Ferdinand Bruckner: Sämtliche Werke und Briefe

Auf den Spielplänen deutschsprachiger Bühnen war Ferdinand Bruckner (eigentlich Theodor Tagger, 1891-1958) in den letzten
Jahren nur vereinzelt präsent. In überschaubarer Anzahl wurden, an meist kleineren Theatern oder auf Studiobühnen, vor allem
»Krankheit der Jugend« und »Die Rassen« inszeniert. Das sind jene Stücke, die Anfang und Ende einer Schaffensperiode markieren,
in der Bruckner seine sensationellen Erfolge als Theaterautor in der Zeit der späten Weimarer Republik erzielte, aber auch
den heftigsten Widerspruch erfuhr. Einen schriftstellerischen Neubeginn versucht er Mitte der 20er Jahre mit einem neuen Namen:
Theodor Tagger nimmt das aus den Namen seiner bewunderten Landsleute Ferdinand Raimund und Anton Bruckner zusammengesetzte
Pseudonym Ferdinand Bruckner an, hinter dem er dann seine Identität gegen die geweckte öffentliche Neugierde beharrlich bis
1930 verbirgt. Am Ende dieses Lebensabschnitts steht 1933 der Weg ins Exil.
Zuvor war Bruckner bereits als Autor, Herausgeber, Theaterleiter und Regisseur in Erscheinung getreten. 1891 in Sofia als
Sohn eines österreichischen Kaufmanns jüdischer Konfession und einer französischen Übersetzerin geboren, wuchs er in Wien,
Berlin und Graz auf. Während des Studiums der Musik (Paris, Wien) und eines anschließenden Studium generale (Wien) veröffentlichte
er bereits Aufsätze, Rezensionen und Gedichte in Zeitschriften. In den folgenden Jahren erschienen in Buchform eine Novelle,
»Die Vollendung eines Herzens« (1917), die essayistischen Schriften »Von der Verheißung des Krieges und den Forderungen an
den Frieden. Morgenröte der Sozialität« (1915), »Das neue Geschlecht. Programmschrift gegen die Metapher« (1917), »Über einen
Tod« (1917), der Gedichtband »Der zerstörte Tasso« (1918), die Erzählung »Auf der Straße« (1920) sowie eine Übersetzung von
Blaise Pascals »Größe und Nichtigkeit des Menschen« (1918) und »Psalmen Davids. Ausgewählte Übertragungen« (1918). Zur Aufführung
gelangten aus dem Zyklus »1920 oder Die Komödie vom Untergang der Welt« die Stücke »Harry« (Uraufführung: 1920 Stadttheater
Halle) und »Annette« (UA: 1920 Kammerspiele des Deutschen Volkstheaters, Wien); aus dieser Zeit verschollen sind bisher die
Texte von »Te Deum« (UA: 1922 Neues Theater am Zoo, Berlin), vom Schauspiel »Esther Gobseck«, nach Balzac (UA: 1923 Renaissance-Theater,
Berlin) und vom Drama »Kapitän Christopher« (1919/1921).
Bruckners Werk im zweiten Jahrzehnt gehört unverkennbar zum Expressionismus, deutlich artikuliert in seinem Manifest »Marsyas
und [3/ S. 197:] Apoll«, mit dem er programmatisch die von ihm gegründete und herausgegebene Zweimonatsschrift »Marsyas« einleitete. Die aufwendig
gestaltete, zwischen 1917 und 1919 erscheinende Zeitschrift enthält Beiträge u. a. von Max Brod, Alfred Döblin, Kasimir Edschmid,
Yvan Goll, Franz Kafka und Carl Sternheim, sowie zahlreiche Originalgraphiken (z. B. von Max Pechstein).
1920 heiratete Bruckner Bettina Neuer; zusammen gründeten sie 1922 das noch heute existierende Renaissance-Theater in Berlin.
