[2/ S. 286:] Friedrich Sengle wurde am 14. November 1909 in Tellicherry (Südindien) als Sohn eines Missionars der Basler Mission geboren.
Nach der Studienzeit in Berlin und Frankfurt / Main folgten Promotion und Habilitation in Tübingen und vier Stationen als
Universitätsprofessor: ab 1951 in Köln, ab 1952 in Marburg / Lahn, ab 1959 in Heidelberg und von 1965 bis 1978 in München.
Am 14. März 1994 starb Sengle in Seefeld-Hechendorf (Bayern).
Friedrich Sengle gilt als der bedeutendste Historiker unter den Germanisten der Bundesrepublik Deutschland. Seine Hauptwerke
haben der neueren Literaturwissenschaft wichtige, noch immer weiterwirkende Impulse verliehen. Mit dem »Wieland« (1949) erneuerte
er die Schriftstellerbiographie und setzte sich für die in Deutschland damals unterbewertete ironische und skeptische Schreibart
ein. Die dreibändige »Biedermeierzeit« (1971-1980) setzte schwer zu überbietende Maßstäbe für die Erfassung der Literatur
der Metternich-Ära, und die Goethebücher erweiterten das Goethebild um den theoretischen (Dissertation von 1937) und den sozialhistorischen
Aspekt (Das Genie und sein Fürst, 1993). Mit den »Vorschlägen zur Reform der literarischen Formenlehre« (2. Aufl. 1969) leistete
Sengle einen wichtigen Beitrag zur Theoriedebatte, indem er die spekulative, deutsch-idealistische Gattungspoetik kritisierte
und »auf die Füße stellte«. In drei Bänden sammelte er - keineswegs vollständig - Aufsätze und Vorträge zu den [2/ S. 287:] Schwerpunkten seiner wissenschaftlichen Arbeit (1965, 1980 und 1989).
Ende 1994 übernahm das Heinrich-Heine-Institut in Düsseldorf Sengles umfangreichen Nachlaß. Er besteht im wesentlichen aus
folgenden Abteilungen.
Werkmanuskripte und -typoskripte: Arbeitshandschriften zum »Wieland« und zur Habilitationsschrift über das deutsche Geschichtsdrama, vielschichtige Stufen
zur »Biedermeierzeit«, darunter die später völlig umgearbeitete essayistische Erstfassung des dritten Bandes über die »Dichter«,
außerdem handschriftliche und gedruckte Vorlagen zu den späteren Goethebüchern. Die Manuskripte zu Aufsätzen und Vorträgen
- viele unveröffentlicht - sind in zehn Leitzordnern zusammengefaßt. Weiterhin existieren neun Hefte mit Sengles Schulaufsätzen.
Korrespondenzen: allgemeiner Briefwechsel (29 Ordner), Herausgebertätigkeit (drei Ordner »Deutsche Vierteljahrsschrift«, zwei Ordner »Deutsche
Neudrucke«, vier Ordner »Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur«), Verlagskorrespondenz (zwei
Ordner), Deutsche Forschungsgemeinschaft (ein Ordner), Vortragsreisen (ein Ordner). Von literarischem Interesse sind Sengles
Briefwechsel mit Schriftstellern: Jorge Luis Borges, Georg Britting, Hilde Domin, Hans-Egon Holthusen, Peter Huchel, Wilhelm
Lehmann, Thomas Mann, Josef Weinheber und andere. Die Abteilung konnte inzwischen durch Zustiftungen von Korrespondenzpartnern
angereichert werden. Genannt seien Walter Müller-Seidel (München), Roger Paulin (Cambridge), Hans S. Reiss (Bristol), und
Marlies Schindler (Neuried).
Akten und Gutachten: Tätigkeiten an den verschiedenen Seminarstandorten (sieben Ordner), Sozialgeschichtliche Forschergruppe in München (vier
Ordner), Prüfungen (ein Ordner), Haupt- und Oberseminare (ein Ordner), Habilitationen (zwei Ordner), Gutachten (sieben Ordner).
Diarium: in Form von Kalendern, geführt von 1946 bis 1994. Die Dichte der Eintragungen zu den beruflichen und privaten Tagesgeschäften
nimmt mit den Jahren erheblich zu.
Vorlesungen: vierzehn Vorlesungen über den gesamten Zeitraum von Luther bis zur Moderne (nur der neuere deutsche Roman ist nicht abgedeckt),
drei davon im Typoskript. Die Goethevorlesung liegt inzwischen im Druck vor, herausgegeben von Marianne Tilch, mit einem Nachwort
des Berichterstatters: Kontinuität und Wandlung. Einführung in Goethes Leben und Werk. Heidelberg: Winter 1999. Die Edition
der Vorlesung über die moderne Lyrik von Nietzsche bis Enzensberger befindet sich in Vorbereitung. Aus Sengles Studienzeit
ent- [2/ S. 288:] hält der Nachlaß Vorlesungsmitschriften in vier Mappen und vierzehn Einzelheften.
Vorarbeiten und Materialsammlungen: zu allen Forschungs- und Lehrfeldern existieren umfangreiche Sammlungen von Exzerpten, Notizen, Sonderdrucken, Zeitungsartikeln
und anderen Materialien in Jurismappen. Besonders stark vertreten sind die Gebiete Goethe (199 Mappen) und Biedermeierzeit
(196 Mappen). Viele Sonderdrucke enthalten Sengles handschriftliche Zusammenfassungen und kritische Stellungnahmen.Rezeption
der Sengle-Werke:
Rezeption der Sengle-Werke: 19 Jurismappen mit Sammlungen der Rezensionen und wichtigen brieflichen Reaktionen. Sie werden inzwischen ebenfalls angereichert.
Sammlung von Schüler-Arbeiten: von Sengle betreute Untersuchungen auf allen akademischen Stufen, von der Staatsarbeit bis zur Habilitationsschrift.
Als bekennender Süddeutscher mit einer Schweizer Mutter hat Friedrich Sengle die Beziehungen zur österreichischen Literatur
und Literaturwissenschaft immer besonders gepflegt. Von den 15 Schriftstellern, denen im dritten Band der »Biedermeierzeit«
beinahe monographische Abschnitte gewidmet sind, stammen sechs aus dem habsburgisch-österreichischen Raum: Grillparzer, Lenau,
Nestroy, Raimund, Sealsfield (Postl) und Stifter. Unter Sengles österreichischen Korrespondenzpartnern seien genannt: Franz
H. Mautner (Emigrant), Robert Mühler, Herbert Seidler, Viktor Suchy, Eugen Thurnher, Walter Weiss, Werner Welzig und Herbert
Zeman. Neben seiner Mitgliedschaft bei den Akademien in München und Heidelberg war Sengle auch korrespondierendes Mitglied
der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.
Der Sengle-Nachlaß gehört innerhalb des Heine-Instituts zum Bereich Wissenschaft. Als Nachlaßverwalter fungiert der Berichterstatter,
eine ehrenamtliche Funktion. Subventionen wurden für die Bearbeitung bisher nicht eingesetzt. Der Nachlaß ist öffentlich zugänglich.
Manfred Windfuhr
|