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Sichtungen. Archiv - Bibliothek - Literaturwissenschaft ISSN: 1680-8975
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Nikolaus Wegmann: Bücherlabyrinthe. Suchen und Finden im alexandrinischen Zeitalter. Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2000, 368 S., ISBN 3-412-15499-7, € (A) 35,50 / € (D) 34,50

Rezension

Thomas Degener

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2004-01-14
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Fragen der Erinnerung und des Umgangs mit dem kulturellen Erbe erfahren derzeit eine anhaltende Konjunktur. Hintergrund und Ausgangspunkt von Nikolaus Wegmanns als Habilitationsschrift entstandener Untersuchung »Bücherlabyrinthe« ist zunächst einmal die Irritation an der vom Individuum nicht überblick- und bewältigbaren Fülle und Last der kulturellen Erzeugnisse, deren Verselbständigung gegen den Menschen Georg Simmel in seinem gleichnamigen Aufsatz als »Begriff und Tragödie der Kultur« beschrieben hat. Wie gehen wir um mit dem Vielzuviel des Wissens bzw. der Bücher? Wie ordnen wir es? Und wie halten wir es aus? Konkreter: Wie lesen wir die Bibliothek?

Nicht von der Bibliothek als idealisierter Ganzheit des Wissens ist bei Wegmann die Rede, sondern immer wieder (auch in den vielen »Fallgeschichten«, in denen er etwa an den Beispielen Lessing, Herder oder Gumbrecht verschiedene Strategien des Umgangs mit der Bibliothek beschreibt) von der Dunkelheit und Intransparenz des »Molochs« Bibliothek. Der Gang in die Bibliothek, so Wegmann, gleiche einem Kräftemessen, »bei dem die Vorteile auf Seiten der Bibliothek liegen« (S. 6). Die Monstrosität der ständig wachsenden Bibliothek, die zugleich auch eine starke Faszination ausübt, hat immer schon Gegenbilder (etwa das der Bibliothek als Ort verehrungswürdiger Schätze) evoziert, um ihren Anblick erträglich zu machen. Auch jede Form der Inventarisierung erscheint so als – angesichts der Heterogenität des Materials letztlich immer zum Scheitern verurteilter – Versuch, das Monster Bibliothek zu bezwingen oder doch wenigstens zu zähmen. Die beiden Extrempole in der Auseinandersetzung mit der Bibliothek stellen, von Wegmann besonders an den Philosophen Schopenhauer und Ortega y Gasset exemplifiziert, die Abwertung der Bibliothek als wertlose Unmenge von Sekundärem einerseits, und die Idealvorstellung einer gleichsam buchförmigen, auf die wenigen wesentlichen Werke reduzierten Bibliothek andererseits dar.

Wegmanns eigener Zugang zum beunruhigenden Phänomen der Bibliothek setzt sich dabei sowohl von einem bibliothekswissenschaftlichen Zugang als auch von einem metaphorischen Archivbegriff ab. Das größte Manko einer primär praxisorientierten Bibliothekswissenschaft auf der einen Seite ist aus seiner Sicht, daß sie nichts weiter als bloße Effizienzsteigerung im Sinn hat und damit das Eigentliche des Phänomens Bibliothek vollständig verfehlt. Sie vermag die Bibliothek immer nur als Speicher aufzufassen, der mit der ›wesentlichen‹ Arbeit nichts zu tun hat und den es nur unter quantitativen Gesichtspunkten möglichst effizient zu ordnen gilt. Auf der anderen Seite steht die traditionelle Sicht auf die Bibliothek als Gesamtheit des kulturell Wertvollen und Schützenswerten. Die »allgemeine Operationsprämisse«, alle Bücher verdienten einfach deshalb in die Bibliothek aufgenommen zu werden, weil sie Bücher sind (S. 89), stellt eine Sichtweise dar, sich mit dem Monstrum zu arrangieren. In der Praxis der Bibliothek dagegen ist es jedoch »keineswegs selbstverständlich, alle ihre Bücher, gleich welchen Wert man ihnen zuschreibt, als kostbar anzuerkennen und so nicht nur die bislang als Spezialabteilungen geführten Rara, sondern den gesamten Bestand als aufbewahrens- und erhaltenswert zu begreifen« (S. 197). So scheint der Begriff der (von den Büchern repräsentierten) Kultur hier vor allem dazu zu dienen, die Undurchschaubarkeit und Dunkelheit der Bibliothek zu verdecken.