Nach anfänglichen Erfolgen führten Fehlschläge und finanzielle Probleme dazu, daß Bruckner die Direktion aufgeben mußte. Übernommen
wurde sie 1927 von Gustav Hartung, der an ebendiesem Haus 1928 mit der Inszenierung von »Krankheit der Jugend« (UA: 1926 Lobe-Theater,
Breslau und Hamburger Kammerspiele) Ferdinand Bruckner zum Durchbruch verhalf. Dem spektakulären Stück um Jugend, Sexualität,
Bindungskrisen und Selbstzerstörung folgte das rechts- und justizkritische, für die Etagenbühne konzipierte ›Debattenstück‹
»Die Verbrecher« (UA: 1928 Deutsches Theater, Berlin, R: Heinz Hilpert), das nicht minder kontrovers aufgenommen wurde. Die
thematische Orientierung an aktuellen Fragen machte Bruckner bald zu einem der bedeutendsten Vertreter des neuen Genres ›Zeitstück‹.
Nach der breiten Ablehnung von »Die Kreatur« (UA: 1930 Münchner Kammerspiele, Berliner Erstaufführung: 1930 Komödie, R: Max
Reinhardt) durch die Kritik erlangte er nochmals einen über den deutschsprachigen Raum hinausreichenden Erfolg mit dem Stück
»Elisabeth von England« (UA: 1930 u. a. Deutsches Theater, Berlin, R: Heinz Hilpert), das formal durch die innovative Verwendung
von Simultanszenen beeindruckte. Auch in seiner Hinwendung zum Historienstück bleiben Gegenwartsbezüge erhalten, in der Darstellung
eines Epochenumbruchs sind die Figuren psychologisch gezeichnet, der Eros behält seine Bedeutung als treibende Kraft der Handlung.
Im Historischen angesiedelt sind auch »Timon« (UA: 1932 u. a. Burgtheater Wien, Hamburger Schauspielhaus) und »Die Marquise
von O« (UA: 1933 u. a. Landestheater Darmstadt und Stadttheater Erfurt). Der sich ausbreitende nationalsozialistische Terror
in Deutschland zwang Bruckner wieder zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Bereits im Exil verfaßte er »Die
Rassen« (UA: 1933 Züricher Schauspielhaus, R: Gustav Hartung), das Psychogramm einer akademischen Jugend im Rausch des Irrationalismus.
Thomas Mann notierte zur Uraufführung in sein Tagebuch: »Sehr günstige Aufnahme. Große Demonstration des Publikums bei den
Worten: ›Im Augenblick ist es nicht deutsch, die Wahrheit zu sagen.‹«
[3/ S. 198:] Bruckner war bald mit den charakteristischen Schwierigkeiten der Exilautoren konfrontiert. Von seinem früheren Sprachraum
und Publikum größtenteils abgeschnitten, fand er aus vielfältigen Gründen nur beschränkte Wirkungsmöglichkeiten und Resonanz
in den Aufnahmeländern. In Frankreich entstanden der Roman »Mussia« (1935) und die Komödie »Napoleon der Erste« (1936 UA:
1937 Tschechisches Landestheater Brünn). Das Vorhaben einer britischen Verfilmung von »Elisabeth von England« scheiterte,
und mehrere Entwürfe zu Historiendramen wurden vom Autor verworfen.
Nach einem Vertragsabschluß mit Paramount Productions in Hollywood verließ Bruckner im Juli 1936 mit seiner Familie Europa.
Die Auftragsarbeit an einem Drehbuch zu einem Film über Lucrezia Borgia mußte er jedoch abbrechen, da der Stoff den Paramount
Productions schließlich zu provokant erschien.
