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Abgeschlossene Projekte
Österreichisches Literaturarchiv
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Ödön von Horváth: Grundlagen einer kritisch-genetischen Ausgabe
Projektleitung: Dr. Klaus Kastberger (ÖLA)
Telefon: (+43 1) 534 10 / 349
Fax: (+43 1) 534 10 / 340
E-Mail: klaus.kastberger@onb.ac.at
Projektmitarbeit: Mag. Erwin Gartner
Finanzierung: Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF)
Laufzeit: 1. Februar 2003 bis 31. Jänner 2006
Kurzbeschreibung
Der Nachlaßbestand Ödön von Horváths am Österreichischen Literaturarchiv umfaßt mehr als 5000 Blatt, wobei es sich zu über 95 Prozent um Werkmaterialien zu schriftstellerischen Arbeiten, also um Konzepte, Skizzen, Textstufen und Fassungen zu Stücken und Prosaarbeiten und - insbesondere aus dem Zeitraum ab Mitte der 1930er Jahre - um nicht weiter ausgeführte Entwürfe handelt. Umfangreiche Materialkonvolute unter Einschluß vieler Fassungen und Teilfragmente liegen zu "Glaube Liebe Hoffnung", "Kasimir und Karoline", "Geschichten aus dem Wiener Wald" und "Pompeji" vor, textgenetisches Material blieb aber zu fast allen Stücken des Autors erhalten. Was die Prosa betrifft, sind im Nachlaß umfangreiche Konvolute zu "Der ewige Spießer" und "Ein Kind unserer Zeit" vorhanden, wobei bei letzterem eine eigentliche Druckvorlage fehlt, was auch bei einigen Stücken Horváths der Fall ist. Im Nachlaßbestand findet sich weiters eine Gruppe mit kleiner Prosa, darunter ein Konvolut zu den "Sportmärchen", eine Gruppe mit theoretischen und autobio-graphischen Texten, einige wenige Gedichte sowie eine Gruppe mit Arbeiten für den Film und Rundfunk.
Der größte Teil des Nachlaßbestandes, der lange Zeit an der Akademie der Künste in Berlin untergebracht und 1989 mit finanzieller Unterstützung der Wiener Stadt- und Landesbibliothek an die Österreichische Nationalbibliothek transferiert worden war, wurde in der einen oder anderen und oftmals auch in zwei- oder mehrfacher und dann wieder voneinander abweichender Form von Traugott Krischke ediert. Grundlegend ist die vierbändige Werkausgabe, die Krischke gemeinsam mit Dieter Hildebrandt (und bei den ersten drei Bänden noch unter Beteiligung von Walter Huder) 1970/71 herausgegeben hat. Bei dieser Ausgabe, die wie alle weiteren Horváth-Editionen im Suhrkamp-Verlag erschien, handelte es sich um ein sehr ehrgeiziges Projekt. Nicht nur die Letztfassungen der Texte wurden präsentiert, sondern auch ein umfangreicher Bestand an "Fragmenten, Varianten und Exposés", der den vierten Band der Ausgabe fast vollständig füllte. Ergänzend zu den "Gesammelten Werken" erschienen unter Krischkes Herausgeberschaft nach 1971 die meistverkauften Werke Horváths als Taschenbuch, daneben legte der Verlag in der "Bibliothek Suhrkamp" um singuläre Vorarbeiten und Fassungsvarianten erweiterte Ausgaben (beispielsweise von "Kasimir und Karoline", "Glaube Liebe Hoffnung" und "Geschichten aus dem Wiener Wald") sowie den Roman "Sechsunddreißig Stunden" vor, bei dem es sich um eine Vorstufe zu "Der ewige Spießer" handelt, die Horváth ursprünglich beim Propyläen-Verlag eingereicht hatte und auf deren Abdruck die Herausgeber der "Gesammelten Werken" verzichteten.
