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ISSN: 1680-8975 PURL: http://purl.org/sichtungen/ |
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Home > Beiträge > Aufsätze > Degener: Stellenwert des Archivs im kulturwiss. Diskurs | |
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Speicher der kulturellen Erinnerung oder Motor des kulturellen Wandels?Überlegungen zum Stellenwert des Archivs im kulturwissenschaftlichen DiskursThomas Degener• Erinnerung und Archiv im Wandel
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Erinnerung in den Kulturwissenschaften
Die Konjunktur der Begriffe Gedächtnis und Archiv im Rahmen des kulturwissenschaftlichen Diskurses kann nicht allein als Modeerscheinung
erklärt werden. Sie hängt mit den Bestrebungen zur Neudefinition der unter zunehmenden Legitimationsdruck geratenen Geisteswissenschaften
als Kulturwissenschaften eng zusammen. Steht der Begriff der Kultur, der vor allem durch die Rezeption der amerikanischen
cultural anthropology und der angloamerikanischen cultural studies einen Bedeutungswandel erfahren hat, nun einerseits für
einen gleichsam ethnologischen Blick auf das Eigene, so rückt komplementär dazu auch die Frage nach den Veränderungen der
Kultur im geschichtlichen Wandel in den Mittelpunkt des Interesses. Der Begriff Für ein semiotisch geprägtes Verständnis von Kultur, das diese zuallererst als kollektive Deutung der Welt mittels Zeichensystemen versteht,[3] stellt Kultur zugleich eine Art von Gedächtnis der Gesellschaft dar. Sprachliche und andere Symbole machen die Speicherung des sozialen Wissensvorrats möglich. Kultur wird dabei jedoch zugleich auch als Selektionsmechanismus bewußt. Diesem gestiegenen Bewußtsein für die Bedeutung der medialen Vermitteltheit kultureller Prozesse entspricht ein spezifisch kulturwissenschaftlicher Blick auf die Erinnerung, der nicht nur nach kulturbedingt unterschiedlichen Formen der Aufzeichnung und Speicherung fragt, sondern auch ins Auge faßt, wie die Speichertechniken und Erinnerungsmedien die Gestalt des Gedächtnisses selbst mitprägen. Als das Gedächtnis der Gesellschaft wird Kultur derzeit vor allem im Anschluß an Niklas Luhmanns systemtheoretische Beschreibung von Kultur als »Gedächtnis sozialer Systeme«[4] und als Modus gesellschaftlicher Selbstbeobachtung verstanden. Soziale Systeme reproduzieren sich permanent selbst, daher kann Gedächtnis auch hier nicht einfach als Speicher verstanden werden, aus dem vorhandenes Wissen abgerufen wird. Vielmehr besteht Gedächtnis aus einem Prozeß dauernden Vergessens und zugleich ständiger Erzeugung von Vergangenheit. Vor diesem Hintergrund muß sich auch die kulturwissenschaftliche Erforschung der Erinnerung mit dem Konstruktcharakter von Gedächtnis auseinandersetzen und sich der daraus resultierenden Konsequenzen bewußt sein.[5] Können die Begriffe der Erinnerung und des Archivs in diesem Sinn zur Selbstreflexion der Kultur und zum Verständnis kulturellen Wandels beitragen? Im folgenden soll am Beispiel zweier aktueller Konzeptionen von kultureller Erinnerung bzw. kulturellem Archiv, die sich beide auch in grundlegendem Sinn als Kulturtheorien verstehen, nach dem analytischen Potential der beiden paradigmatischen Begriffe gefragt und zugleich die Frage nach ihrem wechselseitigen Verhältnis diskutiert werden. |
