Lydia von Wolfring
Eine Frau, die durch mehr als ein Jahrzehnt die Aufmerksamkeit in hohem Maße auf sich zog, hat vor wenigen Tagen Wien verlassen und von ihren zahlreichen Freunden Abschied genommen.
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Lydia von Wolfring ging einen anderen Weg; sie sollte mit der Geschichte der Kinderfürsorge dauernd verwoben werden. So viel umstritten ihr Primat in der Wiener Schutz- und Rettungsfürsorge heute auch ist, so wird ihr doch selbst von ihren Feinden die Förderung derselben nicht bestritten. Die ihr Nahestehenden wissen aber, dass die Kinderfreundin in Italien und Frankreich mächtige Eindrücke empfing, als sie sah, wie die Kriminalität der Jugend dort zunimmt, wo das misshandelte und verlassene Kind keinen Rechtsschutz hat. Ich erinnere mich, dass, als ich im Juni 1899 mit Lydia v. Wolfring in Paris zusammentraf, diese weder Auge noch Ohr für alle Kunstschätze und historischen Denkmäler der Stadt hatte, sondern nur unermüdlich in mich drang, ihr zu helfen, in Wien für den Schutz unglücklicher Kinder eine Vereinigung zu bilden.
Wenige Monate später wurden grauenhafte Kindermisshandlungen in Wien aufgedeckt und damit für Lydias Unternehmen den Rechtsschutz nach dem Vorbilde Amerikas und Englands zu organisieren, der Boden geschaffen. Viele werden sich erinnern, dass die Wiener Kinder-Schutz- und Rettungsgesellschaft schwere Geburtsstunden hatte. Endlich kam sie aber doch zu Stande, und nun drängten Lydia von Wolfrings Freunde in sie, den Vorsitz in derselben zu übernehmen. Leider ging sie darauf nicht ein, sondern bestand darauf, als Generalsekretärin der Gesellschaft zu dienen. Dieser Irrtum schuf die Keime zu den bedauerlichen späteren Zerwürfnissen. Denn Lydia von Wolfring war nicht danach angetan, sich in ihrem stürmischen Drang, den unglücklichen Kindern zu helfen, irgend welche Fesseln auferlegen zu lassen, während sie vielleicht als die verantwortliche Vorsitzende sich selbst beschränkt hätte. Der Feuereifer und die Hoffnungsfreudigkeit, mit der sie ans Werk ging, und ihre grenzenlose Hingabe für dasselbe halfen dem Unternehmen trotz allem empor, so dass, als Lydia von Wolfring aus dem Vorstande der Kinder-Schutz- und Rettungsgesellschaft austrat, diese 90 Kinder in Pflege hatte, ein Haus in Kritzendorf und zwei Villen in Maria Enzersdorf besass.
Lydia v. Wolfring ruhte jedoch nicht. Nicht charitatives Wirken allein, sondern soziale Reform, neue Rechtsbestimmungen strebte sie an. Neuerdings begann sie, Freunde für ihre Pläne zu werben, und das Resultat ihrer Bestrebungen war das Inslebentreten des Pestalozzivereines im Herbst 1903. Auch dieser Verein sollte misshandelten und verwahrlosten Kindern eine Zufluchtstätte werden, und er ist es geworden, obzwar es von Anbeginn schwer war, die Geldmittel für den Unterhalt der Kinder zu beschaffen, deren Zahl oft ungemessen anwuchs, weil verzweifelt traurige Verhältnisse, in welchen ein Kind sich befand, das Abweisen desselben schwer machten. So lange Lydia v. Wolfring gesund war, war sie erfinderisch und unermüdlich in der Geldbeschaffung. Als aber Krankheit eine schwere Operation nötig machte und eine baldige Erholung ausblieb, trat schwere Sorge um ihre Schützlinge ein. Nun, wo ihr fortdauerndes Leiden sie zwang, ihr Werk und wohl auch Österreich daueernd zu verlassen, hat eine Anzahl hochgeachteter Persönlichkeiten einen Aufruf zur Gründung eines Lydia v. Wolfring-Fonds ergehen lassen, der dem Pestalozziverein, nebst den Mitgliederbeiträgen, eine dauernde Einnahme verbürgen soll. Mit der Anregung zur Gründung der beiden Vereine, war Lydia v. Wolfrings Tätigkeit aber durchaus nicht erschöpft. Nachhaltiger und bedeutungsvoller hat sie durch ihre persönliche und schriftliche Propaganda gewirkt.*)
Wo es galt, für den Kinderschutz einzutreten, war sie unter den Mitarbeitern, so nahm sie regen Anteil an ausländischen Kongressen und einem hervorragenden an dem österreichischen Kinderschutzkongress, wo sie unter den Vizepräsidenten des Kongresses fungierte. Es unterliegt keinem Zweifel, dass sie das öffentliche Gewissen lebhaft anregte, sowie die neueste österreichische Kinderschutzgesetzgebung manchen Impuls von ihr empfangen zu haben scheint. Eine besondere Freude wurde ihr dadurch, dass die "New-York Society for the Prevention of Cruelty to Children" sie, wie unseren hochverehrten Dr. Heinr. Reicher zum Ehrenmitgliede ernannt hat. Eine seltene Auszeichnung, die diese Gesellschaft in den 35 Jahren ihres Bestandes nur fünf Personen zuteil werden liess.
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