1975 erschien unter dem Titel "Die stille Revolution" ein Sammelband mit kleiner Prosa; zwei Jahre später kam unter der mißverständlichen Bezeichnung "Ein Lesebuch" ein Band mit vermischten Texten heraus, der neben Kurzprosa (für die als Sammeltitel abermals "Die stille Revolution" gewählt wurde), Fragmenten ("Neue Wellen" u.a.) und dem nochmaligen Abdruck des Romanes "Sechsunddreißig Stunden" vor allem eine bis dato nicht publizierte Fassung der "Geschichten aus dem Wiener Wald" enthielt, die als "Volksstück in sieben Bildern" bis heute allen gängigen Ausgaben beigeschlossen ist.
In der Neuausgabe der "Gesammelten Werke", die 1978 in acht Bänden erschien und in welcher nunmehr Walter Huder als Herausgeber fehlte, haben Krischke und Hildebrandt fehlende Quellenangaben teilweise nachgereicht. In der ab 1983 von Traugott Krischke unter Mitwirkung von Susanne Foral-Krischke herausgegebenen "Kommentierten Werkausgabe in Einzelbänden" wurden erneut Versuche zu einem besseren Ausweis der Kriterien und einer höheren Überprüfbarkeit der Editionen gemacht. Die "Kommentierte Werkausgabe" war ursprünglich auf 15 Bände projektiert, den editorisch schwierigsten, letzten Band mit "Skizzen und Fragmenten" legten die Herausgeber jedoch nicht mehr vor. Am grund-legenden Problem von Krischkes Editionen haben die Nachbesserungen, die nicht zuletzt auf Druck der Horváth-Forschung erfolgten, nichts geändert: Die Herausgeber verfügten nicht über die editionstechnischen Möglichkeiten und die philologische Sorgfalt, um ihre Ziele umzusetzen. Krischkes Ausgaben wollten ja stets mehr als nur einfache Leseausgaben sein. So wurde oft mit völlig inadäquaten Mitteln versucht, neben den Letztfassungen auch das genetische Material des hochkomplexen Horváthschen Arbeitsprozesses zu präsentieren. Das Versäumnis Traugott Krischkes besteht also gar nicht so sehr darin, von Horváth zu wenig, sondern - beinahe schon im Gegenteil - zu viel und vor allem: ohne klar ausgewiesene Kriterien ediert zu haben. Unzulänglichkeiten im Detail lassen sich überall dort feststellen, wo frühe und mittlere Fassungen, aber auch Notizen, Baupläne und Konzepte transkribiert wurden. In Typoskripten mit handschriftlich nachgetragenen Korrekturschichten, wie sie bei Horváth häufig sind, wurde von Krischke meist offen gelassen, welche Fassung der Edition zugrundeliegt. In den für Horváth typischen Konzeptblättern, in denen graphische Elemente und die Verteilung des Textes auf der Blattfläche eine wichtige Rolle spielen, wurde in den Editionen die topographische Anordnung nur mangelhaft ausgewiesen, bzw. wurden manche Teile in den Umschriften einfach weggelassen. Ungeklärt sind in vielen Fällen die werk-genetischen Zusammenhänge der edierten Textstufen und Fragmente geblieben. Krischkes Ausgaben haben hier ganz wesentlich von der Berliner Nachlaßordnung profitiert, ohne dies zu erwähnen. Indem sie die werkgenetischen Informationen übernahmen, auf denen die Berliner Nachlaßordnung basiert, blieben sie aber auch den dortigen Unsicherheiten und Irrtümern verhaftet.