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Kultur als Erinnerung
Die Ausarbeitung eines genuin kulturwissenschaftlichen Modells der Erinnerung haben besonders Jan und Aleida Assmann geleistet.[6] Während der Ägyptologe Jan Assmann die Theorie des kulturellen Gedächtnisses in der Auseinandersetzung mit der Entstehung
der frühen Das kollektive Gedächtnis wird nun, über Halbwachs hinausgehend, weiter differenziert: Es setzt sich aus zwei Bereichen zusammen, nämlich dem kommunikativen und dem kulturellen Gedächtnis, deren Verhältnis in verschiedenen Kulturen jeweils unterschiedlich ist.[9] Das kulturelle Gedächtnis stellt also einen Teilbereich des kollektiven Gedächtnisses dar. Über die von Halbwachs betonte soziale Bedingtheit hinaus soll das individuelle Gedächtnis damit auch als wesentlich kulturell geprägt aufgewiesen werden. Die Frage, welche Inhalte das Einzelbewußtsein in sein Gedächtnis aufnimmt, muß damit (unabhängig von dessen neuronalen Grundlagen) vor allem im Blick auf kulturelle Bedingungen beantwortet werden. Die kulturwissenschaftliche Perspektive hat ihr Augenmerk darauf zu richten, wie Kollektive mit Hilfe von Speichermedien ihr Gedächtnis organisieren und wie diese spezifischen kulturellen Formen die Struktur des Gedächtnisses prägen. Den Begriff der Tradition im Sinn ungebrochener Überlieferung erweiternd soll damit das Gedächtnis als Phänomen eigenen Rechts
konstituiert werden, das Gesellschaft und Kultur überhaupt erst ermöglicht. Gegenüber dem Kontinuität implizierenden Begriff
der Tradition Das kommunikative Gedächtnis ist auf der Ebene des zwischenmenschlichen Umgangs und der alltäglichen Kommunikation angesiedelt. Es bildet sich auf dieser und vergeht auch mit ihr. Für sein Funktionieren ist daher das Vergessen genauso wichtig wie das Erinnern. Man kann das kommunikative Gedächtnis, das jeweils etwa drei bis vier Generationen umfaßt und verbindet, somit auch als das Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft beschreiben. Die in ihm enthaltenen Erinnerungen zeichnen sich nicht durch Genauigkeit oder längere Haltbarkeit aus. Sie beziehen sich prinzipiell auf Ereignisse der jüngeren Vergangenheit und gehen zumindest mittelbar auf authentische Erlebnisse zurück, die immer in einen spezifischen zeitgeschichtlichen Kontext eingebettet und ohne dessen Kenntnis nicht zu verstehen sind. Da dieser Typus von Erinnerung zudem nur sehr eingeschränkt sprachlich mitteilbar ist, wird die Heftigkeit der Auseinandersetzungen und Mißverständnisse verständlich, die die Einordnung und Bewertung vergangener Geschehnisse hier mitunter begleitet. Ein wichtiger Zeitpunkt innerhalb des kommunikativen Erinnerns scheint dabei besonders vierzig Jahre nach einschneidenden Erlebnissen und Erfahrungen erreicht, wenn deren Zeugen in ein Alter kommen, in dem zum einen verstärkt der Wunsch nach Erinnerung und Weitergabe der Geschichte aufkommt, zum anderen der Übergang zur nur noch medial vermittelten Erinnerung vollzogen werden muß. So läßt sich beispielsweise plausibel erklären, weshalb die seither immer wieder neu aufflammenden heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen um die Geschichte des Dritten Reiches ihren Anfang gerade in der Mitte der 80er Jahre nahmen.
Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses soll dazu dienen, die Frage zu beantworten, wie sich Gesellschaften erinnern und wie sie in dieser Erinnerung ein Bild von sich gewinnen. Ausgehend von der Feststellung, daß Kollektive ein Bewußtsein ihrer Eigenart meist auf bestimmte Ereignisse der Vergangenheit gründen, erweist sich die Herstellung kollektiver Identität als eine der wesentlichen Funktionen des kulturellen Gedächtnisses. Dieses stellt den inneren Zusammenhalt der Gesellschaft her, indem es die Gegenwart mit der Vergangenheit verbindet. An dieser identitätsbildenden Kraft des kulturellen Gedächtnisses, das wesentlich auch normativer Natur ist, wird zugleich deutlich, daß Vergangenheit nicht zweckfrei um ihrer selbst willen erinnert wird. Jeder Vergangenheitsbezug setzt zwar voraus, daß es Zeugnisse einer von der Gegenwart deutlich unterscheidbaren Vergangenheit gibt, dennoch stellt Vergangenheit immer auch schon das Ergebnis einer kulturellen Konstruktion dar und wird nur unter dem Aspekt der Bedeutsamkeit für die Gegenwart erinnert. Kultur entsteht somit erst im Bezug auf Vergangenheit, erzeugt aber diese Vergangenheit zugleich selbst. Dieser konstruktivistische Grundzug kulturellen Erinnerns, der schon in Halbwachs’ These einer sozialen Konstruktion der Vergangenheit angelegt war, stimmt mit konstruktivistischen Gedächtnistheorien überein, die Gedächtnis nicht mehr als Speicher, sondern als je gegenwärtig und in aktuellem Bezugsrahmen sich vollziehende Erzeugung von Vergangenheit begreifen. Diese Differenzierungen des Begriffs der kollektiven Erinnerung führen zwangsläufig zur Frage nach den Ursachen und Mechanismen
kulturellen Wandels und damit zugleich auch nach der Dynamik von In Schriftkulturen besteht das kulturelle Gedächtnis vor allem im Umgang mit grundlegenden Texten, die abgeschlossen und nicht mehr fortschreibbar sind. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Prozeß der Kanonbildung, die Jan Assmann in etymologischer, historischer und wirkungsgeschichtlicher Perspektive eingehend untersucht. An den kanonischen Text schließen sich Kommentare und Interpretationen an. Zugleich sind im Kanon die entscheidenden Werte einer Gemeinschaft enthalten, die befolgt und verwirklicht werden sollen. Er stellt somit einerseits die Grundlage der kollektiven Identitätsbildung dar, begründet aber gleichzeitig - in der Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Text, Hörer und Interpreten - auch die soziale Differenzierung. Zugleich gewinnt nun die Unterscheidung zwischen Gegenwart und Vergangenheit neuartiges Gewicht, da vor der Existenz ›klassischer‹ Texte nur zwischen mythischer Urzeit und Gegenwart unterschieden wird. Der Begriff des kulturellen Gedächtnisses meint damit hier sowohl etwas Spezifisches als auch etwas sehr Weitreichendes. Wird
Erinnerung so weitgehend mit Kultur gleichgesetzt, dann ist der Begriff der Erinnerung auch mit den charakteristischen Ambivalenzen
des Kulturbegriffs behaftet. Kultur wird hier einerseits primär über die Artefakte, nämlich symbolische Formen aller Art wie
Tänze, Lieder, Sprichwörter oder Mythen sowie andererseits über Kunstwerke und hier in besonderem Maß über Texte definiert.
Damit verbindet sich der Anspruch, eine wissenssoziologische mit einer mediengeschichtlichen Diese Gleichsetzung von Kultur mit Artefakten erweist sich jedoch als ganz unvereinbar mit der Funktion, die dem kulturellen Gedächtnis hier zugeschrieben wird. Deshalb umgreift der Begriff ein engeres, vornehmlich auf die Kunst bezogenes und zugleich ein weites, auf alle Bereiche der Gesellschaft bezogenes Verständnis. Das kulturelle Gedächtnis im engeren Sinn und seine Funktionen fallen ineins. Die Artefakte transportieren ein Wissen, das individuelle und kollektive Identität herstellt. In Übereinstimmung mit semiotischen Konzepten ist Kultur hier wesentlich auch auf symbolischem Weg hergestellte Gemeinsamkeit, in der »der in gemeinsamer Sprache, gemeinsamem Wissen und gemeinsamer Erinnerung kodierte und artikulierte kulturelle Sinn, d. h. der Vorrat gemeinsamer Werte, Erfahrungen, Erwartungen und Deutungen«[12] zirkuliert. Vor diesem Hintergrund verliert aber die Unterscheidung zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis an Plausibilität, denn offenbar muß auch das kommunikative Gedächtnis als wesentlicher Bestandteil von Kultur angesehen werden. Besonders im Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft ist es jedoch zweifelhaft geworden, inwiefern Kultur als ein in bestimmten
Artefakten oder gar in einem kulturellen Kanon verkörperter Bestand von Werten angesehen werden kann. Die Frage, was moderne
Gesellschaften zusammenhält, kann nicht mehr einfach durch den Verweis auf durch Artefakte vermittelte Werte beantwortet werden.
