|  [3/ S. 61:]  Der Briefwechsel[*]
                  
                    Frank Zwillinger an Paul Celan
                  
                    HerrnPaul Celan
 78 rue de Longchamps
 Paris
 Lieber Paul Celan, lassen Sie mich Ihrer verehrten Frau Gemahlin und Ihnen noch einmal herzlichst für den Abend danken, den ich bei Ihnen verbringen
                  durfte. Er hat mir, wie Sie vermuten können, reichlich Stoff zum Nachdenken gelassen. Darunter hat sich mir ein Aspekt eröffnet,
                  den es mich Ihnen mitzuteilen drängt. Ich schicke voraus, daß ich damit keinesfalls über Fragen der Kunst polemisieren möchte,
                  umso weniger, als sich mir Ihre Bereiche inzwischen erschlossen haben und allmählich zu meinen eigenen werden. Was ich Ihnen
                  zu sagen habe, hat rein menschliche Bedeutung. - Es ist Ihnen sicherlich wie mir zum Bewußtsein gekommen, daß sich die strenge
                  Einsicht, die sich fortschreitend allen Scheines entkleidet, um wesentlich und unerbittlich zu werden, einen Weg geht, der
                  von der Sphäre des Menschlichen fortführt in die des Kosmischen, also für uns Hoffnungslosen hinein. Damit glaube ich die
                  ganze Würde und Größe dieser Haltung implicite anerkannt zu haben.
                Nun fand ich Sie aber andererseits in der Sphäre des Menschlichen und an den zwischenmenschlichen Beziehungen leidend, namentlich
                  was einzelne Ihrer Erfahrungen in Deutschland betrifft. Mir ist der junge Mann, der über Ihr Werk arbeitet in Erinnerung geblieben,
                  dem es möglich ist, zu Ihnen und zu Ihrem gegnerischen Pressezeichner zu »stehen«. Die Frage, wie diese paradoxale Haltung
                  möglich ist, stellt sich nur auf der Ebene menschlicher Zusammenhänge, also in der Welt der Daseinsvordergründe. Setzt man
                  voraus, daß dieser junge Mann, den es zu Ihnen zog, sich in der dünnen Luft des Außermenschlichen beheimatet fühlt, wird seine
                  zunächst unverständliche, ja groteske Einstellung insofern erklärlich, als ihm ja menschliche Belange unwesentlich geworden
                  sind.
                 [3/ S. 62:]  Damit will ich Ihr Augenmerk darauf gerichtet haben, daß wir alle, die den Weg der unverhüllten bitteren Erkenntnis gehen
                  wollen, Gefahr laufen, unwillentlich - par la force des choses - dem Humanitären Abbruch zu tun, da unser Blickpunkt ins Außermenschliche
                  rückt. Dies berührt den doppelten Aspekt geistigen Anliegens, den ich in unserem Gespräch flüchtig berührte: die Aussage und
                  ihre Wirkung, die geistige Unbedingtheit und die in einem gewissen Sinne pädagogische Verantwortung des Schaffenden. Mir steht,
                  wie gesagt, die Pyramide menschlicher Geistesfähigkeiten klar vor Augen. Die Spitze dürfte der Basis nicht zu viel zumuten!
                  - Damit will ich nur ein Problem aufgeworfen haben, dem es sich nachzuspüren lohnt. Ich sah Sie verletzlich für Äußerungen,
                  die als Unkraut dennoch in dem gleichen Boden jener entblössten Wahrheiten gedeihen, die ein bestimmtes Dichten aufschließt.
                  Aus diesem Dilemma kann man wohl schwer hinausfinden. Es ist aber schon ein Gewinn, sich dessen bewußt zu sein, auch diese
                  Wahrheit erworben zu haben.
 Diese Zeilen mögen von Ihnen als Beweis der herzlichen Anteilnahme in jeder Hinsicht, aufgenommen werden, die ich Ihnen entgegenbringe.
                  In Hoffnung auf ein baldiges Wiedersehen grüße ich Sie und Ihre verehrte Frau Gemahlin auf das beste.
                	IhrFrank Zwillinger
  [3/ S. 65:]  Paul Celan an Frank Zwillinger
                  
