommt, jederzeit aussparst, nicht wahr. (St, S. 162) ACH, ruft mein Ohrenbeichtvater dazwischen, KÖNNTEST DU DIR DOCH DIESE DEINE VERFLUCHTEN ALLITERATIONEN VERKNEIFEN!, ruft mein Ohrenbeichtvater dazwischen, so daß ich von neuem beginnen muß (HZN, S. 123). oder was diese Träume betrifft, sagt mein Ohrenbeichtvater, diese Folge von Traumniederschriften, [...] diese Traumsequenzen, sagt mein Ohrenbeichtvater, solltest du dir ›verkneifen› (HZN, S. 167). Das momentane Tun der Schreibenden bleibt von den Einwänden und Vorhaltungen der Ohrenbeichtväter, Vorsager oder wie diese Figuren alle heißen mögen ebenso unberührt wie von jenen programmatischen Tönen, die sie selbst einmal (in einem früheren Buch möglicherweise) geäußert hat. Nicht der Diskursivität des Arguments zeigt sich die Autorin verpflichtet, sondern den genuin eigenen Vorstellungen vom Schreiben, die im Akt des Schreibens stets neu entwickelt werden. Der intime Bereich eigenen Schreibens kontrastiert indes auch den fremden Sprachmaterialien, auf die sich dieses Schreiben zumindest teilweise bezieht. Damit ist es an Fremdheit bei Mayröcker nicht genug, vermittelt die Schreibende doch den Eindruck, in ihrem Tun nicht nur von Fremdzitaten, sondern insgesamt von Fremdpersonen gelenkt zu sein: »Ach, lieber Valerian«, heißt es im Buch »Die Abschiede«, »ich schreibe als führten sie mir die Hand« (A, S. 69). Von Goya wird in »Reise durch die Nacht« behauptet, daß die Schreibende für ihn eine Art »Medium« sei; in »Lection« kulminiert die Nachrangigkeit, die am eigenen schriftstellerischen Tun beobachtet wird, in die Erkenntnis: »Scham- oder Schneckenspur dieser meiner Schmarotzerexistenz« (L, S. 34). Durchaus unsicher bleibt sich die Schreibende darüber, ob es überhaupt das eigene Fühlen und Denken sei, dem sie Ausdruck verleiht, oder ob dieses Fühlen und Denken (als Exzerpt beispielsweise aus Büchern und Briefen) nicht einem fremden Erleben entstammt. Die [1/ S. 115:] »Schmach solch parasitäres ›Kunstverfahren‹« wird in »Mein Herz mein Zimmer mein Name« (S. 29) herausgestrichen, die eigene »Vampirhaftigkeit« in »Stilleben« (S. 58) erwähnt. Durchaus emphatisch bezieht sich das Buch »Lection« auf diese Dinge: »Man muß«, so heißt es dort, »die bewährten Bahnen verlassen, sich durch den Busch schlagen, Formulierungen anderer aufgreifen, übernehmen, kopieren, so wird heute Literatur gemacht betrügerisch : überzeugend« (S. 182). Die beiden letzten Worte des Zitats erscheinen im Druck kursiv. Was dem Leser ins Auge sticht, ist wohl auch dies: daß betrügerisch und / oder überzeugend hier keinen Gegensatz bilden. Die fremden, ja selbst die »heterogensten« Sprachmaterialien, davon weiß auch der bereits genannte »Ohrenbeichtvater« (vgl. HZN, S. 214) zu berichten, werden verwandelt und in das »Eigenste« der Schreibenden überführt. Anders als in den postmodernen Spielen, wo sich der Effekt des Fremdzitats nur allzu rasch in seiner Wiedererkennbarkeit erschöpft, setzt bei Friederike Mayröcker an den Fremdzitaten, an diesen »Absprunggeräten« und »Tournierrampen« des eigenen Schreibens (St, S. 58), eine Transformation an, das Fremde wird zum Eigenen gemacht. Auch zur Bezeichnung dieser Schaltstelle hält Mayröcker ein poetologische Metapher bereit. »Eine gewagte Kleidung«, so heißt es in »Stilleben«, »ist das, was ich schreibe« (St, S. 75). Mit der Sprache wird wie mit Kleidungsstücken umgegangen, sie wird »gepflegt, an ihr [wird] herumgenestelt«, sie wird »gewalkt, geputzt« und »gewaschen« (L, S. 33). Die