Dagegen geht es Wegmann darum, die Bibliothek nicht nur als Aufbewahrungsort des Kulturguts Buch, sondern als Realität eigenen Rechts zu verstehen. Wie aber kann man dieser spezifischen Realität der Bibliothek theoretisch gerecht werden? Diese Frage wird von Wegmann immer mitreflektiert – und dieses Sich-Abarbeiten an der Frage, ob die Bibliothek überhaupt zu begreifen sei, stellt nicht die geringste Qualität von Wegmanns Studie dar. Seine theoretische Konzeption ist dabei wesentlich durch die Systemtheorie Niklas Luhmanns beeinflußt: So in der Unterscheidung von Medium und Form, so auch in der Terminologie, wenn etwa häufig von strukturellen oder losen Kopplungen die Rede ist. In Übereinstimmung mit Luhmann steht auch die grundsätzliche Skepsis, ob ›die‹ Bibliothek theoretisch erfaßt werden kann: Es gibt eben nicht die Totalität des überkomplexen Phänomens Bibliothek, sondern immer nur beobachterabhängige Beschreibungen, systemtheoretisch gesprochen: Unterscheidungen. Ausgehend von der Einsicht, daß die Bibliothek niemals die ideale Repräsentation eines Wissens sein kann (eine Erfahrung, die historisch um 1800 mit dem Verlust der bisherigen religiösen und gesellschaftlichen Gewißheiten spürbar geworden ist), untersuchen die »Bücherlabyrinthe« das kulturelle Gedächtnis in seiner konkreten Erscheinungsform: Dabei handelt es sich um ein »operatives Verständnis« der Bibliothek. Als zentrale Operation der Bibliothek wird hier das Entwickeln von Schemata des Suchens und Findens beobachtet, die den Umgang mit den vielen, in ihrer Ganzheit unerreichbaren Büchern sinnvoll und produktiv zu organisieren vermögen. Der theoretische Anspruch muß sich daher in der Beschreibung der Bibliothek und der Formen ihrer Nutzung bewähren. Theorie soll eher den Sinn für die Erstaunlichkeit des Phänomens Bibliothek schärfen und Hilfe zum Nachvollzug der Erfahrung sein, sie kann nicht Mittel der Kontrolle und der strengen Ordnung der Phänomene sein (S. 280f.). Methodisch liegt der Fokus auf dem konkreten Umgang des Bibliotheksbenutzers mit der Bibliothek. Dies erlaubt Wegmann die Ausbreitung vieler Fallgeschichten, was die stilistisch elegant und mit feiner Ironie (speziell im Umgang mit seinen literarischen Funden) geschriebenen »Bücherlabyrinthe« zu einem sehr vergnüglich zu lesenden und anregenden Buch macht.

Läßt sich über die Bibliothek als ganze, so Wegmanns Fazit, im Grunde nicht mehr sagen, »als daß die Bücher nicht so wieder herauskommen, wie man sie hineingegeben hat« (S. 331), dann stellt sich die Frage, was das für Wegmanns Anliegen bedeutet, die Bibliothek als literaturwissenschaftlichen Grundbegriff zu etablieren, der bisher weitgehend übersehen oder gemieden worden sei. Die Vorstellung einer von der Bibliothek unabhängigen Literatur sei a priori unsinnig: Auch die klassischen und kanonisierten Texte verdanken ihre Dauer einzig und allein dem Kontext der Bibliothek. Also muß vom Phänomen der Bibliothek aus deutlich gemacht werden, was Literatur ist. Im Blick auf den Umgang der Literatur mit der Bibliothek soll eine neue Sicht der Literatur aus der Perspektive der Bibliothek entstehen. Gegen eine nur literaturkritische Literaturwissenschaft hat Literatur als »Bibliotheksliteratur« erwiesen zu werden, d. h. als Funktion der Bibliothek beziehungsweise ihrer Auswertung. Literatur entsteht im produktiven »Kontakt zwischen Buchbestand und Benutzer« (S. 240) und ist daher notwendig immer »Bibliotheksliteratur«. Partiell konvergiert dieser Ansatz mit dem Modell der Intertextualität, jedoch will er nicht auf das Verhältnis konkreter Texte zueinander beschränkt bleiben. Dagegen ließe sich fragen, ob der hier vertretene Begriff der Bibliothek nicht auch selber metaphorische Züge trägt bzw. mit einem sehr weit gefaßten Verständnis des kulturellen Archivs zusammenfällt. Vor allem aber: daß Literatur notwendig Bibliotheksliteratur ist und nur im Kontext anderer Literatur entstehen kann, wird nicht erwiesen, sondern als Ausgangsthese immer schon vorausgesetzt. Der Begriff der Bibliotheksliteratur und die Begeisterung für ihre potentielle Produktivität erscheint damit letztlich etwas emphatisch und unreflektiert. Zugleich bleibt auch der Begriff der literarischen (im Gegensatz zur wissenschaftlichen) Literatur, die in besonderem Maß die Produktivität der Bibliothek erweist, merkwürdig unterbestimmt, zumal zugleich der Begriff der Kunst als nicht mehr erklärungsfähige Kategorie zurückgewiesen wird.

