Biographische Notizen von Christa Bittermann-Wille
Elise Richter - Leben und Werdegang
geboren am 2. März 1865 in Wien - gestorben am 21. Juni 1943 in Theresienstadt
Eltern --- Emilie Richter und Dr. Maximilian Richter, Chefarzt der k.k.Südbahn
Kindheit --- Wohlbehütet; fortschrittliche Privaterziehung; lernt früh Disziplin und Selbstbeherrschung
Lesen --- Schnelleserin; Lieblingsbücher in der Jugend: Herders "Philosophie der Geschichte der Menschheit" und Mommsens "Völkergeschichte" und "Sprachgeschichte"
Gesundheit --- Nach eigenen Aussagen fast nie schmerzfrei - sie zählt über 108 verschiedene Schmerzarten; jahrelang in ein Zelluloid-Korsett gepreßt, fast immer in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt; die Schwestern Elise und Helene Richter haben "nur eine gemeinsame Gesundheit"
Reisen --- Durch reserviertes kostenloses Eisenbahnabteil erleichtert; ausgeklügelte Reiseprogramme für Italien, Spanien, Frankreich, Algier, Tunis, durch das Habsburgerreich; immer Sehnsucht nach Meer und Sonne
Haus und Garten --- Um 1895 nach eigenen Plänen gebaut, im damals noch nahezu unbewohnten Cottage; im Garten die "schönste Glyzinie von Wien"; in Zeiten der Inflation Hausverkauf und Leibrente
Studium der Romanistik --- Nach Privatunterricht und einem Jahr intensiver Vorbereitung die Maturitätsprüfung im Mai-Juli 1897; Immatrikulation an der Wiener Universität im Wintersemester 1897/98; Lehrer sind Adolf Mussafia und Wilhelm Meyer-Lübke; im 5. Semester Seminararbeit über das romanische Possesivpronomen, die auch veröffentlicht wird
Promotion --- Am 2. Juli 1901 als dritte. Frau zum Dr. Phil. s.c.l promoviert (nach Gabriele von Wartensleben und Cäcilie Wendt); Thema der Dissertation: "Zur Entwicklung der romanischen Wortstellung aus der lateinischen", 1903 gedruckt; viele positive Fachmeinungen
Venia Legendi --- Erstes Ansuchen: 29.10.1904; Vorlage der Arbeit: "Ab im Romanischen"; Probevortrag über die "Celestina" (25.4.1905) - positive Beschlußfassung;. Vorlage beim K.K.Ministerium für Kultur und Unterricht; Erst am 25. August 1907 Erteilung der Lehrbefugnis; erste Privatdozentin in Österreich und Deutschland - jedoch ohne Bezahlung und ohne Rückhalt im Beamtenschema; Lehrbefugnis für das Fach: Romanische Philologie mit besonderer Berücksichtigung der Sprachpsychologie
Neben Elise Richter erst viel später zwei weitere Frauen: Christine Touaillon (1921) und Charlotte Bühler (1923)
a.o. Professur --- Verleihung auf Vorschlag von Prof. Dr. Karl Ettmayer am 9. Jänner 1921; Lehrauftrag erst die Verleihung eines Lehrauftrages für Sprachwissenschaft und Phonetik im Ausmaß von zwei Stunden am 20. August 1927 ermöglicht Bezahlung ihrer Lehrtätigkeit
Wissenschaftliche Laufbahn --- 46 verschiedene Kollegien, 82 mal gehalten; rege Publikationstätigkeit und Rezensionen; umfangreiche Korrespondenz; Fokus ihrer Arbeiten ist u.a. die experimentelle Phonetik oder die Thematik der Perseveranz - die unterbewußten Vorgänge im Sprachleben; der Plan einer umfassenden, chronologischen romanischen Sprachgeschichte "in fortlaufendern, innerlich zusammenhängender Schilderung des Wirkens aller Faktoren" bleibt unvollendet
Frauenrechte, Frauenpartei, Frauenverein --- Tritt ihrem Wahlspruch "ich vermied alles Frauenrechtlerische" zum Trotz für die Gründung einer Frauenpartei ein und gründet 1922 den "Verband der Akademikerinnen Österreichs", dem sie bis 1930 angehört
Jubiläum --- Am 2. März 1935 große Feier zum 70. Geburtstag im Festsaal des Romanistischen Seminars; Tabula gratulatoria mit 250 Unterschriften aus aller Welt; Antrag für ordentliche Professur wird Jänner 1935 abgelehnt; Antrag auf Versorgungsgenuß wird befürwortet
Letzte Vorlesung, Bibliotheksverbot, Entbehrung --- Am 10. März 1938 steigt sie mit "nächstes Mal mehr davon" vom Katheder herab um nie wieder zu kommen; nach dem Anschluß am 12. März 1938 sofortiges Verbot der Lehrtätigkeit; daraufhin auch Bibliotheksverbote; Elise Richter gilt wegen ihrer Großeltern nach den Nürnberger Gesetzen als Jüdin; Ersuchen um dauerndes Ruhegehalt wird vom kommissarischen Dekan zwar weitergeleitet aber vom Unterrichtsministerium abgelehnt; finanzielle Not, Verkauf der umfangreichen Bibliotheken der Schwestern;. schwere Krankheiten, doch nach wie vor wissenschaftliche Arbeiten
Angst um Wohnrecht --- Mit dem Argument "alte Bäume verpflanzt man nicht" lehnen die Schwestern die Auswanderungsunterstüztung der "International Federation of University Women" ab, entschließen sich in der Heimat zu bleiben
Theresienstadt --- Abholung in ein Sammellager; am 10. Oktober 1942 mit dem letzten Transport - in einem Viehwaggon - nach Theresienstadt. Tod von Helene Richter am 8. November 1942. Tod von Elise Richter am 21. Juni 1943
"So nahe bin ich an der Schwelle des Lebens gewesen und habe mich nachher gefragt? Warum habe ich sie nicht übertreten? Wozu bin ich noch hier? ....Wahrscheinlich haben Sie noch eine Aufgabe zu erfüllen - warten Sie nur! Ich warte ...."