| Feld 1: Die digitale Publikation
                  
                    Bereits klassisch ist die Verwendung elektronischer Medien bei der Erfüllung der herkömmlichen philologischen Aufgabe der
                  Textedition. Dabei geht es erstens - seit längerem - um Zuhilfenahme des Computers bei der Vorbereitung einer gedruckten Ausgabe,
                  zweitens um die Veröffentlichung von sogenannten Hybrid-Editionen, bei denen die Buchausgaben durch CD-ROMs ergänzt sind -
                  z. B. die Historisch-Kritische Ausgabe der »Sämtlichen Werke« von Gottfried Keller (vgl. den Beitrag von Walter Morgenthaler,
                  S. 91-100) oder »Der junge Goethe in seiner Zeit. Texte und Kontexte« (Hg. von Karl Eibl, Fotis Jannidis und Gottfried Willems.
                  Frankfurt am Main, Leipzig: Insel 1998), drittens aber um reine CD-Versionen literarischer Quellentexte - wie z. B. die Edition
                  des literarischen Nachlasses von Robert Musil (Hg. von Friedbert Aspetsberger, Karl Eibl und Adolf Frisé. Reinbek bei Hamburg:
                  Rowohlt 1992). Gemeinsames Kennzeichen digitaler Ausgaben ist, daß sie über ein Retrieval (automatische Suchfunktionen) und
                  Hyperlinks (Verknüpfungen zwischen Textstellen bzw. zwischen Quellen- und Kommentartext) verfügen.
                Einige der im Jahrbuch versammelten Aufsätze legen übrigens beredt davon Zeugnis ab, wie fast jede neue Edition auch eine
                  neue Editionsphilosophie gebiert. Diese wird zum Teil von einem merkwürdigen Software-Fetischismus bestimmt. Die Schwärmerei
                  für ihre Schriftsteller, von der prä-digitale Literaturforscher noch durchdrungen waren, ist jetzt vielfach ersetzt durch
                  pubertäre Anhänglichkeit an bestimmte elektronische Formate (vgl. die Beiträge über MoveParser 3.1, XML, HTML, PDF). In Verbindung
                  damit kommt es auch im Jahrbuch zu sprachlichen Manifestationen, wie sie bisher in philologischen Publi- [3/ S. 124:]  kationsorganen noch nicht zu finden waren. Eine Kostprobe: »[Bildschirm-]Ausschnitte, selbst wenn sie, wie im Fall der Verwendung
                  von PDF gelinkt werden können, sind in der Regel zu klein - oder zu groß« (Reuß, S. 105). Natürlich: gelinkt! Aber immerhin
                  nimmt der Autor die stets zu kleinen oder zu großen Bildschirmausschnitte zum Anlaß, um für das Fortbestehen des Buchs zu
                  plädieren, das die CD-Edition nicht ersetzen könne. Ein Leitmotiv, das sich quer durch die Beiträge zieht, ist dieser optimistische
                  Glaube an eine weitere Zukunft des Buchs aller Digitalität zum Trotz - von solchen geäußert, die zugleich ihre elektronische
                  Kompetenz unter Beweis stellen. Was aber die Computer-Editionen betrifft: Tatsächlich scheint bislang noch jedes Programm
                  den literarischen Quellentext in einem mehr oder weniger vertretbaren Ausmaß vergewaltigt zu haben, und besonders beängstigend
                  sind daher die periodisch wiederkehrenden Forderungen nach einem Standardformat für literaturwissenschaftliche Editionen.
                  Ihre Erfüllung würde die speziellen Herausforderungen ignorieren, die praktisch jeder Quellenbestand an eine elektronische
                  Edition richtet, und innovative Einzelunternehmungen in eine unhaltbare Außenseiterstellung verbannen. Angesichts des allgemeinen Terraingewinns des digitalen Mediums ist mittlerweile freilich klar, daß der literaturwissenschaftliche
                  Forschungsbetrieb als solcher heute am Netz hängt, daß philologische Tätigkeiten wie Bibliographieren und Quellenrecherchen
                  bereits standardmäßig mit elektronischen Hilfsmitteln betrieben werden und Websites als Publikationsforen in absehbarer Zeit
                  den herkömmlichen Zeitschriften den Rang ablaufen werden.
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