[2/ S. 155:]  Literaturarchiv und germanistische Forschung

Literaturarchive und Handschriftenabteilungen von Bibliotheken horten mit den Nachlässen von Schriftstellerinnen und Schriftstellern
einzigartige Dokumente, die der literaturwissenschaftlichen Erforschung harren. Es läßt sich ein ganzes Spektrum von möglichen
Fragestellungen anführen, unter denen Nachlässe untersucht werden können: Unerläßlich sind solche Materialien mit Sicherheit
für die biographische Forschung. Insbesondere die überlieferten Korrespondenzen und Lebenszeugnisse erlauben Aufschlüsse über
das Leben eines Schriftstellers, die ohne diese Dokumente nicht möglich wären. Auch psychologische und soziologische Forschungen
sind denkbar, linguistische, kultur- und allgemeine historische Fragestellungen ergiebig. Als Forschungsgegenstand von besonderem
Interesse gelten schon seit längerer Zeit die text- und werkgenetischen Untersuchungen, unabdingbare Voraussetzung für historisch-kritische
Editionen. Daß textgenetische Forschungen nicht nur im Hinblick auf Editionsprojekte notwendig und sinnvoll sind, sondern
auch produktiv für die Literaturwissenschaft im allgemeinen, zeigen die Untersuchungen der französischen »critique génétique«.
Dieser Untersuchungsgegenstand, die Rekonstruktion der Entstehung literarischer Werke aufgrund von Manuskripten und Dokumenten
aus dem Nachlaß einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers, beginnt sich auch im deutschsprachigen Raum zu etablieren,
und die Erkenntnis dringt durch, daß Aufschlüsse, die die Werkentstehung liefert, zu einem vertieften Verständnis literarischer
Texte beitragen, ja, daß zahlreiche Werke der deutschsprachigen Literatur ohne Kenntnis der Textgenese gar nicht adäquat verstanden
werden können.
Wer kann aber eine solche textologische Erforschung[1] literarischer Werke leisten? Welche Voraussetzungen werden benötigt, um textgenetische Prozesse verstehen zu können? Die
Arbeit mit den Manuskripten setzt eine intime Kenntnis der biographischen Lebensumstände des Autors und seiner Arbeitsweise
voraus, die sich im Lauf der Zeit auch ändern kann. Es ist daher nicht nur von Vorteil, die Materia- [2/ S. 156:] lien zu einem bestimmten Werk zu kennen, sondern darüber hinaus empfehlenswert, sich einen Überblick über den gesamten betreffenden
Nachlaß zu verschaffen. Die Untersuchung der Originalmanu-skripte und -typoskripte ist äußerst zeitintensiv, denn vielfach
ist ein eingehender Vergleich verschiedener Fassungen notwendig, um etwa einzelne Versionen präzise zeitlich situieren zu
können.
All diese Voraussetzungen scheint der Archivar oder die Archivarin zu vereinigen, denn die den Nachlaß betreuende Person eignet
sich im Umgang mit den Dokumenten Kenntnisse an, die sich Forschende erst mühsam erarbeiten müßten. Aber nur in seltenen Fällen
kommen Archivare dazu, selbst zu forschen, denn entweder fehlt die literaturwissenschaftliche Ausbildung oder die erforderliche
Zeit. Besonders in kleineren Literaturarchiven mit wenig Personalbestand, wie es im Schweizerischen Literaturarchiv der Fall
ist, erfüllen Archivare und Archivarinnen die unterschiedlichsten Aufgaben: von den Erwerbs- und Vertragsverhandlungen über
die Sichtung und Inventarisierung des Nachlaßes, der konservatorischen Begutachtung und Erstbehandlung der Dokumente sowie
den Auskunfts- und Beratungstätigkeiten gegenüber Benutzerinnen und Benutzern, Forscherinnen und Forschern bis zu Ausstellungs-
und Publikationsvorbereitungen.
In diesem archivarischen Aufgabenkatalog kommt der literaturwissenschaftlichen Forschung nur ein geringer Stellenwert zu:
Forschung wird nicht als primäre Pflicht des Archivars angesehen, seine Aufgabe besteht traditionellerweise in erster Linie
darin, die ihm anvertrauten Dokumente für die Nachwelt sicher aufzubewahren und sie so aufzubereiten, daß der Zugang zu den
einzelnen Dokumenten gewährleistet ist. Die Nachlaßerschließung, ob in einer modernen Datenbank oder in älteren Findmitteln
wie Zettelkatalogen oder Inventarlisten, kann in der Regel nicht in einer angestrebten Vollständigkeit und Perfektion den
Umgang mit den Originaldokumenten ersetzen, sondern den Zugang zu den Materialien für die Forschung erleichtern. Zwar können
der Forschung zur Schonung der Originale elektronische oder Papier-Kopien zur Verfügung gestellt werden, es gibt aber literaturwissenschaftliche
Fragestellungen wie die textgenetischen Untersuchungen und die Vorbereitung historisch-kritischer Editionen, bei denen in
jedem Fall auf die Originaldokumente zurückgegriffen werden muß.
Trotz dieser vielfältigen Aufgaben ist es wünschenswert, daß Archivare und Archivarinnen ihr Wissen der Forschung zur Verfügung
stellen und sich dazu auch einen Teil ihrer Arbeitszeit reservieren können. Die Wissensvermittlung geschieht meist in der
persönlichen Beratung im Lesesaal des Literaturarchivs, besser wäre es allerdings, wenn die [2/ S. 157:] spezifischen Kenntnisse der Nachlaßbetreuenden in Publikationen festgehalten und damit einem breiteren Publikum zugänglich
gemacht würden. In vielen Fällen überschreitet dieser Wunsch aber die zeitlichen und personellen Ressourcen kleiner Literaturarchive,
Forschung im Literaturarchiv und durch Angehörige des Archivs ist oft nur mit finanzieller Unterstützung von Dritten durchführbar.
Im Schweizerischen Literaturarchiv gab und gibt es verschiedene, durch Drittmittel finanzierte Forschungsprojekte: Ein Projekt
des Schweizerischen Nationalfonds mit dem Ziel, die unpublizierten Werke aus dem Nachlaß des französischsprachigen Schriftstellers
Blaise Cendrars herauszugeben, ist mittlerweile abgeschlossen. Ein momentan laufendes Forschungsprojekt, finanziert durch
die private Silva-Casa-Stiftung, untersucht die zeitgeschichtlich bedeutsamen Nachlässe Arnold Künzlis, Golo Manns, Niklaus
Meienbergs und Jean Rudolf von Salis! unter historischer Perspektive.
Einen Forschungsschwerpunkt bildet der Nachlaß Friedrich Dürrenmatts, einer der gewichtigsten und meistkonsultierten Nachlässe
des Schweizerischen Literaturarchivs. Von 1995 bis 1997 wurde die Entstehung des Theaterstücks »Der Mitmacher« untersucht
und in der Rolle als Auslöser für Dürrenmatts Abkehr von der Dramatik und Hinwendung zu seiner späten Prosa interpretiert.[2] Im unmittelbaren Anschluß an dieses erste Forschungsprojekt erfolgte ein zweites, dessen Gegenstand Dürrenmatts späte Autobiographie
»Stoffe« bildet. Über 20 Jahre hat Dürrenmatt an seiner Autobiographie gearbeitet, mehr als 22.000 Manuskriptseiten zu diesem
Werk liegen im Schweizerischen Literaturarchiv. Die Untersuchung der Genese zeigt, daß sein gesamtes spätes Schaffen mittelbar
mit diesem Werk zusammenhängt.
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