Kleidung aus Sprache trägt die Schreibende direkt am Körper, ja mehr noch: Diese Kleidung scheint mit dem Körper verwachsen zu sein. »Ich habe mir die blutenden Finger mit weißen dünnen Schreibpapieren umwickelt«, heißt es in »Lection« (S. 12); das Papier klebt am Körper - würde es weggerissen, die Wunde begänne erneut zu bluten. Umgekehrt dringen Adern und Nerven aus dem Körper heraus. Schon der frühe Text »Zuletzt soll er seine ermatteten Adern fächerförmig neben sich ausbreiten« (in: GP, S. 63f.) sprach solches in seinem Titel an; in »Mein Herz mein Zimmer mein Name« ist zu lesen: »die Nerven sprießen mir aus dem Schädel, für alle erkennbar, daß sie mit Fingern zeigen auf mich« (HZN, S. 319). Die Kleidung aus Sprache legt sich an die Oberfläche des Körpers und zeichnet dort die Grenzlinie zwischen innerer und äußerer Welt nach. In jenen Bildnissen, die Friederike Mayröcker von ihrer sprachlichen Kleidung entwirft, scheint diese Grenze nun aber nach beiden Seiten hin durchlässig zu sein. Eine Kleidung, die solches vermag, bietet keinen Schutz vor der Außenwelt, sie umfängt den Körper und zeichnet in sich dessen innerste Regungen nach. Daß Sprache bei Mayröcker [1/ S. 116:] solches vermag, wird in den großen Prosabüchern offenkundig; die: innere Gestimmtheit der Schreibenden korreliert mit der Sprache. Mit dem Körper der Schreibenden findet der Text, der von der Autorin als eine Kleidung gedacht wird, einen hochambivalenten Ort; an der Kleidung zeigt sich beides zugleich: die Triebregungen des Körpers und der soziale Rahmen, innerhalb dessen das Gewand seinen Träger stellt. Ihren Doppelcharakter erweist die Metapher der sprachlichen Kleidung auch hinsichtlich der Frage nach dem Eigenen und dem Fremden: Aus fremden Wortmaterialien wird in der Literatur Mayröckers ein dem eigenen Körper maßgeschneidertes Gewand ›geknüpft‹. Von hier aus entwickelt Mayröcker eine weitere Metapher für den Schreibprozeß. Es sind die Bilder des textilen Gestaltens, von denen die Autorin spricht. Neben dem ›Knüpfen‹ und dem ›Weben‹ ist hier vom »Flechten« (L, S. 153) des Textes die Rede.[5] Der ›Text‹ enthüllt solcherart stets etwas von seinem etymologischen Sinn: Er stellt sich als ein Ineinander von Fäden dar - als ein Gewebe, in dem das Eigene vom Fremden nicht mehr geschieden ist. |
Was die Autorin in ihren großen Prosaarbeiten über ihre Produktion mitteilt (was sie über den Wahrnehmungsprozeß von Welt, über das Ineinander von Ekstase und Disziplin, über die spezifischen Formen des schriftstellerischen Vorgehens, über die Behandlung der Sprache als eine organische Substanz, sowie über die Bekleidung des Eigenen und des Fremden sagt), dies trifft in vollem Umfang auf das Buch »Reise durch die Nacht« zu, welches Mayröcker 1984 veröffentlicht hat. Wie bei allen Büchern der Autorin haben wir es hier mit keiner Autobiographie im herkömmlichen Sinn zu tun. Dennoch kommt einem autobiographischen Einzelereignis eine wichtige Funktion zu. Dieses Vorkommnis wird gleich in den ersten Sätzen des Buches geschildert: Wir sind jetzt aus Frankreich zurück mein VORSAGER und ich und eben noch in dem Schlafabteil habe ich die kalthängenden Wiesengründe an mir vorüberwischen sehen, mit getrübtem Auge weil mir zum Tränenvergießen die Stunden der Nacht waren auch Verteufelung undsoweiter. Das war überhaupt keine gute Zeit da und wir kamen überhaupt nicht zurecht mit irgendwas am wenigstens miteinander, also unsere Beziehung hatte sich da erschöpft; überhaupt nicht mit dem Ablauf der Dinge, was dem Umstand zuzuschreiben sein mochte wir beherrschten die Sprache nicht, immer noch nicht trotz zahlreicher Ansätze sie zu erlernen die längste Zeit trotz meiner Verliebtheit in sie [...]