Der zur Beschreibung der Bibliothek traditionell immer wieder herangezogene (und auch titelgebende) Begriff des Labyrinths fällt also bei Wegmann nicht mit dem des Monstrums zusammen: Die Unüberschaubarkeit der Bibliothek läßt Möglichkeiten zur Orientierung offen und rechtfertigt keine grundsätzliche Skepsis. Die Bibliothek, so lautet Wegmanns Plädoyer, muß in ihrer Komplexität und Monstrosität als eine Realität, der gegenüber keine Souveränität möglich ist, ganz einfach akzeptiert werden. Die Unüberblickbarkeit der Bibliothek erscheint dann nicht mehr als ihr grundlegender Fehler, sondern im Gegenteil als unerschöpfliches Stimulans. Gegen jeden Versuch, die Bibliothek nach Wertgesichtspunkten hierarchisch zu ordnen, insistiert Wegmann darauf, daß gerade das vermeintlich Wertlose immer wieder eine Quelle für Innovationen darstellen kann. Wider die Ordnungsliebe der Bibliothekare werden hier die verschiedenen Formen des »abweichenden« und auf irgendeine Art produktiven Umgangs mit der Bibliothek voller Sympathie geschildert und verteidigt, etwa die für die sinnliche Faszination der Bibliothek einstehende Figur des Bibliomanen mit seinem als illegitim erscheinenden (weil nicht auf Inhalte bezogenen) Lektürestil. In diesem Kontext ist auch die Eloge auf die »Überinterpretation« zu verstehen, der es in erster Linie darum geht, Abweichungen zu erzeugen. Nicht oder doch nur sekundär an Sinn und Bedeutung interessiert, kann sie als die eigentliche literarische Poetik der Bibliothek (S. 319) gelten. Auch hier wären die Verfahrensweisen der Überinterpretation freilich noch genauer zu bestimmen. Inwieweit das unbedingte Lob der Produktivität schließlich auch in bezug auf den Umgang des Wissenschaftlers mit der Bibliothek Gültigkeit haben kann, scheint Wegmann selbst zu bezweifeln, wenn er in einem Exkurs über Hans Ulrich Gumbrechts Eintreten für erlebnisorientierte, sinnlich intensive Verfahrensweisen der Literaturwissenschaft (wie mir scheint zu Recht) auch kritische Überlegungen einfließen läßt.

Es kann also nicht überraschen, wenn Wegmann den Siegeszug der elektronischen Datenverarbeitung, die endlich den alten Wunsch nach vollständiger Transparenz der Bibliothek zu verwirklichen scheint, mit größtem Mißtrauen beobachtet. Obzwar unter den neuen technischen Bedingungen natürlich auch neue Möglichkeiten des subversiven und produktiven Umgangs entstehen (man denke an die Figur des Hackers), überwiegen doch die negativen Aspekte. Dabei steht die faktische Unumkehrbarkeit dieser Entwicklungen außer Frage. In der Begeisterung ob der scheinbar grenzenlosen Zugriffsmöglichkeiten auf einen endlich vollständig erschlossenen Bestand werden aber die Nachteile übersehen oder ganz einfach nicht diskutiert. Diese liegen nicht nur in der keineswegs unerheblichen Fehlerzahl bei der Übertragung oder dem Verschwinden von Büchern, sondern auch im Verlust der alten Kataloge mit ihrem epistemologischen Eigenwert und schließlich im Verlust der materialen Form des Buches selbst. So zeigt sich einerseits von neuem, daß sich die Undurchschaubarkeit der Bibliothek gegenüber jedem Ordnungsversuch (der nur neue Formen der Unordnung erzeugt) als resistent erweist. Dennoch stellt sich für Wegmann natürlich die Frage, ob nicht verlorenzugehen droht, was die Qualität der traditionellen Bibliothek ausgemacht hat: ihre Undurchdringlichkeit und Ungenauigkeit, die immer wieder neue Überraschungsmomente und Kombinationen ermöglichte. Dagegen geht es nun gerade um das Ausschließen von Überraschungen: An die Stelle der Notwendigkeit (und Chance), Strategien des Suchens zu entwickeln, die Wissen erst konstruieren, tritt zunehmend die simplifizierende Illusion eines direkten Zugriffs auf schon vorhandenes Wissen. In Wegmanns negativer Zukunftsvision führt dies zu einer von ökonomischen Vorgaben und Quoten bestimmten, ganz und gar unproduktiv gewordenen Bibliothek, in der nur noch nach bereits Bekanntem gesucht wird. Dies scheint dann die Rede von einem »alexandrinischen Zeitalter« zu rechtfertigen, meint doch dieser vor allem von Friedrich Nietzsche geprägte kulturkritische Topos eine Überfülle leblosen Wissens in Verbindung mit geistiger Unfruchtbarkeit. Doch ist es genau besehen ja eben nicht die grenzenlose, aufs Ganze tendierende Anhäufung von Büchern, sondern der Verlust der (wie auch immer partiellen und mangelhaften) Lesbarkeit der Bibliothek in ihrem ganzen Reichtum, vor dem die »Bücherlabyrinthe« warnen – trotz allen Vertrauens in das Überdauern der Bibliothek.

Thomas Degener

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