Frauenliteratur der österreichischen Moderne

 

Grete Meisel-Hess (1879 - 1922)

Schriftstellerin und Sexualreformerin

Biographie


G. M.-H. wird als Tochter einer wohlhabenden jüdischen Familie am 18. April 1879 in Prag geboren. 1883 siedeln die Eltern nach Wien, wo sie eine höhere Mädchenbildung erfährt und als Gasthörerin einige Semester an der Universität Wien studiert. In dieser Zeit erwachen ihr Interesse und ihr Engagement für die Frauenfrage. 1902 erscheint ihr Roman "Fanny Roth", in dem sie ihre diesbezüglichen Gedanken in Romanform niederlegt. 1904 wendet sie sich in ihrem Buch "Weiberhaß und Weiberverachtung" gegen die frauenfeindlichen Thesen Weiningers. Von 1908 an lebt Grete Meisel-Hess in Berlin, wo sie ihre wichtigsten theoretischen Werke "Die sexuelle Krise" und "Das Wesen der Geschlechtlichkeit" (in zwei Bänden) schreibt, denen gründliche wissenschaftliche Recherchen vorausgingen. Außerdem äußert sie sich in mehreren Werken zum Thema "Ehe". Ihre eigenen (sie ist war seit 1909 in zweiter Ehe mit dem Architekten Oskar Gellert verheiratet) dürften nicht glücklich gewesen sein. G. M.-H. stirbt nach Jahren der Depression 1922 an ihrem Geburtstag.

Werke online


Eine sonderbare Hochzeitsreise : neue Novellen. - Wien : Spelinski, o.J.


In einer der Novellen mit dem Titel „Die Libelle“ trifft der sich auf Durchreise befindliche Psychiater Dr. Merluzzi auf Viviane, die Gattin des Leiters einer psychiatrischen Anstalt, und fühlt sich von ihrer ephemeren erotischen Ausstrahlung sofort angezogen. Sie reist ihm nach Basel nach und verbringt mit ihm eine ehebrecherische Liebesnacht. Im Bewusstsein ihrer Schuld – ausgelöst durch eine Libelle – verfällt sie schließlich dem Wahnsinn.
Ganz anders die Novelle „Eine sonderbare Hochzeitsreise“, die von einer Frau erzählt, die zwar eine standesgemäße Vernunftehe mit dem Seidenfabrikanten Borostiany schließt und mit auch auf Hochzeitsreise geht, aber sich ihm verweigert. Als sie ihn nächtens in der Kammer einer Wirtshaustochter überrascht, fordert sie die Scheidung. Sie setzt die Reise allein fort und erliegt schließlich in Venedig dem Liebeswerben eines Marquis. Am frühen nächsten Morgen reist sie zurück nach Wien. Der Schluss ist verblüffend und positiv zugleich: "Alles war ja in Ordnung. Sie hatte geheiratet, eine Hochzeitsreise gemacht, ließ sich nun scheiden. Und als sie nach einiger Zeit erfuhr, dass sie Mutter werden würde, war sie vollständig glücklich."

Fanny Roth : eine Jung-Frauengeschichte. - Berlin und Leipzig : Hermann Seemann Nachfolger, 1910


Fanny Roth, eine begabte und ambitionierte junge Musikerin und Komponistin, lernt nach einem Konzerterfolg den wohlsituierten Fabrikanten Josef Fellner kennen. Nach kurzer Bekanntschaft wird geheiratet. Auf den Glückstaumel folgt allerdings die Ernüchterung: Die junge Künstlerin erfährt die Hochzeitsnacht als traumatisches Erleben. Auch ihre musikalische Schaffenskraft erlahmt. Trotz der Dominanz ihres Ehemannes gelingt es ihr, im Laufe der Zeit ihre eigene Sinnlichkeit, ihr eigenes sexuelles Begehren zu entdecken und zufriedenzustellen. Damit erstarkt gleichzeitig ihr Selbstbewußtsein in der ehelichen Beziehung. Als Folge wendet sich Fanny Roth wieder ihrer musikalischen Arbeit zu. Es gelingt ihr mit diesem emanzipatorischen Akt, sich aus der Unterdrückung der ehelichen Beziehung zu lösen. Bemerkenswert an diesem Roman ist der Zusammenhang, der von der Autorin zwischen einer selbstbestimmten weiblichen Sexualität und dem weiblichen Kunstschaffen hergestellt wird.

Die Stimme : Roman in Blättern. - Hamburg [u.a.] : Enoch, 1919


Die Erzählerin Maja Hertz hält im ersten Teil des Romans Rückschau auf ihr Leben, das von der Vereinnahmung und Funktionalisierung durch Männer geprägt war. Rudi Neudorfer, der erste Ehemann, schreibt Feuilletons, verbringt seine Zeit mit "süßen Mädeln" und ist ständig in Geldnot. Der zweite Ehemann, der Dichter Dimitri, ist besessen vom "Abgrund des Subjekts" und zieht seine Frau in quälender Weise in seine Phantasmen hinein. Nach Beendigung dieser beiden Beziehungen und Verlust ihrer "Stimme" (lt. Vorwort von Grete Meisel-Hess "die innerste Seelengewalt") verlässt Maja Wien. Im zweiten Teil des Romans, der einer konkreten Handlung weitgehend entbehrt und vor allem aus Stimmungsskizzen besteht, fungiert Johannes als Geburtshelfer ihres Ichs und ihrer Kreativität, indem er sie zum Schreiben des "Romans in Blättern" anregt.