. [1/ S. 117:] Um welche Reise es sich handelt, wird im Buch an keiner Stelle spezifiziert, rasch wendet sich der Text von der konkreten Reise ab und einer viel allgemeiner gehaltenen Vorstellung des Reisens zu. Von dem Zustand einer »nichtendenwollenden Nachtreise« ist ebenso die Rede wie von Lebens- und Lektürereise aller Art, innerhalb der verwendeten Metaphern nimmt die Sonne und ihre täglich wiederkehrende ›Reise‹ über den Himmel eine zentrale Stellung ein. Aus Gesprächen mit der Autorin, aus Notizen und Vorstufen zum Buch[6] sowie auf der Grundlage der detaillierten Aufzeichnungen von Ernst Jandl ließ sich als Kern all dessen die folgende Begebenheit erschließen: lm Juni 1983 hatte die Autorin gemeinsam mit Jandl eine Fahrt nach Paris unternommen, in der Nacht von 16. auf 17. Juni kamen die beiden im Schlafwagen nach Wien zurück. Am Morgen hat die Autorin eine Reihe von Notizen angefertigt,[7] innerhalb derer die ersten Sätze des Buches fixiert waren. Von diesem Zeitpunkt an sei es mit den Schreibarbeiten zu »Reise durch die Nacht« zügig weiter gegangen, »ich mußte es einfach rollen lassen«, merkte die Autorin dazu gesprächsweise an.[8] Was sich in der Erinnerung Friederike Mayröckers als ein textlicher und konzeptioneller Neubeginn darstellt, greift - wie sich aus den Vorstufen zu »Reise durch die Nacht« philologisch schließen läßt - auf einen umfangreichen und zum Zeitpunkt von Mayröckers Rückkehr aus Frankreich bereits vorliegenden Materialienbestand zurück. Dieser umfaßt zwei kürzere ›Versuche‹ (im Umfang von jeweils maximal fünf Seiten) sowie eine annähernd hundertseitige Materialsammlung, die auf der Grundlage der beiden Versuche gefertigt wurde. Der Anstoß zu diesen Schreibarbeiten ging - wie bei einer Reihe früherer Texte - vom Herausgeber der Zeitschrift »protokolle« aus. Wie sich Otto Breicha in einem Brief erinnert, hatte er sich im Herbst 1982 mit einer Bitte an die Autorin gewandt: Es war notorisch so, daß ich zu Themen der bildenden Kunst Frau Mayröcker im Laufe der Jahre immer wieder Anregungen gegeben habe, sie mit Bildmaterial (Büchern) versorgt und etliches an Texten bewirkt habe. [...] So war es auch im Fall Goya. Soweit ich mich noch erinnere, habe ich Frau Mayröcker einen Band der ›Proverbius‹, gegeben und hätte dann gedacht, eine repräsentative Publikation herauszubringen, wo jeder Bildtafel ein von ihr verfaßter Text gegenübergestanden wäre. Frau Mayröcker hat sich mit diesem Vorschlag eingehend befaßt, die Publikation ist nicht zustande gekommen, vor allen auch deshalb, weil sie sich zu einer derartigen Textstruktur doch nicht entschließen konnte.[9] [1/ S. 118:] Die Spuren der Beschäftigung mit Goya sind in den frühen Textstufen schon in der Titelgebung erkennbar. Einer der beiden Versuche trägt den - einer Radierung des Künstlers entlehnten - Titel »NADA / NICHTS«. Auch in der umfangreichen, gut hundertseitigen Materialsammlung war als Titeleintrag »GOYAS DIKTAPHON, GOYAS MEDIUM« vorgesehen.[10] Dennoch findet in den Materialien nicht statt, was man als eine literarische Auseinandersetzung mit einer thematischen Quelle bezeichnen würde. Vielmehr repräsentiert sich hier der Versuch, vorangegangene und abgeschlossene Einzeltexte für den neuen Verwendungszweck zu aktivieren. Das Schreiben beginnt also durchaus nicht vor einem leeren weißen Blatt, statt dessen greift die Autorin, um eine Breichas Wunsch gemäße Textproduktion zu initiieren, auf bereits geschriebene, eigene Texte zurück.