|  [3/ S. 116:]  Die leise Reminiszenz an einen berühmten Disney-Naturfilm, die der Titel des broschierten Bändchens anklingen läßt, ist wohl
                           kaum zufällig. »Das Archiv lebt!« Emphatisch vorgebracht und sogar mit einem Rufzeichen versehen. Das hat etwas Appellatives
                           an sich, etwas Trotziges womöglich. Über das allusiv verfremdete Zitat schleicht sich, gewissermaßen durch die Hintertür und
                           nun erst recht, die vielbeschworene Wüstenmetapher ein. Das Archiv: ein Ort der Lebensferne, dürr, öde, staubtrocken, papieren?
                           Ein Ort, an dem Aktenstapel, Papierstöße, totes Material, das in der Mehrzahl ebenso tote Personen anbelangt, von farblosen
                           Archivbeamten: Papiermenschen verwaltet werden? Die Klischees sind Legion, und es heißt ihnen selbstbewußt entgegenzutreten.
                           Den Beweis dafür, daß das Archiv lebt, gilt es natürlich noch anzutreten, und das gelingt den an dieser Unternehmung beteiligten
                           Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Brenner-Archivs in Innsbruck ausnehmend gut. Auf jeweils einer Doppelseite - links findet sich ein kurzer Text, rechts eine Abbildung (u. a. annotierte Typoskripte, Handschriftliches,
                           Illustrationen, Fotografien) - werden ausgewählte Beispiele aus den Archivbeständen präsentiert. Kurioses findet sich darunter
                           wie die »fischigen Pseudonyme« junger Lyriker und Prosaisten, die sich 1969 mit ihren chiffrierten Einsendungen um eine Einladung
                           zur Lesung anläßlich der Österreichischen Jugendkulturwochen bewarben; und tatsächlich begegnete der Südtiroler »Kabeljau«
                           Norbert Conrad Kaser ebendort seinem Landsmann und Kollegen »Tintenfisch«: Joseph Zoderer.
                         Und allerlei Prominentes gibt es, selbstverständlich, denn für eine solche, nicht allzu elitär auftretende, vielmehr auch
                           und vor allem vergnügliche Form archivalischer Selbstdarstellung sind die großen Namen und die Highlights einer Sammlung natürlich
                           von besonderem Interesse. Ein gezeichnetes »Selbstporträt« Jussufs, des Prinzen von Theben - wie Else Lasker-Schüler ihr Alter
                           ego bekanntlich genannt und (sich selbst) inszeniert hat -, aus der Sammlung des »Brenner«-Herausgebers Ludwig von Ficker,
                           die das »Herz« (S. 5), die Keimzelle des 1964 gegründeten Literaturarchivs bildet, zum Beispiel. Oder Trakls trunkene und
                           kaum lesbare Zeilen aus dem Dezember 1913, die den verehrten Karl Kraus »einige Verse [...] entgegenzunehmen« bitten, genauer:
                           ein Gedicht von drei Strophen, im Brief titellos belassen, das als frühe Fassung von »Ein Winterabend« identifiziert werden [3/ S. 117:]  kann. Oder Schreibübungen und Aufzeichnungen aus der Feder Ludwig Wittgensteins. Oder Briefe an denselben, ein Postskriptum
                           von Rilke, ein Billett von Lou Andreas-Salomé, anderes mehr, kurzweilig erläutert (und teilweise mit Transkriptionen versehen)
                           durch die Archivmitarbeiterinnen und -mitarbeiter, deren Arbeitsschwerpunkten die »Fundstücke« zugehören. 14 solcher kleinen Feuilletons vereinigt »Das Archiv lebt!«, und sie alle sind im September 1998 in der österreichischen Tageszeitung
                           »Der Standard« zu lesen gewesen: Das Archiv öffnet seine Fenster, und der Leser sieht mit Gewinn hinein. Abgerundet wird der
                           Einblick in die Sammlungen und in die Arbeit des Brenner-Archivs durch eine kurze Beschreibung der aktuellen Erschließungs-
                           und Forschungsprojekte, ein Verzeichnis der im Bestand befindlichen Nachlässe, Nachlaßteile, Vorlässe und eine Auswahlbibliographie
                           der am Literaturarchiv bzw. in seinem Auftrag entstandenen Publikationen.
                         Die Qualität der Abbildungen und die Ausstattung hätten durchaus etwas ansprechender ausfallen dürfen; dafür vermag allerdings
                           der äußerst moderate Anschaffungspreis zu entschädigen.
                         Nicht nur das Konzept und die Form der Präsentation, sondern auch den Untertitel und die Erscheinungsweise (ursprünglich als
                           Folge von kurzen Artikeln in der überregionalen Tagespresse) hat man sich augenscheinlich bei den deutschen Kollegen aus Marbach
                           am Neckar geborgt. Ein Hinweis darauf wäre schon ein wenig redlicher gewesen. »›Wir vom Archiv‹«: Unter diesem Titel hatten
                           Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Schiller-Nationalmuseums / Deutschen Literaturarchivs 1997 ihre Corporate Identity beschworen
                           und ausgewählte Stücke aus den reichen Beständen ihres Hauses zunächst (August / September 1997) in der »Frankfurter Allgemeinen
                           Zeitung«, dann in einer kleinen Publikation der kulturell und literarhistorisch interessierten Öffentlichkeit vorgestellt.
                         Anneke Thiel |  |