|  [2/ S. 84:]  Im Sommer 1997 erwarb das ÖLA den Nachlaß der Südtiroler Schriftstellerin Anita Pichler (1948–1997). Die Form des literarischen
                           Nachlasses ist wesentlich vom poetologischen Standpunkt der Autorin geprägt. Es war weniger das geschlossene Werk, das veröffentlichte
                           Buch, das Pichler zum Schreiben motivierte, als vielmehr der Akt des Schreibens selbst, die schreibende Reflexion. So sagte
                           sie etwa in einem Interview: »Ich schreibe, ob daraus ein Buch wird, weiß ich nicht.« Dieses Schreiben war für sie »work in
                           progress«, bei dem Veröffentlichungen auch als Zwischenberichte aus der Schreibwerkstatt zu verstehen sind. So machen über
                           den gesamten Nachlaß verstreute Notizen und Entwürfe – ob auf Einkaufszetteln oder auf der Rückseite von Typoskripten – einen
                           beträchtlichen Teil des Materials aus. Die zahlreichen Notizhefte lassen in vielen Fällen kaum Unterscheidungen zwischen literarischen
                           und persönlichen Aufzeichnungen zu. Titel oder gar Datierungen fehlen meist, fließende Übergänge erschweren oft die Anwendung
                           gängiger Unterscheidungskriterien. Bei Erzählungen und Gedichten, von denen sich im Nachlaß neben den publizierten auch unveröffentlichte
                           in beträchtlicher Zahl finden, dokumentieren Vorarbeiten, Fassungen und ineinandergreifende Schreibschichten eine etappenweise
                           Beschäftigung mit einzelnen Werken. Diese Schreibpraxis ist besonders bei einem Konvolut zu einem nicht fertiggestellten größeren Romanprojekt (Notation 1.1.6)
                           erkennbar. Es finden sich zu diesem Projekt zahlreiche Unterlagen: unzählige Notizen, Entwürfe, Gliederungen und Fassungen
                           einzelner Teile. Diese wohl mit krankheitsbedingten Unterbrechungen in den Jahren vor Anita Pichlers Tod entstandenen Dokumente
                           sind über weite Teile des Nachlasses verstreut: in Tagebüchern und Notizheften, als Einlegeblätter und von der Autorin als
                           Konvolute zusammengefaßt. Pläne über mögliche Verknüpfungen der Schreibstränge zeigen, wie nach und nach erst ein Text  entstehen
                           sollte. Der fragmentarische Charakter der Unterlagen dokumentiert dabei den Status quo zu einem Zeitpunkt der Textgenese,
                           an dem das Werk bei weitem noch nicht abgeschlossen war.
                         Die Erzählweise Anita Pichlers, die Verweigerung klar strukturierter Handlungsstränge, die Aufhebung zeitlicher und kausaler
                           Abfolgen, können mit dieser Schreibpraxis in einem produktiven Zusammenhang gesehen werden. Die zahlreich vorhandenen Unterlagen
                           zum Entstehungsprozeß der beiden im Suhrkamp-Verlag veröffentlichten [2/ S. 82:]  Erzählbände, »Die Zaunreiterin« und »Wie die Monate das Jahr« erhärten diese Annahme. Auch hier sind Notizen und Vorarbeiten
                           quer durch den Nachlaß zu finden, auch hier dokumentieren Entwürfe eine Schreibpraxis, in der unterschiedliche Teile nach
                           und nach zusammengefügt wurden. Der Nachlaß von Anita Pichler enthält zahlreiche Texte, die verworfen, nie abgeschlossen oder nie publiziert wurden. Neben
                           einigen literarischen Arbeiten aus den 60er und 70er Jahren – vornehmlich in Italienisch verfaßt – ist vor allem die literarische
                           Produktion in den 80er und 90er Jahren gut dokumentiert. Der wahrscheinlich in Berlin entstandene Erzählzyklus »Alpträumerei«
                           sowie Texte zu einem Kinderfilm dürften dabei die ersten umfangreicheren fiktionalen Werke Pichlers gewesen sein. Nach eigener
                           Aussage mußte sich die Autorin zu dieser Zeit, in der sie über ein Stipendium der Ost-Berliner Humboldt-Universität verfügte,
                           nach langem Aufenthalt im italienischen Sprachraum die deutsche Sprache wieder »erarbeiten«.