[11] Sie verfertigt Abschritten, zerstückelt sie in Einzelsegmente und ordnet diese in neuer Form an. Die Veränderung ihres Strukturkonzepts ist diesen frühen Textstufen eingeschrieben: In den beiden ›Versuchen‹ wird eine kapitelmäßige Einteilung sowie die Verwendung von Zwischentiteln und Marginalien erwogen, im Verlauf der Arbeit an der ersten umfangreichen Materialsammlung werden solch übergelagerte Formschemata fallen gelassen. Mit dem ursprünglichen Plan, und das bestätigt die dahingehende Erinnerung Otto Breichas, dürfte Friederike Mayröcker tatsächlich größere Schwierigkeiten gehabt haben, auch ist es, soweit sich dies feststellen ließ, niemals zur Ablieferung eines Textes an Breicha gekommen. Nichtsdestotrotz hat die Autorin über Monate hinweg weiteres Material an den ursprünglichen Kern ihrer Unternehmung (den projektierten Goya-Text) angelagert. Der Charakter der daraus resultierenden Textsammlung geht - auch wenn sich in ihm ein von Dezember 1982 bis Mai 1983 reichender chronologischer Faden zeigt - über denjenigen eines privaten Tagebuches hinaus, von Beginn an zeigen die Aufzeichnungen einen Zug zur poetischen Auflösung von Wirklichkeit, zu einer magischen Überhöhung des Realen, welcher für das Mayröckersche Schreiben von großer Bedeutung ist. Noch während der Arbeiten an der Materialsammlung vermochte die Autorin das Geschriebene auch literarisch zu nutzen. Mehrere Passagen wurden zu Einzeltexten weiterverarbeitet, die dann auch eigenständig publiziert wurden.[12] Den Plan zu einer selbständigen Buchpublikation faßte Mayröcker erst nach ihrer Rückkehr aus Paris. Auf der Grundlage der am 17. Juni 1983 im Schlafwagen entstandenen Notizen begann sie gleich anschließend mit der Anfertigung einer zweiten Materialsammlung. Deren Inhalt und Form legen den Schluß nahe, daß diese Entscheidung [1/ S. 119:] sehr spontan gefallen ist. Anders als im Herbst 1982 setzte die Schreibarbeit hier nicht an vorliegenden Texten an; die Autorin hat zunächst auf einen Rückgriff auf das bislang Geschriebene verzichtet; die Arbeit im Juni 1983 stellt sich somit als ein (wohl auch konzeptioneller) Neubeginn dar. Erst nachdem die zweite Materialsammlung auf beinahe 70 Seiten angewachsen war, griff Mayröcker auf den früheren Materialienbestand zurück. Von Oktober bis Dezember 1983 verfertigte sie aus den beiden vorliegenden Materialsammlungen eine von ihr selbst als solche bezeichnete »erste Reinschrift«, die dann auch schon weitgehend der späteren Druckvorlage des Buches entsprach. Die interne Textabfolge der beiden Materialsammlungen wurde in dieser Reinschrift weitgehend aufgelöst; Passagen und Segmente aus den beiden Materialsammlungen - bis hinab zu den kleinsten lexikalischen Einheiten durchgemischt und kombiniert. Trotz einiger Abweichungen im Detail läßt sich - aus kodikologischen Bestimmungen (die Autorin streicht die übernommenen Textstellen in den vorausgehenden Textstufen unter Verwendung verschiedenfarbiger Stifte weg) - der ›Weg‹ erkennen, den Mayröcker durch die ihr vorliegenden Materialsammlungen genommen hat: Zunächst hat sie die zweite Materialsammlung von Beginn bis Ende nach erhaltenswert scheinenden Textpassagen abgesucht, ist dann an den Anfang und den Schluß der ersten Materialsammlung übergesprungen, hat diesen Teil ab der Mitte bis gegen das Ende hin abgesucht, um