Gesellschaft scheint eher Differenzen zu erzeugen als durch gemeinsame Werte zusammengehalten zu werden. Für Anthony Giddens
ist die »posttraditionale« Gesellschaft gerade durch einen geänderten Stellenwert In vormodernen Gesellschaften sind Tradition und die Alltagsroutinen eng miteinander verknüpft. In der posttraditionalen Gesellschaft dagegen wird die Routine leer, solange sie nicht mit Prozessen institutionalisierter Reflexivität verzahnt wird. Es gibt keine logischen Gründe oder solche einer authentischen Moral, weshalb ich heute das gleiche wie gestern tun sollte; und gerade hierin besteht die Funktion der Tradition.[13] Auch der für den Begriff der kulturellen Erinnerung zentrale Aspekt der kollektiven Identitätsbildung muß in bezug auf die Gegenwart wesentlich differenziert werden. Insofern kulturelle Artefakte noch identitätsbildende Wirkung besitzen, liegt diese auf der Ebene des gesellschaftlichen Umgangs mit ihnen und gerade nicht in einem diesen immanenten Gehalt.[14] Das Konzept der Erinnerung erweist sich damit hinsichtlich der historischen Erklärung der kulturellen Tradition als weitaus produktiver denn als Analyse der Gegenwart der Kultur. So gesehen stellt sich vor allem die Frage, welche Auswirkungen die Vorherrschaft digitaler Gedächtnismedien sowohl für die Metaphorik als auch für das Erinnern selbst haben wird - und insofern das Konzept der Erinnerung zur bloßen Beschreibung verschiedener Erscheinungsformen des kulturellen Gedächtnisses in ihrer vom Wandel der Medien bestimmten Gestalt tendiert, scheint es auf der Ebene der Theoriebildung nur eingeschränkt in der Lage, die Dynamik aktueller kultureller Entwicklungen zu erklären. Der Begriff der Erinnerung muß erheblich weiter gefaßt werden, wenn er für die Kulturwissenschaften universale Gültigkeit beanspruchen will. Diese Konzeption von Kultur als Gedächtnis ist jedoch auch von ihrem normativen Anspruch her zu begreifen. Von der Lobpreisung der Erinnerung als Antidot wider das leerlaufende Vergessen in der Eventkultur ist jedoch kein weiter Weg zur problematischen Forderung nach neuen sinn- und identitätsstiftenden Mythen und Erzählungen. Unter dem Dach der Kulturwissenschaften scheint sich damit zudem die alte Kluft zwischen Geistes- und Sozialwissenschaften fortzusetzen. |
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Kultur als Archiv
Sofern Erinnerung der für Kultur konstitutive Begriff ist, kommt dem Archiv naturgemäß nur untergeordnete Bedeutung zu. Das
Archiv ist dann ein Bestandteil des kulturellen Gedächtnisses, das bestimmte Speichermedien voraussetzt bzw. von diesen erst
ermöglicht wird. Ins- Eine zentrale Rolle spielt der Begriff des Archivs in metaphorisch ausgeweiteter Form vor allem in den kulturtheoretischen Arbeiten von Boris Groys.[16] Hatte das Archiv als Metapher des Gedächtnisses räumlichen Charakter gehabt,[17] so wird es jetzt auf das Ganze der Kultur und deren Entwicklungsdynamik bezogen und in zeitlicher Hinsicht produktiv gemacht. Das Archiv ist nun nicht mehr nur passiver Speicher des kulturellen Geschehens, sondern zentraler Bestandteil und konstitutive Voraussetzung kulturellen Wandels. Groys will die fundamentalen Prinzipien des kulturellen Geschehens, die für die Entstehung und den Wandel kultureller Werte verantwortlichen Mechanismen verstehen und evident machen. Er bestreitet, daß die Bedeutung des Neuen mit der Postmoderne vergangen sei. Das Neue an der Postmoderne liegt allein darin, daß die für die Moderne charakteristische Hoffnung (und das mit dieser verbundene Pathos) verschwunden ist, im Neuen ein bedeutungsvolles Anderes bzw. einen Fortschritt finden zu können. Jede kulturelle Praxis gehorcht aber unverändert der Forderung nach dem Neuen. Auch in der Postmoderne gilt weiterhin, daß das Neue das