Bruckner ließ sich daraufhin in New York nieder, wo er sich durch Übertragung seiner erfolgreichen Zeitstücke ins Englische
sowie durch die Bearbeitung amerikanischer Stoffe um Inszenierungen bemühte. Mit dem Kriegsbeginn wandte er sich wieder verstärkt
dem politischen Zeitgeschehen zu: In den Historienstücken »Heroische Komödie« (1942 UA: 1946 Volkstheater Wien), »Die Namenlosen
von Lexington« (1940), »Die Kinder des Musa Dagh« (1940) und »Simon Bolivar« (1944 UA: 1948 Staatstheater Dresden) sowie in
einem Zeitstück über den antifaschistischen Widerstand in Norwegen, »Denn seine Zeit ist kurz« (UA: 1944 Heinrich-Heine-Klub
in Mexiko), wollte er die öffentliche Meinung zum Kampf für die »in allen meinen Stücken verkündeten Ideale der Freiheit und
Menschenrechte« aufrufen (Bruckner an Gottfried Bermann-Fischer, 12. Januar 1934). Die kommerzielle Orientierung des Theaters
in den USA, wie auch das fehlende Verständnis für Bruckners dezidiert europäischen Blickwinkel, ließen diesen Ruf auf taube
Ohren stoßen. Einzig seine Überarbeitung von Lessings »Nathan der Weise«, die 1942 zunächst an Erwin Piscators Studio Theatre
in New York inszeniert, dann vom Belasco Theatre am Broadway übernommen wurde, fand das Interesse des amerikanischen Publikums.
Bruckner engagierte sich zunehmend publizistisch so wie im »European P.E.N. Club in America«, der »Tribüne für Freie Deutsche
Literatur in Amerika« und in anderen Organisationen europäischer Exilanten. Der größte Teil seiner im Exil entstandenen Schauspiele
wurde, wenn überhaupt, erst nach dem Krieg veröffentlicht. Sofort nach Kriegsende orientierte sich Bruckner wieder nach Europa:
Die Schauspiele »Denn seine Zeit ist kurz« und »Die Befreiten« wurden bereits im September 1945 in Zürich und Bern aufgeführt.
In den Jahren 1948 bis 1953 unternahm Bruckner mehrere Reisen nach Europa, um [3/ S. 199:] sich für seine Schauspiele einzusetzen. Wie bereits mit »Nathan der Weise« und mit »Die Befreiten« bemühte er sich mit seiner
Übertragung von Arthur Millers »Death of a Salesman« (deutschsprachige EA: 1950 Theater in der Josefstadt, Wien) und von afroamerikanischen
Spirituals ins Deutsche um eine Vermittlung zwischen amerikanischer und deutscher Kultur.
1953 ließ sich Bruckner wieder in Berlin nieder und arbeitete als dramaturgischer Berater am Schillertheater. Sein vielschichtiges
Spätwerk, vor allem seine ›klassische‹ Tragödie »Pyrrhus und Andromache«, wurde durchaus beachtet, die großen internationalen
Erfolge der späten 20er und frühen 30er Jahre stellten sich allerdings nicht mehr ein. Bruckner starb am 5. Dezember 1958
in Berlin.
Eine Werkausgabe dieses produktiven und literarisch wie auch für die Kulturgeschichte bedeutenden Autors fehlt bisher. Von
der Literaturwissenschaft ist er in Vergleich etwa zu Carl Zuckmayer und Bertolt Brecht, die fünf bzw. sieben Jahre jünger
waren, sehr vernachlässigt worden. Mit der Gesamtausgabe der Werke, Briefe und Tagebücher Bruckners wollen die Herausgeber
die Grundlage für eine breitere und vertiefte Auseinandersetzung mit Werk und Autor sowie für eine angemessene Einordnung
in die Literaturgeschichte schaffen.