anschließend auch noch deren vordere Hälfte miteinzubeziehen. Gegen Ende der Arbeiten an der Reinschrift hat die Autorin dann - und diesen Ausdruck verwendet sie in einer beigefügten Anmerkung selbst - beide Materialsammlungen im Hinblick auf übersehene, aber erhaltenswerte Textpassagen »durchforstet« (Reinschrift, S. 126). Textliche Neuaufnahmen halten sich in der Reinschrift in engen Grenzen. Der maßgebliche Arbeitsschritt wäre als ein die vorhandene Textmenge komprimierender und verdichtender Vorgang zu verstehen. Es wurden jetzt verstärkt metrische, morphologische und phonetische Äquivalenzen gesetzt. Die puren Realien dagegen wurden, zurückgedrängt. So waren etwa in den frühesten Textstufen noch ganze Personennamen, später nur mehr deren Initialen vorhanden, schlußendlich wurden diese, ohne daß hierbei im Umkehrschluß eine direkte Eins-zu-eins-Zuordnung möglich wäre, durch die poetischen Namen der letzten Textstufen, »LERCH« und »VORSAGER«, ersetzt. Nicht nur von realen Personen, auch von realen Ereignissen löste sich der Stoff zusehends ab, es fand eine freie thematische Entfaltung des Reisens und der Reise statt. [1/ S. 120:] Die Festfügung des Textganzen äußert sich auch in einem formalen Detail. Im Übergang von den früheren Textstufen zur Reinschrift hat die Autorin die Kleinschreibung durch die kompakter und starrer wirkende Klein-/ Großschreibung ersetzt. Hierzu hat Mayröcker im Gespräch angemerkt: Der Gedanke an das Formale ist immer vorhanden. Nur ist hier, in den früheren Fassungen, alles jederzeit verschiebbar und jederzeit eliminierbar. Die ersten Versionen fertige ich auch immer in Kleinschrift an. Indem ich dann ganz bewußt ab der Reinschrift groß / klein schreibe, präge ich mir selbst den Stempel auf: ›Also jetzt wird’s ernst‹. Das vorausgehende Kleingeschriebene ist immer auch ein Versuch vor mir selbst, ich schreibe ja auch meistens dazu: ›versuch‹. Da ist alles noch veränderbar, und ich will es gar nicht ganz offenlegen oder klar legen vor mir selbst, sondern ich probiere immer auch ein bißchen herum. Es ist alles noch etwas verworren, und ich bin neugierig, was sich da herausdestilliert.[13] Wenn man sich die Genese von »Reise durch die Nacht« nochmals überblicksmäßig ansieht, so fällt auf, daß die beiden Materialsammlungen (ihre Anfertigung, der bei weitem zeitintensivste Teil der Schreibarbeit, hatte von November 1982 bis Mitte Oktober 1983 gedauert) erst in einer sehr späten Phase der Schreibarbeiten zusammengefügt wurden. Die unterschiedliche entstehungsgeschichtliche Herkunft der Materialien hat sich auch manifestiert, als Friederike Mayröcker daran ging, ihr Buch mit einem endgültigen Titel zu versehen. Die Eintragungen auf der ersten Seite der Reinschrift legen nicht nur Zeugnis von der Vielzahl der erwogenen Varianten ab, sie zeigen auch, daß die Bezugnahme der Titelgebung beiden Materialkernen gilt. In einer ersten Aufstellung trifft man auf folgende Titelvorschläge: »REISE DURCH DIE NACHT«; »DER VORSAGER«; »NADA.NICHTS.«; »BIS ANS ENDE DER NACHT«; »DIE REISE«; »GEMÜTSWALZER«. Handschriftlich wurde diese Liste mit Nummern versehen und solcherart neu gereiht: »1) DER VORSAGER«, »2) NADA.NICHTS.