Anhand der konkreten Materialien aus Ödön von Horváths Nachlaß werden nicht nur die Unzulänglichkeiten der bestehenden Ausgaben, sondern auch die vorhandenen editorischen Möglichkeiten deutlich. Ein Neuedition der Werke muß sich an den einzelnen Etappen des Horváthschen Produktionsprozesses orientieren. Einzelne Textstufen müssen sauber isoliert, einer präzisen Transkription unterzogen und anhand ausgewiesener Kriterien in eine genetische Reihenfolge gebracht werden. Daß Ödön von Horváth von der Art seines Schreibens ein immens moderner Autor gewesen ist - ein Monteur, der an seinem Text-material herumgeschnitten und es immer wieder neu zusammengeklebt und vielfach überarbeitet hat - ist in der Horváth-Forschung seit langem bekannt. Angesichts der komplexen Textur der Horváthschen Werke ist es wahrscheinlich, daß die literaturwissenschaftliche Forschung in diesem Fall auch weiterhin textnahe arbeiten wird. Hierfür ist eine verläßliche Textbasis nötig, die den Entstehungsprozeß der Horváthschen Werke in einer philologisch überprüfbaren Art ausweist und innerhalb des Gesamtwerkes auch dort für Sicherheit sorgt, wo man derzeit weitgehend auf Spekulationen angewiesen bzw. auf in der Forschung tradierte Fehleinschätzungen zurückgeworfen ist, wie beispielsweise in der werkgeschichtlichen Zuordnung vieler Horváthscher Entwürfe gerade auch aus der Spätphase seines Schaffens.
Erste Schritte in Richtung einer kritisch-genetischen Ausgabe, die eine Basis für eine Neuinterpretation des Horváthschen Werkes sowohl in der Literaturwissenschaft als auch auf der Theaterbühne schafft, wurden am Österreichischen Literaturarchiv in den vergangenen Jahren unternommen. Anhand des umfangreichen genetischen Konvoluts zu den "Geschichten aus dem Wiener Wald" konnte der komplexe Arbeitsprozeß des Autors anschaulich gemacht und ein konkret umsetzbares Editionsmodell entwickelt werden. In einem Supplementband zur Kommentierten Werkausgabe ("Himmelwärts und andere Prosa aus dem Nachlaß", Suhrkamp 2001) wurden auf der Grundlage der originalen Typoskripte Prosafragmente ediert, die im Buchhandel jahrzehntelang nicht greifbar waren. Bei manchen dieser Texte handelte es sich um Erstveröffentlichungen, die in den bisherigen Ausgaben vergessen oder übersehen wurden. Darüber hinaus finden sich in dem Band erstmals alle Arbeiten Horváths für Radio und Film.
Seit Anfang 2003 läuft nunmehr am Österreichischen Literaturarchiv ein vom Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung unterstütztes Projekt, in dem die Grundlagen einer kritisch-genetischen Ausgabe geschaffen und die ersten Bände vorbereitet werden. Besonders wichtig erscheint dabei auch weiterhin die an Einzelbeispielen unternommene Verknüpfung der editorischen Arbeit mit Fragestellungen der Interpretation. Textgenetische Einzelstudien auf der Basis des Nachlaßbestandes, die im Rahmen eines Symposiums zum 100. Geburtstages des Autors angeregt wurden (vgl. dazu Profile Band 8, s.u.), scheinen nach wie vor gefordert: Sie vermögen die Horváth-Forschung nicht nur sinnvoll zu ergänzen und lebendig zu erweitern, sondern in manchen Fällen auch ganz klare Fehlurteile zu korrigieren.
Weiterführende Literatur:
Klaus Kastberger: Revisionen im Wiener Wald. Horváths Stück aus werkgenetischer Sicht. In: Klaus Kastberger (Hg.): Ödön von Horváth. Dumme Unendlichkeit, unendliche Dummheit. Wien: Zsolnay 2001 (= Profile Band 8), S. 108-130.
Klaus Kastberger: Ödön von Horváth. Voraussetzungen einer kritisch-genetischen Ausgabe. In: editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft. Hg. von Bodo Plachta und Winfried Woesler, Nummer 15. Tübingen: Niemeyer 2001, S. 168-176.
Erwin Gartner / Klaus Kastberger: Das ganze Fräulein - ein Stück. Von den Geschichten vom Mädchenhandel zu den Geschichten aus dem Wiener Wald. In: Bernhard Fetz, Klaus Kastberger (Hg.): Die Teile und das Ganze. Bausteine der literarischen Moderne in Österreich. Wien: Zsolnay 2003 (= Profile Band 10), S. 216-222.
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