Wertvolle ist und nur in der Abgrenzung vom Alten entsteht. Der Wert eines kulturellen Werkes oder auch einer Theorie bemißt sich ausschließlich nach dem Grad der Anerkennung und Aufmerksamkeit, die sie auf sich ziehen. Die Anerkennung wiederum resultiert allein aus dem Verhältnis zu anderen kulturellen Werken und zur Tradition im ganzen - selbstverständlich auch und gerade im Bruch mit dieser - und nicht aus dem Bezug zu irgendeiner höheren oder inneren Wirklichkeit. Erst die Existenz von Archiven macht den Vergleich mit der Vergangenheit möglich. Die Forderung nach dem Neuen kommt deshalb
erst auf, sobald es Archive gibt. Das Neue ist das, was für die kulturellen Archive neu ist. Von diesem Moment an wird Kunst
mit der bewußten Absicht geschaffen, sich vom Vorangegangenen zu unterscheiden, während zuvor die kontinuierliche Weitergabe
der Tradition vorherrschend war. Das Neue wird dabei ausschließlich deshalb geschätzt, Dem Archiv steht der Bereich des Profanen und Wertlosen gegenüber. Zu diesem gehört alles, was nicht im kulturellen Archiv enthalten ist. Der Raum des Profanen stellt damit zugleich das Reservoir dar, aus dem ein für das kulturelle Archiv Neues entnommen werden kann. Zwischen diesen beiden Bereichen des Valorisierten und des Profanen vollzieht sich unaufhörlich ein Prozeß des »innovativen Tauschs«: Etwas als wertlos und profan Angesehenes wird durch eine Innovation in den Rang des Kulturellen und also Wertvollen erhoben. Das Neue ist also genaugenommen gar kein Neues, sondern Altes, das nur kontextbedingt als neu erscheint. Dieser Mechanismus stellt das fundamentale Prinzip der Kultur dar. Was in das Archiv aufgenommen wird, verliert damit jedoch notwendig seinen ursprünglichen Charakter. Dieses Grundprinzip läßt sich nirgends so gut beobachten wie in der Kunst der Moderne. Ihre wechselnde Erscheinungsform kann als Verwirklichung dieses Prinzips verstanden werden. Als paradigmatisches Beispiel dienen hier Marcel Duchamps Ready-Mades, an denen sich das grundlegende Gesetz der Innovation als Verschiebung der Grenze zwischen den Bereichen des Valorisierten und des Banalen in exemplarischer Weise ablesen läßt. Indem Duchamp Alltagsgegenstände ins Museum stellte, machte er in reinster Form den für alle Kultur zentralen Mechanismus der Umwertung der Werte sichtbar, ohne dabei noch Bezug auf irgendein anderes Prinzip nehmen zu müssen. Aus der Erfahrung der Avantgarde, daß sich die Grenze zwischen Kunst und Leben als unaufhebbar erwiesen hat und sämtliche Versuche, das Kunstsystem zu sprengen, schließlich doch wieder erfolgreich in dieses integriert wurden, leitet Groys somit eine Theorie der Kultur ab. Seit fraglich geworden ist, was eigentlich Kunst sei, ist wiederholt versucht worden, sie durch ihren jeweiligen institutionellen Rahmen zu erklären.[18] Groys dagegen geht den umgekehrten Weg, indem er an der Kunst das für die Gesamtheit der Kultur maßgebliche Prinzip abliest. Wie im Erinnerungs-Konzept erscheint Kultur auch hier einerseits durchaus traditionell auf die Kunst beschränkt. Diese gilt
als der avancierteste Bereich des gesellschaftlichen Ganzen, an dem sich in paradigmatischer Weise Grundstrukturen und Entwicklungen
- d. h. hier natürlich das Prinzip des Neuen - beobachten lassen. Zugleich jedoch Eine offensichtliche Schwäche dieses Entwurfs liegt in seiner fehlenden historischen Fundierung und seinen problematischen geschichtsphilosophischen Implikationen. Erstens ist die Logik der Innovation für Groys einerseits schon im Christentum (in dem das profane Schicksal des Gekreuzigten gegen die göttliche Natur Christi »getauscht« wird) vorgegeben und mit diesem geradezu identisch, andererseits wird sie aber erst in der Moderne zur treibenden Kraft, die das Neue zu deren eigentlichem Signum macht. Zweitens