                     Abb. 2.[3/ S. 64]
 Abbildung in eigenem Fenster öffnen [62,9KB]
 78, rue de Longchamp          am 22. März 1959. Lieber Frank Zwillinger,herzlichen Dank für Ihren Brief.
 Das ›Außermenschliche‹ - es ist nur
 im Kontext unseres Gespräches so
 zu nennen, ich muß es, im Gegenüber
 mit jenem, ¿hier/absolut inkommensurablem,
 Bonner Vorfall in Anführungszeichen
 setzen - dieses ›Außermenschliche‹ hat -
 mit den Menschen zu tun (wie der Tod,
 das Menschliche und Nicht-nur-Menschliche,
 mit dem Menschen und des Menschen
 Gedicht zu tun hat ¿).
  [3/ S. 67:]  <Rückseite:>
  Abb. 3.[3/ S. 66]
 Abbildung in eigenem Fenster öffnen [62,9KB]
 x/ aber nein, wo wirkliche Wahrheit ist, gedeiht kein Unkraut(freilich auch kein Enzian)
 
 Jenes ›Unkraut‹, von dem Sie sagen, daß
 es auch auf dem Boden der entblößten
 Wahrheitenx/gedehei gedeihe - ein
 gutes Wort übrigens, es weist in die Richtung
 der Heidegger’schen Aletheia - jenes
 Unkraut haben die sogenannten
 Humanisten und Schöngeister niemals
 auszujäten versucht - sie sind da,
 die Schöngeister nämlich, in die Berge
 gestiegen (oder vielmehr mit dem Sessellift
 hinaufgelangt), in »hehre« und »höhere«
 Regionen, nicht selten auch auf die
 Alm - wo’s ja bekanntlich ka Sünd
 gibt.
 	Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin alles Gute!Ihr
 Paul Celan
 <Am linken Seitenrand:> Entschuldigen Sie, daß ich erst heute antworte:ich bin eben aus Frankfurt zurück.
  [3/ S. 69:] Frank Zwillinger an Paul Celan
                  
                   Abb. 4.[3/ S. 68]
 Abbildung in eigenem Fenster öffnen [77,2KB]
 den 12. 6. 59 Paul Celan78 rue de Longchamp
 Paris 16e
 Lieber Paul Celan, verzeihen Sie, daß ich Ihren Zeilen vom 22. März ein so langes Schweigen folgen ließ, es war ungewollt und keineswegs dazu
                  bestimmt, den Jodlern von der Alm der von Ihnen mit Recht so gegeißelten »Schöngeister« Raum und Echo zu gewähren. Es hatte
                  seinen Grund allein in meiner absorbierenden zweifachen Tätigkeit.
                Ich glaube nicht, daß es einen Sinn hat, uns weiter brieflich über die uns beiden am Herzen liegenden Fragen ohne gemeinsame
                  Terminologie zu unterhalten und schlage vor, dies unserem nächsten Zusammensein vorzubehalten. Nur eines: was ist das, eine
                  »wirkliche Wahrheit, auf der kein Unkraut gedeiht«? Sollte das nicht ein anderes Tabu sein, das sich plötzlich und unversehens
                  eingeschlichen hat? Und gedeihen nicht auf wissenschaftlichen Wahrheiten Atombomben? Aber wie gesagt, lassen wir das lieber
                  dem gesprochenen Wort.
                Im Monat Mai war ich mit meiner lieben Frau auf Reisen und gegenwärtig schüttet Amerika sein Füllhorn von Besuchern über uns
                  aus. Sagen Sie mir bitte, ob wir Anfang Juli darauf rechnen können, Sie beide bei uns zu sehen? Den mir leihweise überlassenen
                  Insel-Almanach sende ich Ihnen mit gleicher Post zurück.
                Ich habe inzwischen alle Ihre Bücher erworben und in Ihre so schön weitmaschigen »Sprachgitter« erfreulichen Eingang gefunden.
                  Auch Ihre Nachdichtung des »Trunkenen Schiffes« hat mich aufrichtig entzückt.
                Mit den schönsten Wünschen für Ihre gegenwärtigen Arbeiten, besten Empfehlungen an Ihre Frau Gemahlin und einem freundlichen
                  Gedenken für Ihren kleinen Sohn, bleibe ich Ihr sich trotz allem zu einer humanen Gesamtauffassung der Existenz (ohne alpenländische
                  Verstiegenheiten) Bekennender
                	Frank Zwillinger *]
                  Die Transkription der Briefe Zwillingers übernimmt die eindeutigen handschriftlichen Korrekturen des Autors, nicht aber den
                  Zeilenumbruch der Originale. Celans Brief hingegen wird diplomatisch zeilengetreu wiedergegeben. ¿ bezeichnet ein durchgestrichenes unidentifizierbares Graph von der Hand Celans. Die Faksimiles der Briefe wurden für den
                  Abdruck verkleinert.
 |