                         »Alpträumerei« vereinigt rund ein dutzend Texte, die, thematisch zusammengehörig, immer wieder neu variiert, zusammengefaßt
                           und umgearbeitet wurden und teils auch auf Italienisch vorliegen. Abgelegt war dieser Erzählzyklus in unterschiedlichen Arbeitsmappen,
                           die vor allem ungeordnetes Material enthielten, teils in einem losen inhaltlichen Zusammenhang, oft aber auch nur in einem
                           zeitlichen Nahverhältnis. Im Zuge der Nachlaßbearbeitung mußten diese zahlreich vorhandenen Arbeitsmappen größtenteils aufgelöst
                           werden, da sich inhaltliche Zusammenhänge kaum herstellen ließen. Erschien die Ablage als Konvolut allerdings sinnvoll – etwa
                           bei der literarischen Produktion als Stadtschreiberin von Biel oder als Dorfschreiberin im Rahmen des »Villgrater Sommers«
                           – wurden die Zusammenhänge erhalten.
                         Zur beruflichen wie literarischen Tätigkeit Pichlers in den 70er Jahren finden sich – sieht man von den Unterlagen zum Studium
                           und besonders zur Dissertation einmal ab – weit weniger Dokumente. Daneben enthält der Nachlaß eine Sammlung von Zeitungsausschnitten,
                           von Dokumenten zu öffentlichen Auftritten sowie zur beruflichen wie persönlichen Tätigkeit aus den folgenden zwei Jahrzehnten.
                         Neben der Autorin dokumentiert der Nachlaß auch die Übersetzerin Anita Pichler. Die Übertragung von »Die Steine von Pantalica«
                           des sizilianischen Autors Vincenzo Consolo für den Suhrkamp-Verlag nimmt hierbei den größten Umfang ein. Zudem finden sich
                           die Übersetzungen von Hans Kitzmüllers »Über das Innehalten auf einem Feldweg«, von Alejandra Pisarniks Lyrikband »Werke und
                           Nächte« sowie einzelner verstreuter Gedichte.
                          [2/ S. 83:]  Von den im Nachlaß enthaltenen Briefen Pichlers macht einen großen Teil die Korrespondenz mit dem Suhrkamp-Verlag aus. Auf
                           zahlreiche Briefe verschiedener Korrespondenzpartner kommen dabei naturgemäß weniger Briefe der Autorin, die meist auch nur
                           in handschriftlichen Entwürfen und Fassungen erhalten und nur selten datiert sind. Persönliche Briefe an und von Anita Pichler
                           sind im Nachlaß enthalten, intensive Briefwechsel finden sich aber nicht. Aufschluß über die Privatperson Anita Pichler können
                           hingegen die zahlreichen Tagebücher geben. Allerdings fehlen auch hier oft Zeitangaben.
 Die Erschließung des in zehn Kartons von den Nachlaßverwalterinnen Sabine Gruber und Renate Mumelter dem ÖLA übergebenen Nachlasses
                           erfolgte im Herbst und Winter 1998/99 im Rahmen einer Diplomarbeit. Als Orientierung dienten dabei besonders die »Regeln zur
                           Erschließung von Nachlässen und Autographen« (RNA). Die Ordnungssystematik ist im folgenden in gekürzter Form wiedergegeben.
                           Sämtliche Unterlagen sind geordnet, in ca. 250 Flügelmappen abgelegt und EDV-mäßig in der Datenbank allegro-HANS erfaßt.
                         |