scheint - besonders auch angesichts des schon mit der Schriftlichkeit verbundenen Innovationsdrucks - zumindest fraglich, ob die kulturelle Entwicklung vor der Moderne tatsächlich als ein kontinuierliches Festhalten am Alten mit gelegentlichen Abweichungen oder Weiterentwicklungen, d. h. als positive Fortsetzung der Tradition im Gegensatz zu ihrer Fortsetzung ex negativo in der Moderne beschrieben werden kann. Schließlich bleibt auch unerklärt, was zur Entstehung der kulturellen Archive geführt hat. Das Archiv interessiert hier nicht als Ergebnis historischer kultureller Entwicklungen, sondern allein als Teil des Mechanismus, der diesen zugrundeliegt. Es ist als Speichergedächtnis zum universalen Prinzip der Kultur geworden. Das Archiv hat damit seine Funktion als Ort der Erinnerung verloren. Weder die Erinnerung des Individuums noch die des Kollektivs
hat im Archivmodell noch Bedeutung. Die Rolle des Einzelnen liegt höchstens darin, die richtige Strategie zu finden, um etwas
Neues im kulturellen Archiv unterzubringen. Damit dient das Archiv auch nicht mehr der Identität einer Kultur, sondern allein
deren Dynamik. Anders als das kulturelle Gedächtnis hat es auch keinerlei Bedeutung als normsetzende und -vermittelnde Kraft.
Nach dem Verlust normativer Verbindlichkeiten in der Moderne kann Erinnerung diese Funktion nicht mehr erfüllen. Das Archiv
bestimmt zwar ex negativo die sich in Gestalt von Umwertungen vollziehenden Wertsetzungen, ist dabei aber deren Inhalten gegenüber
völlig indifferent. Sofern ihm eine normative Funktion zugesprochen werden kann, liegt diese allein im vollständig kontextabhängigen
Kriterium der Neuheit. Das Archiv ist die anonyme Macht, die über den Wert kultureller Innovationen ebenso wie über die Anerkennung
kultureller und ethnischer Identität entscheidet.[19] War einst mit dem Archiv die Hoffnung verbunden, der Vergänglich- Eine der zentralen Scheidelinien innerhalb des gegenwärtigen ästhetischen und kunsttheoretischen Diskurses verläuft entlang der Frage, inwieweit von einem ›Wesen‹ bzw. einer authentischen Substanz der Kunst gesprochen werden kann. Insofern überrascht es nicht, wenn die Spannung zwischen den beiden kulturtheoretischen Konzepten ›Erinnerung‹ und ›Archiv‹ besonders auch an der unterschiedlichen Rolle offenbar wird, die der Kunst in ihnen zukommt. Wird Kultur wesentlich als Erinnerung verstanden - dies hat sich schon an der Bedeutung der Artefakte für den Erinnerungsbegriff gezeigt -, erscheint die Kunst tendenziell als Bereich des Sakralen und Außergewöhnlichen, der dem Leben eine andere, andernfalls ungesehene Dimension zu verleihen vermag: »Die Erzeugung von Ungleichzeitigkeit, die Ermöglichung eines Lebens in zwei Zeiten, gehört zu den universalen Funktionen des kulturellen Gedächtnisses, d. h. der Kultur als Gedächtnis.«[20] Diese herausgehobene Stellung der Kunst vermag Reflexivität und Distanz herzustellen. Da Erinnerung dies aber gegenwärtig nicht mehr leisten kann, wird das Konzept der kulturellen Erinnerung im Blick auf die Gegenwart zwangsläufig zum Ausgangspunkt kulturkritischer Überlegungen. Die Kunst muß dann die Aufgabe übernehmen, die unmöglich gewordene Erinnerung zu kompensieren. Als Medium des Gedächtnisses erinnert sie die Kultur daran, daß sie sich nicht mehr erinnert. Auch die Kunst selbst kann zwar keine Erinnerung mehr leisten oder als Speicher kultureller Erinnerung dienen, aber diese Funktion simulieren (indem sie beispielsweise das Buch oder die Bibliothek als Metaphern verwendet) und darin an die Bedrohtheit der Erinnerung in der modernen Massenkultur gemahnen. Indem sie das Ausmaß des Verlustes benennt und sichtbar macht, trägt sie aber noch eine subversive Kraft in sich.[21] Wird Kultur dagegen als Archiv beschrieben, ist keine Bestimmung eines immanenten Wesens der Kunst mehr nötig. So vertritt