«, »3) DIE REISE«, »4,) GEMÜTSWALZER«, »5) BIS ANS ENDE DER NACHT«, »6) REISE DURCH DIE NACHT«. Unterhalb dieser Aufstellung findet sich - wiederum handschriftlich eingetragen - eine weitere und wahrscheinlich endgültige Aufstellung: »1) NADA.NICHTS«, »2) Der Vorsager«, »3) BIS ANS ENDE DER NACHT«, »4) REISE DURCH DIE NACHT«. Die Druckvorlage zum Buch dürfte wahrscheinlich noch im Dezember 1983 entstanden sein; Mayröcker gibt dieses Datum in einer die Textstufe abschließenden Eintragung, die sich auch im Buchtext [1/ S. 121:] (RddN, S. 1.36) erhalten hat, als Ende der Gesamtschreibarbeiten an. Als Titel der Publikation war seitens der Autorin »NADA.NICHTS« (und zwar ohne Spatium nach dem Punkt) vorgesehen. Auf Wunsch des Verlages mußte dieser Titel jedoch geändert werden, Mayröcker entschied sich daraufhin für das in den Aufstellungen noch weit hinten gereihte »REISE DURCH DIE NACHT«. Im Unterschied zur Reinschrift zeigen sich in der nachfolgenden Textstufe, der Druckvorlage, nur mehr lokal begrenzte Korrekturen und Änderungen. Einzelne Textpassagen aus der Druckvorlage (in einem einzigen Ausnahmefall bereits auch aus der Reinschrift) hat die Autorin als (in der Mehrzahl der Fälle ausdrücklich als solche gekennzeichnete) ›Vorabdrucke‹ der entstehenden Buchpublikation veröffentlicht.[14] Im allgemeinen folgen diese Einzelveröffentlichungen den etablierten textlichen Zusammenhängen, die vorgenommenen Korrekturen sind gegenüber den zugrundeliegenden Textstufen von geringfügigem Ausmaß. Aus den vorliegenden Materialien läßt sich die Entstehungsgeschichte des Buches ziemlich exakt rekonstruieren. Die Erinnerung der Autorin vermag diese Rekonstruktion in vielem abzusichern. An entscheidenden Punkten tun sich hier dennoch Widersprüche auf. Im Jahr 1986 hat Friederike Mayröcker beispielsweise zur Entstehungsgeschichte von »Reise durch die Nacht« angemerkt: Bei Reise durch die Nacht‹ begann es mit der Notiz in der Früh beim Anziehen im Schlafwagen, da habe ich das aufgeschrieben. Da war ich voll Wut, weil alles so eng war, und auch Wut im Rückblick auf Frankreich, obwohl ich Frankreich so liebe und Paris liebe und die Sprache. Plötzlich war das alles entsetzlich, und da habe ich das eben aufgeschrieben. Und dann habe ich mir gedacht, es geht vielleicht weiter, habe aber nicht gleich weiter geschrieben. Otto Breicha wollte dann für die ›protokolle‹ etwas Neues, und da hab ich gesagt: ich glaube, ich werde so sieben acht Seiten machen können [...]. Da [...] hat [er] mir dann auch einen Abgabetermin gesagt, und den habe ich eingehalten. Und da habe ich so acht oder zehn Seiten für die ›protokolle‹ gemacht. Das war der Anfang von ›Reise durch die Nacht‹. Der Anfang wurde dann im richtigen Manuskript ein bißchen geändert.[15] Sechs Jahre später stellen sich Teile der Entstehungsgeschichte von »Reise durch die Nacht« in der Erinnerung der Autorin in modifizierter Form dar: [...] bei ›Reise durch die Nacht‹, glaub ich, war das so, daß ich da schon ein Stückchen gehabt hab, da wollte Otto Breicha etwas über Goya haben - da hab ich schon ein Stückl gehabt und dann hab ich diese Reise gemacht von Paris [1/ S. 122:] nach Wien im Nachtzug. Noch im Nachtzug beim Ankommen in Wien hab ich mir die erste Seite notiert, die ist genau im Schlafwagen noch entstanden, die erste Seite von ›Reise durch die Nacht, ›wir sind jetzt aus Frankreich zurück, mein Ohrenbeichtvater, nein, nicht Ohrenbeichtvater, er hat anders geheißen, und ich.