Weitere Werke


  • Suchende Seelen. Drei Novellen. - Leipzig : Seemann, 1903
    Signatur: 1709637-A.Neu
    Online bei ALO
    Das Leid:Online bei WIKISOURCE
    Die Lüge: Online bei WIKISOURCE
    Krisis: Online bei WIKISOURCE

  • Weiberhass und Weiberverachtung : eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche Geschlecht und Charakter geäußerten Anschauungen über Die Frau und ihre Frage. - Wien : Perles, 1904
    Signatur: 435.064-B.Neu
    Online bei ALO
    Online bei WIKISOURCE

  • Die sexuelle Krise : eine sozialpsychologische Untersuchung. - Jena : Diederichs, 1909
    Signatur: 1680817-B.Neu
    Online bei ALO

  • Die Intellektuellen : Roman. - Berlin : Oesterheld & Co, 1911
    Signatur: 1704295-B.Neu

  • Betrachtungen zur Frauenfrage. - Berlin : Prometheus Verlagsges., 1914
    Signatur: 780121-B.Neu
    Online bei ALO

  • Krieg und Ehe. - Berlin : Oesterheld, um 1916). - Aus: Kriegshefte des Bundes für Mutterschutz
    Signatur: 742.309-B
    Online bei ALO

  • Das Wesen der Geschlechtlichkeit : die sexuelle Krise in ihren Beziehungen zur sozialen Frage, zum Krieg (etc.) - Jena : Diederichs, 1916, Bd.1.2.
    Signatur: 520117-B.Neu
    Online bei ALO

  • Die Bedeutung der Monogamie. - Jena : Diederichs, 1917
    Signatur: 525273-B.Neu
    Online bei ALO

  • Die Ehe als Erlebnis. - Halle (Saale) : Diekmann, 1919. - (Diekmanns Denkwürdigkeiten- und Erinnerungen-Bücherei ; 2)
    Signatur: 1738810-B.2
    Online bei ALO

Weiterführende Literatur


  • Budke, Petra: Schriftstellerinnen in Berlin 1871 - 1945 : ein Lexikon zu Leben und Werk. - Berlin, 1995
    Signatur: 1440243-C.Neu-Kat
  • Jusek, Karin J.: Entmystifizierung des Körpers? : Feministinnen im sexuellen Diskurs der Moderne. - In: Die Frauen der Wiener Moderne / Hrsg.: Fischer, Lisa. 1997 ; S. 110 - 123
    Signatur: 1488280-B.Neu
  • Dehning, Sonja: "Tausend Möglichkeiten der (...) Seele" : künstlerisches Schaffen und erotische Sehnsucht in Grete Meisel-Hess' "Fanny Roth" (1902). - In: Dehning, Sonja: Tanz der Feder : künstlerische Produktivität in Romanen von Autorinnen um 1900. 2000 ; S. 101 - 106
    Signatur: 1626326-B.Neu
  • Morrien, Rita: Können Frauen sublimieren? : zur Verflechtung von sexueller und künstlerischer Entfaltung in Clara Viebigs "Es lebe die Kunst!" und Grete Meisel-Hess' "Fanny Roth. Eine Jung-Frauengeschichte". - In: Frauen - Körper - Kunst / Tebben, Karin (Hrsg.). - Göttingen : Vandenhoeck & Ruprecht, 2000; S. 136 – 154
    Signatur: 1640647-B.Neu
  • Omran, Susanne: Weib und Geist um 1900 : Intellekt, Rasse und Instinkt in den Schriften von Grete Meisel-Hess. - In: Die Philosophin : Forum für feministische Theorie und Philosophie 10 (1999) 19 : Intellektualität und Weiblichkeit, S. 11 - 35
    Signatur: 1383024-B.Per
  • Roebling, Irmgard: Grete Meisel-Hess : Sexualreform zwischen Nietzschekult, Freudrezeption und Rassenhygiene. - In: Literarische Entwürfe weiblicher Sexualität / Hrsg.: Cremerius, Johannes. 1993 ; S. 205 - 230
    Signatur: 1295000-B.Per.12
  • Spreitzer, Brigitte: "Eine 'Stimme' habe ich gehört, die mir zu opfern befahl." : Selbstschöpfung zwischen De- und Remythisierung bei Grete Meisel-Hess. - In: Texturen : die österreichische Moderne der Frauen / Spreitzer, Brigitte. 1999 ; S. 78 - 84
    Signatur: 1477776-B.Neu-Per.8
  • Thorsen, Helga: Confronting anti-semitism and antifeminism in turn of the century Vienna : Grete Meisel-Hess and the modernist discourses on hysteria. - In: Jüdische Identitäten : Einblicke in die Bewußtseinslandschaft des österreichischen Judentums / Hrsg.: Hödl, Klaus. 2000 ; S.71 - 94
    Signatur: 1623774-B.Neu-Per.1