Groys eine Position, die eine inhaltliche Bestimmung der Kunst ablehnt und sich allein für deren Funktionsweise innerhalb
der Gesellschaft interessiert. Er wendet sich vehement gegen die Auffassung, daß im Kunst- |
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Anmerkungen
1] Vgl. z. B. Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Hg. von Siegfried J. Schmidt. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1991 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 900). 2] So wendet sich Wolfgang Ernst - Nicht Organismus und Geist, sondern Organisation und Apparat. Plädoyer für archiv- und bibliothekswissenschaftliche Aufklärung über Gedächtnistechniken. In: Sichtungen 2 (1999), S. 129-139 - in seiner Ablehnung von Archivmetaphern aus dem Bereich des Organischen dagegen, das Archiv als eine von Wissenszirkulation und künstlerischer Produktion getrennte Einrichtung zu verstehen. 3]
Vgl. z. B. Ronald Hitzler: Sinnwelten. Ein Beitrag zum Verstehen von Kultur. Opladen: Westdeutscher Verlag 1988 (= Beiträge
zur sozialwissenschaftlichen Forschung 110), v. a. S. 73f.; Roland Posner: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation
kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: Kultur als Lebenswelt und Monument. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. 4] Niklas Luhmann: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft. Bd. 4. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1995, S. 47. 5] Für Uwe C. Steiner - Können die Kulturwissenschaften eine neue moralische Funktion beanspruchen? Eine Bestandsaufnahme. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 71 (1997), S. 5-38 - sind es die Kulturwissenschaften als wichtiger Teil der Kultur selbst, die die Leistung des Vergessens und zugleich der Erzeugung neuer Varianten von Realität erbringen, indem sie diese mit anderen Perspektiven auf sich selbst konfrontieren. 6] Vgl. v. a. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis. Hg. von Jan Assmann und Tonio Hölscher. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1988 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 724); ders.: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: Beck 1997 (= Becksche Reihe 1307); Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München: Beck 1999. 7] Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt / Main: Fischer 1985 (= Fischer-Taschenbücher 7359: Wissenschaft); ders.: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1985 (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft 538). 8] Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 6), S. 36. 9] Daneben ist vom Kollektivgedächtnis in politisch-historischem Zusammenhang bisweilen auch in einer Weise die Rede, als handele es sich um eine weitere Gedächtnisform sui generis. Vgl. z. B. Aleida Assmann / Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit - Geschichtsversessenheit. Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1999, S. 41-49. 10] Wenn auch beides nicht gleichgesetzt werden kann, wie auch generell das kulturelle Gedächtnis nicht mit kultureller Dynamik. Die von Claude Lévi-Strauss stammende Unterscheidung zwischen ›heißen‹ und ›kalten‹, das heißt zwischen statischen und dynamischen Gesellschaften, darf nicht mit derjenigen zwischen primitiven und entwickelten Kulturen bzw. solchen ohne und mit Schrift verwechselt werden. Wie Jan Assmann am Beispiel des auf Kontinuität und Abwehr einer geschichtlichen Entwicklungsdynamik ausgerichteten ägyptischen Gedächtniskonzeptes vorführt, muß auch ›Kälte‹ in diesem Sinn erst durch eine spezifische Strategie hergestellt werden. 11]
Dietrich Harth - Das Gedächtnis der Kulturwissenschaften. Dresden, München: Dresden University Press 1998, S. 111 - wendet