[16] Die Auflösung der philologisch verbürgten Chronologie und die Überblendung der Ereignisse, die sich in der Erinnerung der Autorin vollzieht, entspricht einer Bewegung, die innerhalb von »Reise durch die Nacht« selbst eingelöst wird. Die beiden entstehungsgeschichtlich getrennten Kerne, an denen die Materialgruppen angelagert wurden, verschmelzen ab der Reinschrift zu einer poetologisch-poetischen Einheit. Was an der Genese philologisch zu erheben war, findet auf diese Weise einen Umschlag ins Ästhetische, und die Bedachtnahme auf diesen letzten Umschlag sollte innerhalb einer genetischen Analyse nicht fehlen. Dies war es wohl, was Theodor VV. Adorno in seiner »Ästhetischen Theorie« gemeint hat. Der Philosoph, der (was bei Peter Szondi einen methodisch so fruchtbaren Boden fand) die Fähigkeit, Kunstwerke von innen, in der »Logik ihres Produziertsein« zu sehen, für die alleinige Gestalt einer zeitgemäßen Ästhetik gehalten hat,[17] sprach hier zugleich den Grenzwert eines solchen literatur- und kunstwissenschaflichen Vorgehens an. Moderne Kunstwerke folgten demnach »ihrem Formgesetz, indem sie ihre Genese verzehren.«[18] In Friederike Mayröckers »Reise durch die Nacht« liegt das Beispiel eines solchen Verzehrs vor. Hier setzen sich die Brüche des Schreibprozesses, die momentanen Umwertungen des sprachlichen Materials, das plötzliche Auftauchen neuer Dimensionen, das Erscheinen von Ecken und Kanten, die sich über den in stetem Wachstum begriffenen Materialienbestand legen, hier setzt sich dies alles zu einem Textkörper um, der die Spuren seiner Verfertigung in sich trägt und sich dennoch auf diese Spuren allein nicht reduzieren läßt. |
ANMERKUNGEN 1] Friedrich Ast, zit. nach Peter Szondi: Einführung in die literarische Hermeneutik. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1975 (= Studienausgabe der Vorlesungen 5), S. 152. 2] Ast (Anm. 1), S. 152f. 3] Vgl. dazu Siegfried J. Schmidt: Fuszstapfen des Kopfes. Friederike Mayröckers Prosa aus konstruktivistischer Sicht. Münster: Kleinheinrich 1989 sowie die Beiträge von Schmidt in: Friederike Mayröcker. Hg. von Siegfried J. Schmidt. [1/ S. 123:] 4] Die Texte von Friederike Mayröcker werden mit folgenden Siglen zitiert: (A) Die Abschiede. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1980; (MB I-IV) Magische Blätter 1-4. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1983-1995 (= Edition Suhrkamp 1202); (RddN) Reise durch die Nacht. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1984; (HdD) Das Herzzerreißende der Dinge. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1985; (HZN) Mein Herz mein Zimmer mein Name. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1988; (GP) Gesammelte Prosa 1949-1975. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1989; (St) Stilleben. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1991; (L) Lection. 2. Aufl. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1995. 5] Vgl. dazu Marcel Beyer: Textur. Metaphorisierung und Ent-metaphorisierung in Friederike Mayröckers »Stilleben«. In: In Böen wechselt mein Sinn. Zu Friederike Mayröckers Literatur. Hg. von Klaus Kastberger und Wendelin Schmidt-Dengler, Wien: Sonderzahl 1996, S. 140-150. 6] Diese Materialien entstammen dem Friederike-Mayröcker-Archiv der Wiener Stadt- und Landesbibliothek und wurden ediert in dem Forschungsbericht von Klaus Kastberger: Reinschrift des Lebens. Eine genetische Analyse zu Friederike Mayröckers 7 Reise durch die Nacht«. Wien: [masch.] 1996. 7] Faksimiliert liegen diese vor in: Der literarische Einfall. Über das Entstehen von Texten. Hg. von Bernhard Fetz und Klaus Kastberger. Wien: Zsolnay 1998 (= Profile. Magazin des Österreichischen Literaturarchivs 1), S. 23. 8] »Lebensirritationsvorstellungen«. Gespräch Friederike Mayröckers mit Siegfried J. Schmidt. In: Schmidt, Fuszstapfen (Anm. 3), S. 121-144, hier S. 138. 