Die Edition berücksichtigt als wissenschaftliche Ausgabe die Textüberlieferung, die bei diesem Autor verhältnismäßig günstig
ist. Der Nachlaß, der 1961 von der Familie Bruckners der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin übergeben wurde, enthält
zahlreiche Manuskripte, Entwürfe, Notizbücher, Zeitungsausschnitte und Programme, Kritiken, Bücher, persönliche Dokumente,
Fotografien, Tagebücher und Briefe. Ein Teil der Korrespondenz jedoch sowie einige Manuskripte wurden vernichtet: Die bei
Bruckners Emigration in Berlin zurückgelassene, 6.000 Bände umfassende Bibliothek und die Korrespondenz im Zusammenhang mit
»Marsyas« sind verschollen.
Die Bruckner-Gesamtausgabe wird unter der Leitung von Hans-Gert Roloff am Institut für Germanistik der FU Berlin (Studiengebiet
Editionswissenschaft) in Kooperation mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg durchgeführt. Sie
wird voraussichtlich 18 Textbände und einen Dokumentationsband umfassen. Die Kommentarbände erscheinen separat. Zur Zeit werden
folgende Abteilungen bearbeitet: Schauspiele (bis 1933: Joaquin Moreno, ab 1934: Gunnar Szymaniak), Tagebücher (Horst Grimm,
Hans-Gert Roloff), Briefe (bis 1936: Sabine Spiller). Die ersten Bände des dramatischen Werks werden demnächst im Verlag Weidler
in Berlin erscheinen.
Die Anordnung der Werke erfolgt nach Textgattungen und nach der Chronologie der Entstehung. Textgrundlage für den edierten
Text ist [3/ S. 200:] in der Regel der Erstdruck. In den Kommentarbänden wird neben den Erläuterungen zum Text Auskunft über die Überlieferungs-,
Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte gegeben; genetische Transkriptionen dokumentieren die Arbeitsweise des Autors.
Die ab Mitte der 40er Jahre in Gabelsberger Stenographie geschriebenen Einträge in den Tagebüchern werden durch die Übertragung
von Horst Grimm erstmals erschlossen. Die über 4.000 Manuskriptseiten umfassenden Tagebücher enthalten neben Persönlichem
auch Notizen zu künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, zu Begegnungen und Erlebnissen sowie Lektürelisten,
Theaterzettel und Zeitungsausrisse. Sie gewähren Einblick in die Werkstatt des Autors mit seinen Plänen und Schreibkrisen
und dokumentieren Reaktionen des Publikums. Zum Teil wird der Schreibprozeß minutiös dargestellt. Der Tagebuchtext wird von
Horst Grimm und Hans-Gert Roloff konstituiert und kommentiert.
Im Nachlaß Bruckners befinden sich über 5.800 Briefe, Postkarten und Telegramme. Die überlieferte Korrespondenz wird in der
Ausgabe vollständig wiedergegeben. Die Anordnung erfolgt nach Korrespondenzpartnern und darin chronologisch. Die Textzeugen
werden in den Kommentarbänden beschrieben, Erläuterungsbedürftiges im Kommentar erschlossen. Neben der Korrespondenz mit Verlagen,
Organisationen, Theatern und Institutionen entfalten insbesondere die privaten Briefe ein Bild von Bruckners wechselvollem
Leben, von seinen persönlichen Beziehungen und seinen Kontakten mit Schriftstellerkollegen und Theaterleuten. Für das Verständnis
seiner Werke sind die Briefwechsel mit Regisseuren und Dramaturgen wertvoll, die vor allem während der Entstehung der Stücke
geführt wurden. Zu seinen Briefpartnern gehören u. a. Max Brod, Franz Theodor Csokor, Ernst Deutsch, Albert Einstein, Gustaf
Gründgens, Gustav Hartung, Siegfried Kracauer, Ernst Lubitsch, Heinrich, Klaus und Thomas Mann, Erwin Piscator, Helene Weigel
und Carl Zuckmayer. Die Briefe sind Zeugnisse aus einem halben Jahrhundert, in dem sich gesellschaftlicher Wandel und politische
Umbrüche in besonderem Maß in die Biographien eingeschrieben haben.
Hans-Gert Roloff und Mitarbeiter
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