gegenüber der von Assmann vorgenommenen Gleichsetzung ritueller Identitätsstiftung mit identischer Wiederholung ein, daß auch
rituelle Handlungen nicht primär als bloße Wiederholungen verstanden werden können. Unbestreitbar bleibt dennoch, daß mit
dem Übergang zur Schriftkultur eine strukturelle Veränderung des Erinnerns eintritt. 12] Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 6), S. 140. 13] Anthony Giddens: Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft. In: Reflexive Modernisierung. Eine Kontroverse. Hg. von Ulrich Beck, Anthony Giddens und Scott Lash. Frankfurt / Main: Suhrkamp 1996 (= Edition Suhrkamp 1705), S. 113-194, hier S. 137. 14] Vorgeführt hat dies beispielsweise Gerhard Schulze: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt / Main, New York: Campus 1992. 15] Dieser Entwicklung versucht Aleida Assmann durch die Unterscheidung zwischen Funktions- und Speichergedächtnis Rechnung zu tragen (vgl. z. B. Assmann, Erinnerungsräume, Anm. 6, S. 130-142.) Das Speichergedächtnis bzw. die Archive gehören dann jedoch eigentlich nicht mehr zum kulturellen Gedächtnis im Sinn der ursprünglichen Definition, die ganz mit dem Funktionsgedächtnis zusammenfällt, wenn es auch für dieses von struktureller Notwendigkeit ist. 16] Boris Groys: Über das Neue. Entwurf einer Kulturökonomie. München, Wien: Hanser 1992 (= Edition Akzente); ders.: Logik der Sammlung. Am Ende des musealen Zeitalters. München, Wien: Hanser 1997 (= Edition Akzente); ders.: Unter Verdacht. Eine Phänomenologie der Medien. München, Wien: Hanser 2000. 17] Zur Metaphorik des Gedächtnisses vgl. Aleida Assmann: Zur Metaphorik der Erinnerung. In: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Hg. von Aleida Assmann und Dietrich Harth. Frankfurt / Main: Fischer 1991 (= Fischer-Taschenbücher 10724: Wissenschaft). 18] Die These, der Kunststatus von Objekten sei ausschließlich in ihrem institutionellen Kontext begründet, wurde vor allem von George Dickie formuliert. In Verbindung mit einer kunsthistorischen Vorgehensweise wird dieser Ansatz wieder aufgenommen von Stefan Heidenreich: Was verspricht die Kunst? Berlin: Berlin Verlag 1998. 19] Vgl. Groys, Logik (Anm. 16), S. 46-62. 20] Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (Anm. 6), S. 84. 21] Es muß erstaunen, wie kategorisch Aleida Assmann (Erinnerungsräume, Anm. 6, S. 359) zumindest im Zusammenhang mit der Rolle der Kunst als Erinnerungsersatz in der modernen Gesellschaft (sehr viel weniger hinsichtlich des Verhältnisses von Gedächtnis und Geschichte) eine weitgehende Unmöglichkeit von Erinnerung in der gegenwärtigen Gesellschaft konstatiert und damit die kulturkonstituierende und allgegenwärtige Wichtigkeit von Erinnerung partiell dementiert: »Es scheint, als hätte sich das Gedächtnis, das keine kulturelle Form und gesellschaftliche Funktion mehr hat, in die Kunst geflüchtet.« 22] 22 Groys ist allerdings in seiner Abwendung von einer inhaltsorientierten Ästhetik nicht ganz konsequent, insofern allein der Wert, nicht aber der Inhalt von Kunstwerken durch die Logik der kulturellen Innovation erklärt werden kann. Letzterer kann seinen Grund in spezifischen Bedingungen der Zeit oder in subjektiven Befindlichkeiten und Vorlieben des Künstlers haben, aber eben nicht den Grund für die Beschäftigung mit dem Werk und ein Urteil darüber darstellen; vgl. Groys, Über das Neue (Anm. 16), S. 16. 23]
Vgl. Schulze (Anm. 14). 24] Groys seinerseits rekurriert in scheinbarer Inkonsequenz immer wieder auf ein Motiv, das man als Identifikation mit dem Feind charakterisieren könnte: Das Profane wird gerade deshalb immer wieder valorisiert, weil es eine unaufhörliche Quelle der Angst vor der Vernichtung der Kultur darstellt. |
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