9] Brief Otto Breichas an den Verf. vom 23. September 1993. 10] Faksimiliert wiedergegeben in: Einfall (Anm. 7), S. 21. 11] Die beiden übernommenen Einzeltexte wurden auch eigenständig publiziert: Im Fall von »... habe immer so eine Luftballonkindheit gehabt« lag der entsprechende Abdruck zum Zeitpunkt der Neuaufnahme bereits vor (in: Freibord 27, Herbst 1982); vor der Übernahme hat Friederike Mayröcker die gedruckte Fassung noch mit einigen wenigen handschriftlichen Korrekturen versehen. Die Einarbeitung des zweiten Textes »Ländliches Journal, für Walter Höllerer« erfolgte auf der Basis der für den Sammelband »Magische Blätter« (Frankfurt / Main: Suhrkamp 1983) erstellten Druckvorlage. Während sich der genetische Weg der beiden Einzeltexte in den frühesten Werkmaterialien bis hin zu den ersten Seiten der ersten Materialsammlung unmittelbar verfolgen läßt, üben die späteren Textstufen von »Reise durch die Nacht« auf die aus den beiden Einzeltexten entnommenen Passagen weitgehend Verzicht. In der Druckfassung des Buches findet sich von den beiden Ausgangstexten kaum mehr eine Spur. 12] Bei diesen Texten handelt es sich um: »Glück und Regenbogen«. Erstveröffentlichung in: Über das Glück. Literaturalmanach 1983. Hg. von Jochen Jung. Salzburg: Residenz 1983, S. 89f.; auch in: MB II, S. 131-134. »Tableau«. Erstveröffentlichung in: Heft 9 (Oktober 1983), S. 20, auch in: MB II, S. 33. »Die Fliegermütze der Fliegermai«. Erstveröffentlichung in: Süd-Ost-Tagespost (Graz), 17. Juni 1983. »Stigmatisierung eines Dichters«. Erstveröffentlichung in: Alpha- [1/ S. 124:] Beet. Hg. von Jens Olsson und Friedolin Reske. Düsseldorf: Eremiten Presse 1983, S. 69, auch in: MB II, S. 27. »Briefe eines Prometheus«. Erstveröffentlichung in: Hubert Aratym und Friederike Mayröcker: Configurationen. Wien: Sonderzahl 1985, unpag., auch in: MB III, S. 97-100. »Im Nervensaal, Himmel am zwölften Mai«. Erstveröffentlichung als Druck der Herbstpresse, Wien 1983, auch in: MB II, S. 173. 13] Interview mit Friederike Mayröcker in: Kastberger (Anm. 5), S. 353-363, hier S. 355. 14] Diese Texte sind: »Fließen der Bilder im Augenblick der Angst«. In: Die Furche (Wien), 19. Oktober 1983, S. 12 (Referenzstellen im Buchtext von »Reise durch die Nacht«, S. 64-66); »Gemütswalzer«. In: Die Presse (Wien), 26./27. November 1983, Spectrum (Beilage zu Die Presse) S. 4 (vgl. RddN, S. 90-97); »Name kommt ins Besitzlose«. In: Freibord 36 (Herbst 1983), S. 5-8 (im Editorial der Zeitschrift wird für das - wie es heißt - "im Herbst 1984 erscheinende« Buch Friederike Mayröckers der Titel »Nachtfahrt« angeführt, Referenzstelle in RddN, S. 20-25); »da ist im Mann der Flammenengel offen«. In: Literatur und Kritik 181/182 (Februar / März 1984), S. 24 und 29 (RddN, S. 11-22); »eigentlich ist der Traum weg«. In: Sterz 28 (Frühjahr 1984), S. 24f. (Referenzstellen in RddN, S. 21f., 32-37, 42-44). 15] »Lebensirritationsvorstellungen« (Anm. 8), S. 139f. 16] Friederike Mayröcker und Dieter Sperl: In einer Art ohne Netz [Gespräch]. Graz: Edition Gegensätze 1994 (= Edition Gegensätze 3), S. 13f. 17] Theodor W. Adorno: Valérys Abweichungen. In: Ders.: Noten zur Literatur. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1981 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 355), S. 158-202, hier S. 159. 18] Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1973 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 2), S. 266f. |
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